Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

5. Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld während der Ruhr-Besetzung 1923
Der „Ruhreinbruch“ im Januar 1923 und die Anfänge des organisierten Widerstandes

Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld wurden sofort am ersten Tag des „Ruhreinbruchs“, am 11. Januar 1923, von französischen Truppen besetzt. Im Mai waren 40 Offiziere, 1.200 Unteroffiziere und Mannschaften, 150 Pferde und Maulesel sowie 100 zivile Beamte und 120 Familienangehörige in Oberhausen stationiert. Damit war dann allerdings der Höhepunkt erreicht. Im September 1924, nach Inkrafttreten des Dawes-Planes, begann der Abzug; der letzte Soldat verließ am 15. August 1925 das Stadtgebiet.213

Am Tag nach dem Truppeneinmarsch wurde die feierliche Ansprache von Oberbürgermeister Havenstein und die Protestresolution der Stadtverordneten in der Lokalpresse im Wortlaut veröffentlicht. Der Einzelhandelsverband gab die Schließung aller Geschäfte für diesen Freitagvormittag bekannt. Der folgende Sonntag sollte in Oberhausen, wie in ganz Deutschland, als „nationaler Trauertag“ begangen werden. Alle öffentlichen Veranstaltungen wurden für diesen Tag abgesagt.214 Aber die einheitliche Abwehrfront existierte von Anfang an nur im Wunschdenken der Nationalisten. SPD und freie Gewerkschaften riefen an diesem Sonntag zu eigenen Kundgebungen auf; die SPD sah in der „nationalen Einheitsfront“ nur eine „leere Phrase“; die Parteiführung in Berlin riet ihren Gliederungen, auf den Kundgebungen auch weiterhin am Ziel der Völkerverständigung festzuhalten.

Die freien Gewerkschaften kündigten einen Proteststreik gegen die Besatzung für den Tag nach dem „nationalen Trauertag“ an. Am Montag (15. Januar) sollte um elf Uhr für eine halbe Stunde das gesamte öffentliche Leben ruhen. „Die Straßen sollen vollständig frei sein.“215 Die Besatzungsmacht reagierte hart auf diese Ankündigung. Die Kundgebungen wurden vom kommandierenden General sofort verboten, und das Verbot zeigte Wirkung: Zwar schlossen in Oberhausen viele Geschäfte und Gaststätten, in den Betrieben ruhte die Arbeit, aber die Straßen waren keineswegs leer, nirgendwo war halbmast geflaggt, und auch die Kirchenglocken blieben stumm.216 In Osterfeld läuteten zwar die Glocken, um zum halbstündigen Proteststreik um elf Uhr aufzurufen, aber die „am Rathaus auf Halbmast gehissten Fahnen mussten auf Befehl der Besatzung wieder eingezogen werden“.217

Die Konzernleitung der GHH entzog sich dem Zugriff der Besatzungsbehörden, so gut es ging, indem sie den Firmensitz nach Nürnberg verlegte und gleichzeitig direkt an der Grenze des besetzten Gebietes in Wesel ein Verwaltungsbüro einrichtete. Paul Reusch schlug sein Hauptquartier in den Konzernbüros in Nürnberg auf, seine private Unterkunft war dort das Hotel „Fürstenhof“. Meistens aber war er unterwegs, in einem großen Bogen um das besetzte Ruhrgebiet herum. Nur in ein paar konspirativen Stippvisiten Mitte Januar, Mitte Februar und Anfang März wagte er sich nach Oberhausen. Zum Teil benutzte er bei diesen Besuchen Privatwagen mit holländischen Kennzeichen.218 Die unmittelbare Auseinandersetzung mit den Franzosen und Belgiern vor Ort blieb den nachgeordneten Betriebsleitern überlassen. S. musste Direktor Kellermann die GHH bei einem Empfang der französischen Kontrollkommission in Düsseldorf vertreten, wo er standhaft jede Kooperation mit den Besatzungsbehörden ablehnte. Er würde sich „des Landesverrats schuldig“ machen, wenn er deren Befehle ausführte.219 Am 21. Mai wurde Kellermann verhaftet, weil er sich geweigert hatte, einem Kohlelieferungsbefehl Folge zu leisten. Er blieb bis zum Dezember 1923 in Haft. Auch zwei andere GHH-Direktoren wurden wegen nichtiger Vorfälle zu Haftstrafen verurteilt.220


Abb. 14: Einmarsch belgischer Besatzungstruppen in Sterkrade

Die Betriebsräte der Ruhrgebietszechen trafen sich Ende Januar 1923 in Hamm und lehnten einen Generalstreik einstimmig ab. Die Bergarbeiter würden ihre „Abwehrstellung“ gegen die Besetzung des Ruhrgebietes „im gleichen Maße beibehalten“, sprachen sich aber „gegen jeden Nationalismus“ aus und gelobten „Treue zur deutschen Republik“.221 Diese Formulierungen unterschieden sich deutlich von dem nationalistischen Pathos der in diesen Tagen üblichen Ansprachen und Entschließungen. Wenig später, als die Repressalien der Besatzungsbehörden empfindlicher spürbar wurden, verschärfte sich aber auch bei den Bergarbeiterverbänden der anti-französische Ton. In einer gemeinsamen Entschließung riefen sie „Volksgenossen“ und „Arbeitsbrüder“ zu entschiedenem Widerstand gegen den „französischen Imperialismus“ und zur Wachsamkeit gegen Spitzel auf.222 Je mehr jedoch die Belastungen, die der passive Widerstand vor allem den Arbeitern aufbürdete, vom Frühsommer an zunahmen – wegen des Wertverlustes ihrer Löhne und wegen der Betriebsstillegungen –, desto mehr distanzierten sich die Gewerkschaften vom Mythos der „nationalen Einheitsfront“ und verlangten Verhandlungen mit dem Ziel der Beendigung des passiven Widerstands.223 Doch dies greift der Entwicklung vor. Zunächst gilt es die dramatischen Ereignisse vor Ort zu schildern.

Die Verhaftung von Oberbürgermeister Havenstein

Oberhausens Personenbahnhof wurde am 23. Januar zunächst von Belgiern, später von Franzosen besetzt. Am Tag der Besetzung wurden einige Eisenbahner mehrere Stunden festgehalten. Die Eisenbahnbeamten traten darauf sofort in Streik. Reisende, die nicht weiterkamen, protestierten verärgert. Auf dem Bahnhofsvorplatz bildete sich ein großer Menschenauflauf. Belgische Soldaten, die die Stellwerke besetzten, wurden mit Steinen beworfen. Am Abend zogen spontane Demonstrationen mit schwarz-weiß-roten Fahnen durch die Stadt. Um blutige Zusammenstöße zu vermeiden, bat der belgische Kommandeur die Verantwortlichen im Bahnhof, mäßigend auf die Menschenmengen einzuwirken. Oberbürgermeister Havenstein und Polizeipräsident Weyer veröffentlichten sofort Aufrufe, „Ruhe und Ordnung“ zu bewahren, protestierten aber gleichzeitig beim belgischen Kommandeur gegen die Besetzung des Bahnhofs.224

An der Situation auf dem Oberhausener Bahnhof entzündete sich dann der spektakuläre Konflikt mit Oberbürgermeister Havenstein. Da der gesamte Zugverkehr stillgelegt war, schaltete das städtische Elektrizitätswerk in Absprache mit der Reichsbahndirektion Essen am 7. Februar dem Bahnhof den Strom ab. Der französische Ortskommandant drohte als Antwort damit, der ganzen Stadt Strom und Gas zu sperren. Havenstein warnte den französischen Major eindringlich vor den Folgen und weigerte sich gleichzeitig, das E-Werk anzuweisen, dem Bahnhof wieder Strom zu liefern. Darauf wurde er im Rathaus aus einer Sitzung heraus verhaftet, was einen Sturm der Entrüstung auslöste, wobei die Form dieser Verhaftung – dem Stadtoberhaupt wurden für kurze Zeit Handschellen angelegt – die Menschen besonders erregte. Am 16. Februar verurteilte ein französisches Kriegsgericht Havenstein wegen Sabotage zu drei Jahren Gefängnis. Das Protokoll der Gerichtsverhandlung wurde in der Oberhausener Presse in voller Länge wörtlich veröffentlicht.225

Reichspräsident Ebert, Reichskanzler Cuno und Innenminister Severing schickten Grußadressen nach Oberhausen, um ihre Solidarität mit dem Oberbürgermeister zu bekunden. Auf das Telegramm Eberts antwortete die Stadtverwaltung in Versform:

„Herr Reichspräsident!

Wie immer auch die Nöte fallen

Auf unsere Stadt hernieder,

Wenn Strafprozesse auch verhallen

Ungehört im Weltbrandfieber,

S. kann uns doch den festen Glauben

An unbeugsamen Widerstand

Nicht das brutalste Urteil rauben;

Wir bleiben deutsch, hoch deutsches Land!

Verwaltung und Bürgerschaft der Stadt Oberhausen (Rhld.)“226

Vielleicht durch dieses Telegramm inspiriert, kleideten auch die Schüler des staatlichen Realgymnasiums ihre Solidaritätsadresse an den Oberbürgermeister in Versform:

„Du bist Eisen, Not in Flamme,

und das Schicksal ist der Schmied.

Dass ein Tag des Sieges werde,

Glühe hart in dieser Qual –

Erz aus Deutschlands edler Erde

Deutsche Jugend werde Stahl!“

Die Oberstufenschüler versicherten dem Oberbürgermeister, dass ihnen „keine Macht der Erde die heiße Liebe zum Vaterlande rauben“ könne. Und sie hofften, „dass einmal der Tag kommen wird, der Deutschland wieder frei sieht, ledig der schweren Sklavenketten.“227

Havenstein kam ins Gefängnis in Düsseldorf, später nach Germersheim und Zweibrücken, wegen seines Gesundheitszustandes nach einiger Zeit aber ins Kloster Mariahilf in Neuenahr. „Hier konnte er sich in verhältnismäßig großer Freiheit bewegen, musste sich jedoch in bestimmten Zwischenräumen bei den französischen Stellen melden.“228 Am 28. Dezember 1923 wurde ihm der Rest der Strafe erlassen, er wurde aber ab dem 27. Januar 1924 aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen. Auf entsprechende Eingaben der Stadtverwaltung hin, erlaubte ihm der französische General Degoutte am 14. Mai 1924 die Rückkehr nach Oberhausen. Am 13. Juni 1924 konnte er seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen.229

 

Sein Stellvertreter, Bürgermeister Dr. Brinkmann, kam nicht so glimpflich davon. Am 26. Februar 1923 in seinem Amtszimmer verhaftet, da auch er sich weigerte, das Licht auf dem Bahnhof wieder anzuschalten, wurde er zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die er bis zum 27. August 1923 in Zweibrücken verbüßte. Er kam erst am 6. Dezember 1923 wieder nach Oberhausen zurück.230 Im Februar 1923 wurde auch der Osterfelder Oberbürgermeister Kellinghaus vor ein belgisches Kriegsgericht zitiert, ohne dass man ihm die Beschuldigung mitgeteilt hätte.231 Er wurde nach Dorsten „entführt […] und dort in das unbesetzte Gebiet ausgesetzt“.232 Die Osterfelder Stadtverordneten und alle Vereine protestierten:

„Wir erkennen ein fremdes Gericht nicht als zuständig zur Aburteilung von deutschen Männern an. […] Wir stellen uns geschlossen hinter unseren Oberbürgermeister und erklären öffentlich und feierlich, dass er als deutsches Stadtoberhaupt nur seine Pflicht getan hat. […] Als treue Westfalen und gute Deutsche fühlen wir uns nur der deutschen Regierung untertan und werden nach wie vor die Befehle einer fremden Macht nicht anerkennen.“233

Neben den spektakulären Fällen gab es in Oberhausen 81 weitere Verhaftungen, die in 27 Fällen zu Verurteilungen vor dem französischen Kriegsgericht führten, mit Freiheitsstrafen von insgesamt 22 Jahren und fünf Monaten Gefängnis.234 Rektor Conrads von der Landwehrschule indessen kam ungeschoren davon. Er musste sich vor dem Kriegsgericht verantworten, weil er ein Spottgedicht auf Poincaré „komponiert“ habe – die Öffentlichkeit ergötzte sich immer wieder über die Übersetzungsfehler der Franzosen –, was er aber bestritt. „Überhaupt liege ihm die Politik gar nicht. Seine Welt sei sein Haus, seine Schule und sein Garten.“ Und keinesfalls habe die Politik in der Schule etwas zu suchen. Der wackere Rektor wurde freigesprochen.235 Spottverse über die Franzosen und ihren Ministerpräsidenten Poincaré waren aber natürlich weit verbreitet, so hieß es in Osterfeld: „Poincaré hat die Ruhr, er kann Essen nicht vertragen.“236

Besetzung der Bahnanlagen

Die Stilllegung des Knotenpunkts Oberhausen zog sofort benachbarte Bahnhöfe in Mitleidenschaft. Auch dort legten die Eisenbahner die Arbeit nieder. In Osterfeld traten die Eisenbahner am 23. Januar, dem Tag der Besetzung des Oberhausener Hauptbahnhofs, in Streik; nur in Osterfeld-Nord wurde ein Pendelverkehr nach Rheine aufrechterhalten. Dort entwickelte sich ein äußerst reger Hamsterer-Verkehr ins unbesetzte Münsterland. Ende Januar besetzten französische und belgische Soldaten den Bahnhof Osterfeld-Süd, der zu diesem Zeitpunkt überfüllt war mit Wagons mit teilweise wertvollen Ladungen. Am 28. Januar verbot der Ortskommandant allen Deutschen den Aufenthalt im gesamten Gelände dieses riesigen Sammelbahnhofs. Bald setzten Plünderungen ein, an denen sich wahrscheinlich auch einige Besatzungssoldaten beteiligten. Ende März bot sich einem Beobachter ein Bild der Verwüstung; traurig beschrieb ein Osterfelder Lehrer die trostlose Situation auf dem blockierten Bahnhof.237

Erleichtert wurden die Plünderungen sicher dadurch, dass das gesamte Gelände nachts nicht beleuchtet war; die Stromversorgung war seit dem Tag der Besetzung gesperrt. Die Osterfelder Stadtverwaltung erklärte sich für unzuständig und verwies die Besatzer an die RWE in Wesel, was bekanntlich außerhalb des Besatzungsgebiets lag. Als Repressalie ließ darauf ein französischer Offizier den zentralen Transformator an der Hauptstraße gegenüber der Pankratiuskirche unbrauchbar machen: „Wenn wir kein Licht auf dem Bahnhof haben, soll die Stadt auch dunkel sein.“238 Ein deutscher Elektriker konnte den Schaden aber eine halbe Stunde später beheben, so dass Osterfeld wieder Strom hatte und der besetzte Bahnhof weiter im Dunkeln lag. Aber die französischen Besatzer gaben noch nicht auf. Neun Tage später, am 25. Februar, unternahm ein französischer Offizier erneut den Versuch, durch Manipulationen an dem Transformatorenkasten Strom für den Bahnhof zu bekommen. Er kam durch einen elektrischen Schlag ums Leben.239 Fast schadenfroh stellte der Osterfelder Chronist fest, dass es „den Franzosen […] gar nicht so recht gut gehen“ wolle in Osterfeld. Bei einem schweren Zugunglück auf der militarisierten Strecke Oberhausen-Osterfeld seien mehrere Franzosen ums Leben gekommen.240

Nach einigen Wochen wurde der passive Widerstand von der Eisenbahndirektion Essen und den Gewerkschaften gemeinsam organisiert. Den aus ihren Wohnungen ausgewiesenen Eisenbahnern wurde von den deutschen Behörden volle Entschädigung versprochen. „Der deutsche Eisenbahner steht jetzt in der Front. Tut eure Pflicht als Deutsche!“ Die deutsche Bevölkerung wurde gewarnt, französische Züge zu benutzen. Wer mit den Franzosen fahre, tue dies auf eigene Gefahr – dies konnte nur als Sabotageandrohung verstanden werden! „Wer trotzdem diese französischen Züge benutzt, wird festgestellt und sein Name an den Pranger gestellt werden.“241

Wie überall im Ruhrgebiet versuchte die Besatzungsmacht, diesen Widerstand dadurch zu brechen, dass sie die streikenden Eisenbahner mit ihren Familienangehörigen ins unbesetzte Gebiet auswies. 4.000 Eisenbahner waren im Ruhrgebiet insgesamt davon betroffen, 5.000 mussten ihre Wohnungen verlassen.242 In Oberhausen wurden die ausgewiesenen Eisenbahner öffentlichkeitswirksam verabschiedet:

„Eine große Menschenmenge hatte sich eingefunden. […] Der Direktor des Lyzeums war mit mehreren Lehrkräften persönlich erschienen. Um 7.30 Uhr setzte sich der aus sieben besetzten Wagen bestehende Zug in Bewegung; […] Der erste Wagen trug die Fahne des Roten Kreuzes, alle übrigen waren mit frischem Grün geschmückt.“243

Das Empörungsritual des feierlichen Auszugs aus der Stadt verfehlte sicher seine Wirkung auf die national gesinnten Kreise der Stadtbevölkerung nicht. Die ausgewiesenen Eisenbahner konnten erst ab November 1924 wieder nach Oberhausen zurückkehren.

Schon vorher, im März, mussten große Teile der Polizei die Stadt verlassen; in Oberhausen allein waren mit Angehörigen 414 Personen von der Ausweisung betroffen. Die in den Baracken im Kaisergarten kasernierte Schutzpolizei wurde im März mit allen ihren Fahrzeugen und elf Pferden (eines ertrank beim Durchschwimmen der Lippe) ins unbesetzte Gebiet abgeschoben. Ihre Familien, zunächst auch ausgewiesen, durften auf Befehl des französischen Generals in Oberhausen bleiben. Die gesamte Polizei musste ihre Waffen abgeben; nur fünf Kriminalbeamte, von insgesamt 30, durften ihre Pistolen behalten. Im Sommer 1923 legte der in Essen residierende französische Kommandant die Zahl der Polizeibeamten für Oberhausen auf 150 fest, später wurde die Zahl wegen der Unruhen auf 230 erhöht.244

Während große Teile des Eisenbahnnetzes, sei es durch den Streik der deutschen Eisenbahner, sei es durch die Besatzungsmacht selbst, stillgelegt waren, bemühten sich die Franzosen gleichzeitig fieberhaft, zumindest zwei Ost-West-Verbindungen für den Abtransport der Kohle zu militarisieren. Die Nordstrecke lief mitten durch Oberhausen: Von Lünen über Recklinghausen, Buer, Gladbeck, Bottrop, Osterfeld-Süd, Oberhausen-West nach Ruhrort.245

Die französische „Regie“ tat sich jedoch weiterhin schwer damit, die großen Bahnhöfe mit eigenen Leuten zu betreiben. Da sie die Stellwerke teilweise nicht bedienen konnten, mussten auf den Lokomotiven Soldaten mit Brechstangen mitfahren, um notfalls Weichen zu stellen.246 Als sich der Konflikt im Laufe des Frühjahrs verschärfte, legten die Besatzer viele Eisenbahnstrecken, die sie für den Abtransport der Kohle nicht zu benötigen glaubten, still; teilweise wurden die Schienen aufgerissen. Dies geschah z. B. auf den drei Kanalbrücken, die die Zechen Osterfeld und Vondern mit den Werken der GHH südlich des Kanals verbanden. Da auch ein großer Teil der Lokomotiven wegen unsachgemäßer Bedienung unbrauchbar war, gab es Ende April kaum noch Eisenbahnverkehr im Ruhrgebiet.247

Dazu hatten auch Sabotage- und Terroranschläge deutscher Widerstandsgruppen beigetragen. Schon in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar wurde der Rhein-Herne-Kanal durch Versenkung eines Kahns in der Nähe des Bottroper Hafens für den Kohle-Transport unbenutzbar gemacht. Danach wurde es allen Deutschen unter Androhung drakonischer Strafen verboten, sich dem Kanal auch nur zu nähern. Nachdem die Franzosen den versenkten Kahn weggeräumt hatten, gelang Anfang April ein Anschlag, der den Wasserweg auf lange Sicht unterbrach: Bei Henrichenburg wurde ein Seitenkanal genau an der Stelle, wo er über die Emscher führt, von einem Kommando unter Führung „eines mutigen Steigers“ gesprengt. Große Teile des Kanalsystems wurden dadurch trockengelegt.248

Die Gewerkschaften wollten mit dieser Form des Abwehrkampfes nichts zu tun haben. Der Bundesausschuss des ADGB verurteilte die „Sabotageakte überspannter nationalistischer Kreise“ in scharfer Form.249 Auf Unternehmerseite dagegen wurden die Sabotageanschläge unterstützt. Bei einer Besprechung von „führenden Persönlichkeiten des Ruhrbergbaues“ – unter ihnen GHH-Chef Paul Reusch – mit Reichskanzler Cuno und anderen Mitgliedern der Reichsregierung am 30. Mai 1923 wurde energisch der Schutz der Regierung für die Sabotagekommandos eingefordert:

„Man bat seitens der Zechenkreise mit Nachdruck um einen größeren Schutz für die tapferen Leute, die sich an den Sabotageakten beteiligten, unter Aufzählung verschiedener Fälle, in denen Gemeindeverwaltungen Kopfgelder für ‚Mörder‘ und ‚Saboteure‘ ausgesetzt hätten. Die Leute seien zum Teil von deutschen Gendarmen im Zusammenwirken mit französischen Soldaten verhaftet worden.“250

Am 2. März wurde in Osterfeld auf die Eisenbahnstrecke nach Oberhausen ein Sprengstoffanschlag verübt, der aber kaum Schaden anrichtete.251 Am 12. Mai dann, fast genau um Mitternacht, zerstörte eine gewaltige Explosion die Eisenbahnbrücke über den Rhein-Herne-Kanal; damit war die für den Kohlentransport wichtige Strecke von Osterfeld nach Oberhausen-West unterbrochen. Der Sprengstoffanschlag brachte den Betrieb auf dem von unbrauchbaren Lokomotiven und Wagons blockierten und von Diebesbanden ausgeplünderten Osterfelder Bahnhof völlig zum Erliegen.252 Einen Tag später erschütterte eine auch in Teilen Oberhausens spürbare Explosion das Ruhrstauwerk in Meiderich, ohne aber viel Schaden anzurichten. Die belgische Besatzungsmacht konnte die für den Osterfelder Anschlag verantwortlichen Täter natürlich nicht ausfindig machen, deshalb reagierte sie mit einer Reihe sinnloser Repressalien gegen die Stadt: Der Osterfelder Beigeordnete Lünenborg und zwei Polizeibeamte wurden festgenommen; französische Truppen besetzten das Osterfelder Rathaus, und alle Osterfelder Wirtschaften mussten um acht Uhr schließen. Für die gesamte Emscherzone von Sterkrade bis Buer wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Ende Mai wollte General de Longueville die Stadt Osterfeld noch zu einer Geldbuße von 100 Millionen (Inflations-) Mark verpflichten; als die Stadt diese Summe nicht aufbringen konnte, wurden kurzerhand große Teile des Mobiliars der Stadtverwaltung beschlagnahmt und abtransportiert, u. a. 52 Rohrsessel, 26 Rohrstühle, mehrere Aktenschränke und zwei Schreibmaschinen.253 Im Sommer mussten auf den Zügen der militarisierten Strecken Deutsche als „Geiseln“ mitfahren.254