Kirchlicher Dienst in säkularer Gesellschaft

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V. Zukünftiges

Die gerade im vorhergehenden Abschnitt benannten Punkte, die es notwendigerweise für eine Erneuerung des kirchlichen Arbeitsrechts zu bedenken, zu diskutieren und auszuführen gilt, sollten dazu beitragen, kirchliches Arbeitsrecht weder zu unterschätzen noch zu überschätzen.

Kirchliches Arbeitsrecht „nur“ als Paragraphenwerk zu sehen und diesbezügliche Veränderungen hauptsächlich als Wortklauberei zu klassifizieren, würde ein Unterschätzen bedeuten. Kirchliches Arbeitsrecht und die damit eng zusammenhängende konkrete Organisation von Arbeitsverhältnissen hat Teil am Zeichen- und Werkzeugcharakter der Kirche selbst. An der Art und Weise wie die Kirche die Arbeitsverhältnisse organisiert, zeigt sich, was ihr wichtig ist; zeigt sich, was mit der Formulierung Auferbauung des Reiches Gottes gemeint ist; erweist sich, was dieses Reich Gottes ist. Zugleich aber verändert die Kirche mit ihrer exemplarisch vorgelebten Organisation kirchlicher Arbeitsverhältnisse tatsächlich schon ein Stück weit real die Arbeits- und Lebensverhältnisse; Ist die Kirche Werkzeug für die Veränderung der Welt im Sinne der Auferbauung des Reiches Gottes, motiviert sie mit ihrem Beispiel schon jetzt andere, es ihr gleich zu tun, setzt sie Veränderungsbewegungen in Gang. Im Umkehrschluss bedeutet dies dann aber auch: Eine im Sinn der katholischen Soziallehre unangemessene Gestaltung kirchlicher Arbeitsverhältnisse widerspricht dem Wesen der Kirche selbst als Zeichen und Wirkung für die Veränderung der Welt im Sinne des jesuanischen Sendungsauftrags.

Eine Überschätzung kirchlichen Arbeitsrechts würde es bedeuten, wenn davon ausgegangen wird, eine juristische Auseinandersetzung bzw. Beschäftigung mit den in diesen Überlegungen angesprochenen Punkten wäre ausreichend. Es bedarf dringend einer adäquaten Einstellungs-, Haltungs- und Blickrichtungsänderung! Theologen sollten die Einstellung zum kirchlichen Arbeitsrecht insofern ändern, als sie es als ihre ureigene Angelegenheit annehmen und bearbeiten. Dienstgeber- und Dienstnehmer sollten insofern eine Haltungsänderung anstreben, als sie sich zunehmend ihres gemeinsamen Auftrags bewusst werden und davon wegkommen, das im weltlichen Bereich übliche Gegenüber von Arbeitgeber und Arbeitnehmer im kirchlichen Bereich nur mit leichten Modifikationen einfach widerzuspiegeln. Die Gesetzgeber kirchlichen Arbeitsrechts sollten ihre Haltung dahingehend ändern, dass sie ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf den in Frage stehenden Regelungsgegenstand lenken, ohne sich im Klein-Klein juristischer Formulierungen zu verlieren, für die sie im Zweifelsfall sowieso nicht ausreichend eigenständig qualifiziert sind.

Letztendlich bleibt es abzuwarten, ob eine Erneuerung des kirchlichen Arbeitsrechts entlang den aufgezeigten Linien eine Wirkung entfaltet, die sich an dieser Aussage festmachen lässt: Menschen möchten in ein kirchliches Arbeitsverhältnis nicht trotz, sondern wegen des kirchlichen Arbeitsrechts eintreten. Und sie möchten dies deshalb, weil das kirchliche Arbeitsrecht eine Vision von Arbeit durchscheinen lässt, die diese sinnvoll erfahrbar macht; Freiräume für Selbstermächtigungsprozesse im Modus des Verstehens eröffnet; die Individualität der Arbeitenden differenziert zum Tragen bringt; Beteiligungs- und Mitspracherechte zuspricht, die es anderswo vielleicht so nicht gibt und eine gleichberechtigte Teilhabe an einer Gemeinschaft ermöglicht, von der man in anderen Kontexten nur träumen kann. Ein so erneuertes kirchliches Arbeitsrecht würde sicherlich auch zur Glaubwürdigkeit der Kirche selbst beitragen, weil sie auf diese Weise belegen könnte, dass das, was sie nach außen verbindet und dort von Anderen fordert, in ihrem Inneren eindeutig verwirklicht wird.

3 Für die deutsche Ausgabe: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006) Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg im Breisgau: Herder, hier v.a. S. 199 – 239.

Kollektive Konflikte in kirchlichen Einrichtungen
Hat sich die Rechtslage seit 2012 weiterentwickelt?
Klaus Bepler

Norbert Feldhoff war als Vize-Präsident des Deutschen Caritasverbandes und Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Kommission eng mit den rechtlichen und vermutlich auch mit den gelegentlichen menschlichen Problemen des Dritten Weges befasst. Wie ich ihn in anderen Zusammenhängen kennen gelernt habe, bin ich sicher, dass er dort höchst kompetent, sachbezogen und zielorientiert gearbeitet, dabei aber nie das praktische Gebot der Nächstenliebe und den Humor aus den Augen verloren hat. Er hat also auch dort so gehandelt, wie man sich als Christ einen modernen Priester in der Welt wünscht. Es ist deshalb nicht ganz unproblematisch, aber hoffentlich vertretbar, ihm einen Beitrag zu widmen, der sich mit einem Bereich befasst, in dem notwendige und in aller Regel fruchtbare Konflikte nicht intern, „lautlos“, bewältigt werden können: Es soll um die rechtlichen Bedingungen für die kollektive Konfliktaustragung und Konfliktbewältigung in kirchlichen Einrichtungen gehen, in denen Arbeitnehmer beschäftigt werden, und darum, ob und wie sich die Rechtslage seit der Rechtsprechung zum Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen aus dem Jahre 2012 entwickelt hat.

I. Kirchenautonomie und staatliche Rechtsordnung

Es ist das Recht jeder Gruppe von Menschen, sich zu organisieren und für die Bewältigung ihrer internen Konflikte Wege vorzusehen, die sie für richtig halten. Sie können und werden sich dabei im Zweifel an den ideellen Prinzipien und Zielen orientieren, auf denen ihre Zusammengehörigkeit gründet. Diese Autonomie steht jedem Einzelnen, jeder Gruppe von Einzelnen, aber auch fester organisierten Einheiten zu, die sich aufgrund der Willensübereinkunft ihrer Mitglieder gebildet und am Leben erhalten haben. Im Rechtsraum ruht dieses Recht für das Individuum auf Art. 2 und Art. 9 und für die Organisation vielfach auch auf Art. 9 Abs. 1 und/oder Abs. 3 GG. Wegen der Verbindung organisatorischer Entscheidungen mit den die Organisation und ihre Mitglieder einenden Grundüberzeugungen wird vielfach auch die grundgesetzlich garantierte unverletzliche Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 GG) betroffen sein. Für die Kirchen tritt mit Art. 140 GG und dem dort inkorporierten Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) eine verfassungsrechtliche Absicherung der korporativen Dimension der Religionsfreiheit1 hinzu. Sie hebt die Religionsgesellschaften gegenüber den sonstigen Vereinigungen hervor und ist Grundlage für ein eigenständiges Recht der religiösen Vereinigungen.2

Für den dem staatlichen Recht verpflichteten Juristen eröffnet sich ein Arbeitsfeld, wenn die Gruppe oder Organisation für bestimmte Teilbereiche ihren allein durch die Binnenautonomie geprägten Raum verlässt und in den staatlichen Rechtskreis eintritt.3 An Autonomie gewohnte Personen oder Organisationen haben dabei typischerweise das sehr engagiert verfochtene Ziel, auch bei Kontakten nach außen ihre Autonomie und das autonom Geschaffene so weit wie möglich aufrecht zu erhalten. Das schafft Probleme. Ein zweiter Aufgabenbereich wird eröffnet, wenn Gruppe oder Organisation in eine – nicht notwendig freiwillige – Berührung mit Trägern konkurrierender Rechte kommen. Kommt es dann zu Konflikten, bedarf es zunächst der Gewichtung der Rechtspositionen. Bei Gleichgewichtigkeit müssen die einander gegenüberstehenden Rechtspositionen miteinander abgeglichen werden. Ziel dieser Gedankenoperation muss es sein, die jeweils verfassungsrechtlich garantierten Rechte beiderseits möglichst weitgehend wirksam zu erhalten.4

II. Kirchliche Arbeitsverhältnisse und staatliches Arbeitskampfrecht

Das vieldiskutierte Thema Arbeitskampf und Kirche gehört in den angesprochenen zweiten Bereich. Zu einer grundlegenden Stellungnahme war das Bundesarbeitsgericht im Jahre 2012 aufgerufen. Es fällte dazu am 20. November 2012 ein Urteil, das für die katholische Kirche und ihre Einrichtungen unmittelbar einschlägig ist, weil es sich mit dem Dritten Weg5 befasst.6 Auf ihm entstehen im katholischen Bereich durchgängig die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, die arbeitsvertraglich in Bezug genommen und so zum maßgebenden Inhalt der Arbeitsverhältnisse werden.

Im Rechtsstreit ging es um die Klage verschiedener kirchlicher Einrichtungen, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der beklagten Gewerkschaft ver. Di zu Warnstreiks aufgerufen worden waren. Dies war geschehen, nachdem sich die Einrichtungen unter Hinweis auf das für sie maßgebende, konkret aber stockende Arbeitsrechtsregelungsverfahren des Dritten Weges geweigert hatten, in Tarifverhandlungen einzutreten. Die Einrichtungen machten geltend, Streikaufrufe seien ihnen gegenüber rechtswidrig. Sie verletzten das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV. Dieses Recht erlaube es den Kirchen, die privatrechtlich begründeten Arbeitsrechtsverhältnisse am Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft7 auszurichten. Dieses beruhe auf dem Bekenntnis, dass alle dort beschäftigten Dienstnehmer in Gemeinschaft mit den jeweiligen Dienstgebern den Auftrag der Kirche in der Welt erfüllten. Die gemeinsame Verantwortung für den Dienst der Kirche verpflichte zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit und gebiete eine konsensuale Lösung von Konflikten um den Inhalt von Arbeitsbedingungen. Hierfür sei ein kollektives Regelungsverfahren erforderlich, das auf den Grundsätzen von Partnerschaft und Kooperation beruhe, und in dem Konflikte ohne Arbeitskämpfe über eine Schlichtungskommission ausgetragen würden. Ein Arbeitskampf zerstöre die Dienstgemeinschaft und hindere die Kirche für dessen Dauer an der Erbringung ihres Auftrags. Das kirchenrechtlich niedergelegte Verbot des Arbeitskampfes in kirchlichen Einrichtungen müsse deshalb auch von den staatlichen Gerichten geschützt, seine Durchsetzung gesichert werden.

 

Die beklagte Gewerkschaft berief sich demgegenüber darauf, dass ihr im allgemeinen Arbeitsleben, an dem sich ja auch die kirchlichen Einrichtungen beteiligten, das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährleistet sei. Die beiden einander gegenüberstehenden Rechtspositionen von verfassungsrechtlichem Gewicht hat das Bundesarbeitsgericht zunächst – was die Rechte der Kirchen angeht, zu Recht auch unter Rückgriff auf Art. 4 GG,8 – als grundsätzlich gleichwertig bewertet (Rn. 103 ff.; 110 ff.). Auf dem Weg zu einem möglichst schonenden Ausgleich der so einander gegenüberstehenden Rechte ging es davon aus, das Selbstbestimmungsrecht einer Religionsgesellschaft und die Koalitionsfreiheit einer Gewerkschaft schlössen sich nicht wechselseitig aus. Die Rechte kollidierten aber, wenn die einzelnen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, was das Verfahren zur kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen angeht, wahrgenommen würden. Auf der einen Seite stünden das Leitbild der Dienstgemeinschaft und das kooperative Verfahren mit der Möglichkeit einer Schlichtung durch neutrale Dritte. Dem stehe auf der anderen Seite das damit unvereinbare Regelungsmodell des staatlichen Tarifrechts gegenüber, in dem erst durch Druck und Gegendruck, mit Hilfe kampfweiser Arbeitsniederlegung und Nichtbeschäftigung, angemessene Verhandlungsergebnisse erreicht werden könnten. Es müssten deshalb beide Regelungsmodelle miteinander verglichen und möglichst schonend einander angenähert werden.

Bei der gebotenen Herstellung praktischer Konkordanz sei davon auszugehen, dass die Kirchen bei der Ausgestaltung ihres Regelungskonzepts nicht völlig frei seien. Sie müssten Rücksicht auf die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des Art. 9 Abs. 3 GG nehmen. Ihr Konfliktregelungsmodell dürfe die Koalitionsfreiheit und das Konzept der Tarifautonomie nur insoweit verdrängen, wie es für die Wahrung ihres Leitbildes der Dienstgemeinschaft erforderlich sei. Das angestrebte Ziel eines fairen, sachgerechten und verbindlichen Interessenausgleichs müsse tatsächlich erreicht werden. Hiervon ausgehend erkannte das Bundesarbeitsgericht den Kirchen und ihren Einrichtungen nur dann den Schutz staatlicher Gerichte vor Arbeitskampfmaßnahmen einer Gewerkschaft zu, wenn das kirchliche Arbeitsrechtsregelungsverfahren drei Bedingungen erfüllt:9

(1) Widerstreitende Arbeitsvertragsinteressen können im Wege kollektiver Verhandlungen nur dann fair und angemessen ausgeglichen werden, wenn die Verhandlungen bei annähernd gleicher Verhandlungsstärke und Durchsetzungskraft durchgeführt werden. Das kirchliche Konfliktlösungsmodell genügt dieser Vorgabe nur und kann den Vorrang vor dem Jedermann-Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG beanspruchen, wenn die Verhandlungsschwäche der Dienstnehmer auch in diesem Modell hinreichend ausgeglichen wird. Dass am Arbeitsrechtsregelungsverfahren paritätisch besetzte Kommissionen beteiligt sind, reicht dafür nicht aus. Zusätzlich muss, wenn es dort nicht zu einer Einigung kommt, über paritätisch besetzte Schlichtungskommissionen unter der Leitung eines unabhängigen und neutralen Dritten, notfalls mit dessen Stimme, ein verbindliches Ergebnis erreichbar sein. Die mit den Entscheidungsstrukturen eines solchen Schlichtungsverfahrens verbundenen Unwägbarkeiten und die Verlagerung der Konfliktlösung auf eine andere Verhandlungsebene fördert schon in den Kommissionen die Bereitschaft zu Kompromissen. Sie schließen es aus, dass sich die Rolle der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter auf ein „kollektives Betteln“10 reduziert. Dafür muss die Anrufung der Schiedskommission der Dienstnehmerseite uneingeschränkt offenstehen. Die Unabhängigkeit und Neutralität des Vorsitzenden der Schlichtungskommission darf nicht fraglich und muss auch durch das Bestellungsverfahren gewährleistet sein.

(2) Das Leitbild der Dienstgemeinschaft schließt eine gewerkschaftliche Unterstützung der Dienstnehmerseite nicht aus.11 Es ist nicht darauf gerichtet, Gewerkschaften von Verhandlungen in den arbeitsrechtlichen Kommissionen oder Schiedskommissionen fernzuhalten und sie daran zu hindern, aufgrund eigener Entscheidung ihr Sach- und Fachwissen dort einzubringen. Die Kirchen dürfen Gewerkschaften nicht durch Besetzungsregeln für arbeitsrechtliche Kommissionen und Schiedskommissionen von einer frei gewählten Mitwirkung am dritten Weg ausschließen.

(3) Das Kräfteungleichgewicht zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern wird nur dann beseitigt, wenn das Ergebnis der Kollektivverhandlungen einschließlich einer darauf gerichteten Schlichtung für die Arbeitsvertragsparteien verbindlich ist. Es muss einer einseitigen Abänderung durch den Dienstgeber entzogen sein. Es darf für den jeweiligen Dienstgeber auch nicht die Möglichkeit geben, zwischen verschiedenen, auf dem Dritten Weg zustande gekommenen Regelwerken zu wählen. Solche einseitigen Bestimmungsrechte werden durch die religiöse Betätigungsfreiheit nicht geschützt.

III. Grenzen kirchlicher Arbeitskampffreiheit

Drei Fragen sollen aus der Erfahrung von mehr als sechs Jahren seit Verkündung des referierten Urteils behandelt werden:

(1) Welches ist die Rechtsfolge, wenn eine kirchliche Einrichtung in den bei ihr abgeschlossenen Arbeitsverträgen von den auf dem Arbeitsrechtsregelungsverfahren des Dritten Weges zustande gekommenen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) abweicht?

(2) Genügen die Verfahrensregelungen zur Einleitung und Durchführung des Vermittlungsverfahrens auf dem Weg zu Regelungen des Dritten Weges auf katholischer Seite den Vorgaben der Rechtsprechung?

(3) Und schließlich: Sind alle systemimmanenten Überlegungen in diesem Zusammenhang überholt? Ist die auf die kirchlichen Einrichtungen als Ganze ausgerichtete Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum grundsätzlich eröffneten Recht, gewerkschaftliche Arbeitskämpfe unter Hinweis auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und die Glaubensfreiheit mit staatlicher Hilfe abzuwehren, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache Egenberger12 und im Chefarzt-Fall „IR/JQ“13 grundsätzlich in Frage gestellt?

1. Abweichungen von AVR in einzelnen Einrichtungen

Am 24. Mai 2018 hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichts14 wiederholt: Kirchengesetzliche Regelungen, welche die Schaffung einer vertraglichen Grundlage für die vollumfängliche Geltung des kirchlichen Arbeitsrechts anordnen, schließen es nach dem staatlichen Arbeitsrecht nicht aus, dass eine kirchliche Einrichtung nur eingeschränkt auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen, etwa die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR), Bezug nimmt.15 Das nicht in Bezug Genommene gilt in einem solchen Fall im betreffenden Arbeitsverhältnis selbst dann nicht, wenn kirchenarbeitsrechtliche Regelungen16 die normative Geltung kirchlicher AVR für diese Beschäftigten anordnen. Eine dahin gehende Rechtsetzungsmacht mit Verbindlichkeit für den staatlichen Rechtskreis ist nicht Teil der Kirchenautonomie. Arbeitsrechtsregelungen gelten dort nur, soweit sie arbeitsvertraglich in Bezug genommen sind. Dem entsprechend führt auch das Verlassen des Geltungsbereichs einer kollektiven Arbeitsrechtsregelung im Wege eines Betriebsübergangs nicht wie im Tarifvertragsrecht nach § 4 Abs. 5 TVG zur – statischen – Nachwirkung des bei Betriebsübergang kollektiv Geregelten. Ob Arbeitsrechtsregelungen wie etwa AVR im Stand beim Übergang auf den nicht kirchlichen Betriebserwerber statisch oder über diesen Zeitpunkt hinaus in ihrer jeweiligen Fassung, also dynamisch, weitergelten, richtet sich nach dem, was die Parteien des einzelnen Arbeitsverhältnisses vertraglich hierzu vereinbart hatten.17

Dass aufgrund dieses rechtsdogmatischen Ansatzes den kirchlichen Einrichtungen die Vertragsfreiheit bleibt, von kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen abzuweichen, bedeutet keinen Verstoß gegen das Gebot des Bundesarbeitsgerichts, die Regelungen des Dritten Weges müssten „abweichungsfest“ sein.18 Die Kirche kann hier nur kirchenrechtlich festlegen, wer nach Maßgabe der sich aus den Vorgaben der Dienstgemeinschaft ergebenden Regeln Teil des kirchlichen Dienstes ist und dass der, der gegen das kirchenarbeitsrechtliche Regelwerk verstößt, dies nicht ist. Dies ist in den Art. 2 und 7 der Grundordnung und den auf dieser Grundlage entstandenen kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen geschehen.

Die Ausübung der durch das Urteil vom 24. Mai 2018 bestätigten Vertragsgestaltungsfreiheit kirchlicher Arbeitsrechtsträger im Geltungsbereich von AVR hat für diese auch negative Folgen, die für das Urteil nicht entscheidungserheblich waren, aber außerhalb der konkreten gerichtlichen Konfliktbewältigung betont werden sollen.

Zunächst: Nur partiell in Bezug genommene AVR verlieren ihre Angemessenheitsvermutung. Sie sind nur als Ganze nach den Regeln des Dritten Weges in einer ausgewogenen Verhandlungssituation entstanden. Teile des Regelwerks sind deshalb nicht von der Inhalts- und Angemessenheitskontrolle nach §§ 307 ff. BGB ausgenommen, wie dies die Rechtsprechung mit Hilfe des „Scharniers“ der „im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten“ (§ 310 Abs. 4 S. 2 BGB)19 für insgesamt auf dem Dritten Weg zustande gekommene Regelungen annimmt.20 Wenn AVR nur teilweise, und sei es auch überwiegend, in Bezug genommen werden, im Übrigen aber Abweichendes vereinbart wird, gilt nichts anderes als für die Kontrolle arbeitsvertraglich in Bezug genommener Tarifverträge. Die Inbezugnahme nur einzelner tariflicher Regelungen lässt diese nicht an der Kontrollfreiheit nach § 310 Abs. 4 BGB teilnehmen. Ob die danach wiederhergestellte Kontrolldichte auch dann maßgebend ist, wenn ganze Regelungskomplexe in Bezug genommen worden sind – oder nach einer abweichenden Regelung im Übrigen als nicht zu kontrollierender Vertragsinhalt verbleiben –, ist zwar umstritten, aber im Ergebnis zu bejahen.21

Die zweite Konsequenz einer von AVR abweichenden Regelung ergibt sich unmittelbar aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. November 2012: Wer dem privilegierten Arbeitsrechtsregelungsverfahren des auf die Dienstgemeinschaft zugeschnittenen Dritten Weges und dessen Ergebnissen, die nach dem Willen der Kirche für jedes einzelne bei ihr angesiedelte Arbeitsverhältnis verbindlich sind, bewusst, wenn auch vielleicht nur punktuell ausweicht, verletzt die in § 2 AVR allgemein festgelegte und vom Bundesarbeitsgericht für diese Privilegierung verlangte Verbindlichkeit des Dritten Weges. Er verliert den aus dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht fließenden Anspruch auf staatlichen Schutz vor Arbeitskampfmaßnahmen zur Durchsetzung von Tarifverträgen.22 Und: Auch ein kirchlicher Träger, der im kirchlichen Regelungsbereich regelt, ohne hierzu durch eine kirchliche Regelungsordnung legitimiert zu sein, kann damit auch eine gesetzliche Öffnungsklausel nicht verwerten, die Regelungen der Kirche vorbehalten ist, wie z. B. § 7 Abs. 4 ArbZG.23 Ob dies für jede lückenhafte Übernahme der AVR gilt oder nur für solche, die in dem betreffenden geöffneten Regelungsbereich vom kirchlichen Regelwerk abweichen, ist offen, aus meiner Sicht aber im erstgenannten Sinne zu beantworten.