Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

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4. Eine gespaltene Gesellschaft
Die öffentliche Meinung Anfang der 1920er Jahre

S. wichtig die Zeitungen heute für den Historiker sind, so sehr muss man bezweifeln, dass dieses einzige öffentliche Medium 1920 eine entscheidende Rolle spielte bei der Meinungsbildung der Massen. Bei den revolutionären Arbeitern dominierten wohl die mündlich vermittelten Nachrichten, was den Meinungsführern, z. B. den Kommandeuren der „Roten Armee“ ungeheure Macht gab. Das Risiko, dass Gerüchte aller Art sich ohne jedes Korrektiv verbreiten und vergröbern konnten, musste bei derartigen Kommunikationsstrukturen gefährlich anwachsen.

Die Dominanz mündlich vermittelter Informationen verweist auch auf die, verglichen mit heute, sehr viel größere Bedeutung der öffentlichen Versammlungen. Kurze Zeit nachdem die Nachrichten von dem Militär-Putsch in Berlin Oberhausen erreicht hatten, strömten Menschenmassen auf die Straßen, auf den Altmarkt oder Neumarkt, wo die letzten Informationen ausgetauscht, „gehandelt“ wurden. Dieser Austausch von Nachrichten „auf dem Markt“ war bei Versammlungen vermutlich wichtiger als die Ansprachen, von denen nur wenige Zuhörer, die in unmittelbarer Nähe des Redners standen, akustisch etwas verstehen konnten.

Öffentliche Versammlungen waren die wichtigste Informationsbörse der revolutionären Arbeiter, weshalb die jeweiligen Militärbefehlshaber der Reichswehr auch in Oberhausen während der langen Belagerungszustände regelmäßig als erste Maßnahme Versammlungsverbote erließen. Die Meinungs- und Informationsfreiheit der Arbeiter wurde dadurch 1919 und 1920 monatelang stark eingeschränkt. Die Zensur, die der Vollzugsrat zwei Wochen lang ausübte, unterbrach im Gegenzug die Informations- und Kommunikationskanäle der bürgerlichen Kreise und der Anhänger der MSPD.

Der Ruhrkrieg illustrierte die tiefe Kluft in der Gesellschaft des Wilhelminischen Deutschland, deren Struktur sich 1920 noch nicht wesentlich geändert hatte. Die sozialen Gegensätze zeigten sich in der Industriestadt Oberhausen besonders krass.184 Die Mehrheit der Arbeiter, die in Oberhausen lebten, war nicht alteingesessen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war nur jeder vierte Bewohner in Oberhausen geboren.185 Im Jahr 1913 war fast die Hälfte der Oberhausener Bevölkerung in Bewegung: 24.407 Personen wanderten zu, aber gleichzeitig zogen 23.274 weg.

„Im Ruhrgebiet lebte vor 1914, und auch noch lange danach, bis weit in die 1920er Jahre hinein, eine extrem mobile Bevölkerung. […] Den Zeitgenossen blieb dieses Massenphänomen nicht verborgen; besorgt sprachen sie von den ‚Nomaden‘, dem ‚Flugsand‘ der hochmobilen Industriebevölkerung.“186

Der Erste Weltkrieg hatte noch mehr „Nomaden“ in die Stadt gespült: Zuerst die Arbeiter, die die Soldaten ersetzen mussten, und nach der Niederlage die entlassenen und häufig entwurzelten Soldaten.

Diese proletarische Unterschicht füllte in den Betrieben die weniger qualifizierten und schlechter bezahlten Arbeitsplätze und wohnte unter teilweise erbärmlichen Bedingungen in homogenen Arbeitervierteln, sehr nahe an ihren Betrieben und deutlich getrennt von der alteingesessenen Bevölkerung. Besonders typische Viertel dieser Art waren die Essener Straße, das Brücktor-Viertel und das Concordia-Viertel. „Alle drei funktionierten als betriebsnahe, innenstadtferne (bzw. deutlich von der Innenstadt abgetrennte), hoch verdichtete Einstiegsschleusen in die Stadt, beherbergten eine extrem mobile, dominant ledige, polnische, ungelernte Arbeiterbevölkerung, die in zahlreichen Werksmenagen oder Arbeiterheimen und in überfüllten hohen Mietshausblöcken, zumeist Wuchermieten zahlend, untergebracht, der Disziplinierung durch die Werke und der Ausnutzung durch Wohnungsspekulanten ausgeliefert waren.“187

Die Vermutung drängt sich auf, dass die „Rote Armee“ in Oberhausen ihre politische Unterstützung und ihre Rekruten überwiegend aus dieser Schicht und aus diesen Vierteln erhielt. Lokalpatriotische Gefühle dürften hier eine geringe Rolle gespielt haben; deshalb störte man sich in diesen Kreisen auch wohl am wenigsten daran, dass der Militärbefehlshaber der „Roten Armee“ von auswärts, aus Mülheim kam. Aber es gab wohl auch in den Vierteln, wo die qualifizierten, alteingesessenen Arbeiter wohnten, Unterstützung für den Aufstand. Die oben geschilderte Episode aus dem Knappenviertel ist ein Indiz dafür. Daher ist gegenüber manchen noch heute gängigen Cliches Vorsicht geboten: Die „Rote Armee“ war nicht nur eine sozial entwurzelte, „bolschewistische Lumpengarde“, aber sie war auch nicht die Avantgarde im Streit für eine bessere Gesellschaftsordnung „im größten Volksaufstand in Deutschland seit dem Bauernkrieg“, wozu die Revolutionsromantik der Jahre nach 1968 sie gerne hochstilisiert hat.

Die bürgerliche Oberschicht wohnte in den „besseren“ Vierteln am Rathaus, am Altmarkt oder in der „Manager-Siedlung Grafenbusch“.188 Einem Teil der Arbeiter, vor allem der qualifizierten Facharbeiter der Bergwerke und Hütten, war es gelungen, in eine der begehrten Werkswohnungen zu ziehen; teilweise waren sie Besitzer ihrer Häuser geworden, z. B. im Knappenviertel und in Dümpten. Hier wohnten nicht die „Nomaden“ der proletarischen Unterschicht. Die Arbeiter dieser Siedlungen hatten in der Stadt Oberhausen feste Wurzeln geschlagen.

Reichstagswahlen 1920

Die Vermutung liegt nahe, dass diese Stammarbeiter nicht revolutionär gesinnt waren; sie hatten einiges mehr zu verlieren „als ihre Ketten“. Die Führer der traditionellen Gewerkschaften und der MSPD verstanden sich in erster Linie als Vertreter dieser Arbeiter, wenn sie unablässig zu „Ruhe und Ordnung“ aufriefen. Es gibt aber durchaus auch Hinweise darauf, dass der Aufstand der „Roten Armee“ bei den etablierten Arbeitern und in deren Siedlungen Unterstützung fand.189 In die gleiche Richtung deuten die katastrophalen Stimmenverluste der SPD ab 1920 gerade auch in diesen Vierteln, ihren früheren Hochburgen.190


Tabelle 3: Reichstagswahl am 6. Juni 1920 in Oberhausen 191

Die Wahl war eine Katastrophe für die SPD. Große Teile der Arbeiterschaft drückten ihre Verbitterung über das Verhalten der SPD-Führer im Revolutionswinter 1918/​19, bei den großen Streiks im Frühjahr 1919 und vor allem während des „Ruhrkrieges“ im Frühjahr 1920 durch den Stimmzettel aus. Bei den bürgerlichen Parteien blieben die Verschiebungen vergleichsweise gering: Die überragende Führungsposition des katholischen Zentrums blieb unangetastet, und der Stimmenvorsprung der DVP gegenüber den Deutschnationalen war weiterhin riesig. Die bürgerlichen Parteien, vor allem das Zentrum, profitierten von der Einführung des Wahlrechts für die Frauen: In allen Oberhausener Stimmbezirken erhielt das Zentrum deutlich mehr Stimmen von Frauen als von Männern, bei den anderen bürgerlichen Parteien war das Stimmenverhältnis zwischen Männern und Frauen in etwa ausgeglichen, und bei den Linksparteien überwogen in allen Stimmbezirken klar die männlichen gegenüber den weiblichen Stimmen.192

Die Deutschnationalen traten schon bei dieser Wahl offen antisemitisch auf. Im „Generalanzeiger“ erschien am Vorabend der Wahl eine riesige Anzeige mit anti-jüdischer Hetze:

„Deutscher, denke daran, was man dir angetan! Denke an Hindenburg, wie er vor dem Untersuchungsausschuss hat stehen müssen. Hindenburg vor Cohn – Hindenburg vor Sinzheimer – Hindenburg vor Gothein – Hindenburg vor David […] Was sagte Helfferich vor dem Untersuchungsausschuss? Ich gebe einem Cohn keine Antwort! […] Gebt auch Ihr heute die deutsche Antwort und wählt Deutschnational.“193

Statt Lösung der Probleme nationalistische Rituale

Eineinhalb Jahre nach Kriegsende hatte sich an der materiellen Not der Arbeiter und ihrer Familien kaum etwas geändert, obwohl die ständig beschworene „Ruhe und Ordnung“, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, durch Reichswehr- oder Freikorpstruppen erzwungen wurde. Fast die ganze Zeit herrschte der Belagerungszustand. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung von Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld hatte zu Beginn des Jahres 1919, auf dem Tiefpunkt des durch den Krieg verursachten Elends, für die parlamentarische Demokratie votiert und dadurch ihre politische Reife bewiesen. Es wäre Sache der Führungseliten gewesen, dieses große Vertrauen in den demokratischen Staat von Weimar durch den Nachweis ihrer „Problemlösungskompetenz“ zu stabilisieren. Dies geschah nicht.

Im Gegenteil: Die Kluft zwischen den politisch und wirtschaftlich verantwortlichen „Führern“ und der Mehrheit der Bevölkerung wurde zusätzlich vertieft durch die dubiose Haltung der Eliten gegenüber dem neuen demokratischen Staat und seiner Verfassung. Die patriotischen Empörungsrituale mussten der am Rande des Existenzminimums dahinvegetierenden Masse der Arbeiter als Ablenkungsmanöver erscheinen. Schon beim Protest gegen die Versailler Friedensbedingungen im Mai 1919 hatte Oberbürgermeister Havenstein die absurde Legende verbreitet, dass das friedliebende Deutsche Reich eingekreist und überfallen worden sei.

 

„Jenseits der Nordsee saß einer, […] der da wähnte, er sei allein berufen, Länder und Meere zu beherrschen. Und er arbeitete gegen uns, und er fand Widerhall in altfranzösischer Rachsucht und in russischer Ländergier. Und er zog die Maschen enger und enger und zog sie fester, bis der Schlag fiel in den Augusttagen 1914.“

Dann verstieg er sich zu der maßlosen Übertreibung, der Versailler Friedensvertrag sei „schlimmer als Krieg“, er bedeute die „völlige politische und wirtschaftliche Vernichtung, Vernichtung des ganzen Volkes“.194

In das gleiche Jahr 1919 fiel auch der bizarre Streit um die Bilder von Kaiser Wilhelm in den Oberhausener Schulen. Die Stadtverwaltung und Vertreter der bürgerlichen Parteien, wie z. B. Rektor Broermann, wollten die Relikte aus der vordemokratischen Zeit keinesfalls von den Wänden nehmen.195

Vier Wochen vor dem Kapp-Putsch in Berlin, als Oberbürgermeister Havenstein in den Anfangstagen eine durchaus zweifelhafte Haltung einnahm, ließ er es an seinem Bekenntnis zum alten Kaiserhaus an Klarheit nicht fehlen. Er legte „feierliche Verwahrung“ gegen die Auslieferung sogenannter Kriegsverbrecher ein.

„Wie in diesem Saale, so sammeln sich in diesen Tagen allerorts in deutschen Landen Männer und Frauen in heißem Schamgefühl; denn Unheil droht dem deutschen Namen, und eine Schandtat ist uns angesonnen, die uns ächten und brandmarken soll vor allen Völkern. Wir wurden in den Weltkrieg hineingerissen mit allen Höhen und Tiefen des menschlichen Erlebens, indem wir uns als das tapferste und tüchtigste und beste Volk des ganzen Erdenrundes bewährten, dann plötzlich zusammengebrochen in furchtbarstem Sturz, im grausamen Frieden belogen und betrogen durch Gaukelspiel und Lüge, erniedrigt zu Lohnsklaven der Entente, zerstückelt und abgeschnitten von den natürlichen Hilfsmitteln unserer wirtschaftlichen Existenz, so wachen wir auf. Jetzt wo wir die Glieder neu regen in ehrlichem Bemühen, dieser furchtbare Schlag. Wir sollen Männer, deutsche Männer, Blut von unserem Blute, die dem Vaterlande treu dienten in schwerster Zeit, von denen viele ihr Leben wagten in 100 Schlachten und Gefechten, Männer, die treu ihrem Soldateneid ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit in ihres Vaterlands Not gewiss in heiligster Begeisterung getan haben, die sollen wir ausliefern, an ihnen Schergendienst verrichten.“196

Der – nüchterner als diese Rede formulierten – Protestresolution stimmten alle Parteien, außer der KPD und der Polenpartei zu.

Die bittere Anklage des „Vorwärts“: „Schwerindustrieller Wucher“

Die Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg stand auf tönernen Füßen. Die Kluft zwischen den verfeindeten gesellschaftlichen Lagern brach im Herbst 1920 wieder auf, als der sozialdemokratische „Vorwärts“ den „Schwerindustriellen Wucher“ der Gutehoffnungshütte kritisierte. Die von allen vermuteten, aber schwer zu beweisenden „Wucher“-gewinne der Rüstungskonzerne im Ersten Weltkrieg erregten die Öffentlichkeit seit Jahren. Der „Vorwärts“ schien nun im Oktober 1920 Beweise gegen das GHH-Werk Sterkrade in der Hand zu haben. Die Vorwürfe lösten monatelange, leidenschaftlich ausgetragene Konflikte in den Zeitungen ganz Deutschlands aus. Wie schon 1911 – bei dem heftigen Konflikt der GHH mit den Verbänden der technischen Angestellten – wurde „Sterkrade“ zum Synonym für rücksichtsloses, nur an der Profitmaximierung orientiertes Unternehmerhandeln. Was war geschehen?

Mitte November 1919 war in einer SPD-Versammlung im Kaiserhof in Sterkrade über „die Kriegssünden“ der GHH diskutiert worden. Ein bei dieser Versammlung anwesender Arbeiter informierte sofort Reichskommissar Severing in Münster, der eine Anzeige beim Reichsabwicklungsamt (RAA) in Berlin empfahl. Die amtliche Überprüfung wurde in den folgenden Monaten von der Konzernleitung massiv behindert und musste im August 1920 komplett eingestellt werden. Die Werksleitung der GHH Sterkrade – um deren Rüstungsproduktion ging es in erster Linie – versuchte, die Glaubwürdigkeit der beiden Angestellten, die die Sache zur Anzeige gebracht hatten, zu erschüttern. Sie seien vom RAA, das in der Tat Belohnungen ausgelobt hatte, bestochen worden.197 Die beiden Angestellten, die Ende August fristlos entlassen worden waren, verfassten im September und Oktober 1920 sehr ausführliche Berichte, in denen sie den Vorwurf der Wuchergewinne und des Betrugs aufrecht erhielten und ganz konkret aufschlüsselten.198

In diesem Stadium des Konflikts brachte der „Vorwärts“ den „Fall Sterkrade“ an die Öffentlichkeit: „Die glänzenden Gewinnziffern der rheinisch-westfälischen Montanindustrie“ hätten gezeigt, „dass das schwerindustrielle Großkapital sich nicht gescheut hat, am Mark eines zusammengebrochenen Volkes zu saugen“. Die exorbitant hohen Kriegsgewinne, vor allem aus der für die Hersteller völlig risikofreien Geschossproduktion, und die daraus gespeisten, außergewöhnlich hohen Dividendenausschüttungen hätten der GHH immer noch nicht gereicht. Vielmehr habe sie nach dem Zusammenbruch durch wucherische Machenschaften Extragewinne eingefahren. Wie alle Geschossfabrikanten habe die GHH bei Kriegsende große Mengen von Geschosshüllen auf Lager gehabt, die als unbrauchbar zurückgewiesen worden waren. Dieses auf Bestellung gefertigte Material habe die GHH sich als brauchbare Lieferung bezahlen lassen, um es wenig später als Schrott, zum entsprechend niedrigeren Schrottpreis, zurückzukaufen.199

Die GHH ging ihrerseits im Oktober sofort in die Öffentlichkeit. In einer Gegendarstellung für die Presse, in vollem Wortlaut abgedruckt in der „Rhein- und Ruhr-Zeitung“, behauptete sie, dass die „Nachprüfung durch die Beauftragten des Reichsabwicklungsamtes nichts besonderes ergeben“ hätten.200 Am 27. Oktober 1920 brachte Dr. Most, der mit Reusch in einem engen Vertrauensverhältnis stehende ehemalige Bürgermeister von Sterkrade, eine Anfrage an die Reichsregierung im Reichstag ein, die sich ausdrücklich auf den Artikel in der Rhein- und Ruhr-Zeitung berief.201

Das RAA stellte die Untersuchungen jedoch nicht ein, obwohl die Konzernleitung der GHH weiterhin die Kooperation mit den amtlichen Prüfern verweigerte.202 Der Reichsfinanzminister berief sich auf die noch von der kaiserlichen Regierung am 12. Juli 1917 verordnete Auskunftspflicht und drohte, von den Bestimmungen dieser Verordnung Gebrauch zu machen, falls die GHH sich der Prüfung weiter widersetze.203 Nach dieser Drohung lenkte Reusch, der sich der Sache persönlich angenommen hatte, ein.204

Im Februar 1921 wurde die Antwort auf die Kleine Anfrage im Reichstag veröffentlicht.205 Unter der Überschrift „Diktatur der Schwerindustrie“ nahm der „Vorwärts“ die Antwort auf die Reichstagsanfrage zum Anlass, um das Verhalten der GHH-Konzernleitung, wie folgt, zu kommentieren: „Man fasst sich an den Kopf, wenn man liest, wie diese unter einer schweren Beschuldigung stehende privatkapitalistische Firma mit einem Reichsamt umzuspringen beliebt.“206

Über die Untersuchungen der nachfolgenden Monate liegen nur fragmentarische Informationen vor. Weder lässt sich daraus klar erschließen, wer für die Untersuchungen verantwortlich war, noch wird bezüglich der materiellen Vorwürfe ein konkret aufgeschlüsseltes Ergebnis festgehalten. Klar ist nur, dass die Konzernleitung der GHH sich gegenüber den Prüfern weiterhin nicht gerade kooperativ verhielt. Die Prüfer kamen trotzdem zu dem Gesamtergebnis, „dass sich keinerlei Anhaltspunkte ergeben haben, dass die Hütte beabsichtigte, den Fiskus in irgend einer Weise zu schädigen, noch dass dies in irgend einer Weise geschehen ist.“207 Reusch bedankte sich im Juli beim Reichsfinanzminister für die Mitteilung, dass die Untersuchung der gegen die GHH „erhobenen Anschuldigungen deren Haltlosigkeit ergeben“ habe.208 Wenn dies so war, so bleibt aber unverständlich, warum der Reichsfinanzminister mit der GHH im September 1921 einen „Vergleich“ schloss, der die GHH zur Zahlung von 3.550.000,00 Mark verpflichtete.209

Der Konflikt über den Vorwurf der „Wuchergewinne“, ab Oktober 1920 auch öffentlich ausgetragen, begleitete die ebenfalls in der Öffentlichkeit mit großer Erbitterung ausgetragenen Konflikte um die feindliche Übernahme der MAN durch die GHH. Das Misstrauen vor allem in der Öffentlichkeit Süddeutschlands gegen den aggressiven Expansionskurs des GHH-Konzerns erhielt dadurch zusätzliche Nahrung. Der verbissene Konflikt mit dem Reichsabwicklungsamt verstärkte andererseits Reuschs Antipathien gegen die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung und gegen eine kritische, unabhängige Presse.

Reaktionen auf den Rathenau-Mord

Aus den dumpfen Emotionen der nationalen Rechten entstand der fanatische Hass, der 1922 die Mörder von Reichsaußenminister Rathenau antrieb. Das Attentat löste in der Arbeiterschaft ungeheure Erregung aus. Am 27. und 28. Juni 1922 ruhte in den großen Werken in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld die Arbeit. Vor allem im Walzwerk Oberhausen und im Werk Sterkrade folgten mehr als die Hälfte der Arbeiter sofort dem Streikaufruf. Die Konzernleitung wurde in teilweise aufwendig ausgeschmückten Schilderungen, auch durch Polizeispitzel, über die Vorgänge unterrichtet. Bei der Protestversammlung im Zentrum von Sterkrade habe ein Kommunist „sehr aufhetzende Reden gegen die GHH und ihre christliche Belegschaft sowie gegen die Schutzpolizei gehalten“. Die Werkspolizei der GHH beobachtete in den folgenden Wochen die Vorgänge bei Versammlungen der Gewerkschaften und der linken Parteien genau und verfasste vertrauliche Berichte an Reuschs Stellvertreter Woltmann.210 Zum Anlass der Proteststreiks, der Ermordung von Außenminister Rathenau durch rechtsradikale Fanatiker, gab die Konzernleitung keine Erklärung ab. Reusch selbst, in diesen Tagen offenbar nicht in Oberhausen anwesend, hüllte sich in Schweigen, wie bei vielen anderen Gelegenheiten, wo ein klares Bekenntnis zum parlamentarischen Staat zur Entspannung hätte beitragen können. Auch die Tatsache, dass Rathenau mit ihm zusammen im Aufsichtsrat der Deutschen Werft saß, konnte ihn nicht dazu bewegen, in der Öffentlichkeit seinen Abscheu über den Mord zum Ausdruck zu bringen.211

Die Mehrheit der Arbeiter dagegen stellte durch diese Aktionen erneut ihre politische Reife unter Beweis, war doch Walter Rathenau, der ehemalige Chef der AEG, keinesfalls ein Politiker, der Arbeiterinteressen vertreten hatte. In dieser angespannten Situation musste von den politischen „Führern“ ein unmissverständliches Eintreten für die demokratische Verfassung verlangt werden. Doch die Männer in der Stadtspitze wurden diesem Anspruch nicht gerecht. Havenstein nahm zwar eindeutig gegen den Rathenau-Mord Stellung, aber weder er selbst noch sein Stellvertreter waren offenbar zu einem klaren Bekenntnis zur Weimarer Verfassung zu bewegen. Als sich der Streit darüber zuspitzte, versuchte Dr. Blumberg von der DVP von dieser Grundsatzfrage abzulenken: Man solle nicht „innerhalb des brennenden Hauses […] streiten, wo draußen der Feind stehe“212.

Ein halbes Jahr später tat die französische Regierung der deutschen Rechten den Gefallen und lieferte ihr durch die Besetzung des Ruhrgebiets den Anlass, die nationalistischen Emotionen auf ihren Höhepunkt zu treiben. Der „Ruhrkampf“ wurde zum Kristallisationspunkt aller vaterländischen Heldenmythen in den Jahren der Weimarer Republik.