Buch lesen: «Jeder Frau ihre Stimme»
Dieses Buch ist auch allen kritischen, engagierten Menschen gewidmet, die hier nicht namentlich erwähnt werden konnten und auf deren Schultern die Fortschritte der letzten fünfzig Jahre ruhen.
Jeder Frau ihre Stimme
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Grütli Stiftung Katharina Strebel Stiftung UBS Kulturstiftung
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-497-1
ISBN E-Book 978-3-03919-959-4
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
Einführung Caroline Arni
1970er-Jahre Elisabeth Joris
Kritik am Patriarchat und Frauenbefreiungsbewegung Abtreibungsdiskussionen Frauenräume, Frauenberatung Lesben treten an die Öffentlichkeit Frauenkongress und Gegenkongress Eidgenössische Frauenkommission
Porträt: Margrith Bigler-Eggenberger
1980er-Jahre Anja Suter
Gleichstellungsartikel in der Verfassung Aktive Lesbenkultur, autonome Frauenräume Thematisierung von Rassismus und Gewalt gegen Frauen Erste Frau im Bundesrat Neues Eherecht Frauengesundheitsbewegung
Porträt: Rina Nissim
1990er-Jahre Fabienne Amlinger
Zählebige traditionelle Rollenverteilung Frauensession und Frauenstreik Letzter Kanton führt das Frauenstimmrecht ein Der «Brunner-Skandal» Institutionalisierung der Geschlechterforschung
Porträt: Antoinette Hunziker-Ebneter
2000er Jahre Leena Schmitter
Fristenregelung Widerstand gegen die Männerwahl in den Bundesrat Mutterschaftsversicherung Professionalisierung der Kinderbetreuung Internet fördert internationale feministische Vernetzung
Porträt: Anne Wegmüller, Rahel Imobersteg und Rahel Ruch
2010er-Jahre Angelika Hardegger
Vereinbarkeit von Beruf und Familie Care-Debatte #MeToo-Bewegung Landesweiter Frauen*streik Parlamentswahl wird zur Frauenwahl
Porträt: Christine Bühler
Nachwort Denise Schmid
Chronologie 1971–2021
Anhang
Am «Marsch auf Bern» 1969 erhebt Emilie Lieberherr (am Mikrofon hinter dem Transparent) ihre Stimme: «Wir stehen hier nicht als Bittende, sondern als Fordernde», ruft sie den rund 5000 Menschen, vorwiegend Frauen, auf dem Bundesplatz zu und skandiert: «Mänscherächt für beidi Gschlächt!»
Nichts versprochen, alles erkämpft
Caroline Arni
Endlich! Nicht zufällig ein Wort und ein Satzzeichen, und nicht zufällig dieses Wort und dieses Satzzeichen. Der Ausruf «Endlich!» passt, wenn etwas Ersehntes eintritt; er passt auch, wenn eine Anstrengung gelingt oder ein Versprechen eingelöst wird. In jedem Fall drückt er aus, dass etwas überfällig geworden ist. Und diese Überfälligkeit verknüpft das Wort fast unweigerlich mit dem Ausrufezeichen, das mehr als jedes andere Satzzeichen ein Gefühl zum Ausdruck bringt: Erleichterung, Genugtuung – und zuweilen auch Triumph.
Überfällig aber wird etwas, wenn ein Zeitpunkt überschritten und etwas nicht rechtzeitig eingetreten ist. Wenn die Zeit des Wartens umso länger geworden ist, je grösser Sehnen und Hoffnung waren, oder wenn Geduld strapaziert worden ist, weil es Widerstände zu brechen und Hindernisse zu überwinden galt. Beides war der Fall im Jahr 1971: Endlich wurden den Schweizer Staatsbürgerinnen ihre politischen Rechte zugestanden, 123 Jahre nach der Gründung des Bundesstaats und der Einrichtung des «allgemeinen» Stimm- und Wahlrechts auf eidgenössischer Ebene. Endlich, nachdem die grosse Mehrheit der Staatsbürgerinnen rund um den Globus – zum Teil längst – politische Rechte hatte.
Doch das mit der Überfälligkeit ist in dieser Sache kompliziert. 1971 wurde etwas gewährt, das nicht versprochen war, und es wurde etwas gegeben, das kein Geschenk ist. Nämlich ein Recht. In der Geschichte des Frauenstimmrechts darf man sich nicht täuschen: Beim Ausschluss der Frauen von den politischen Rechten handelt es sich nicht um ein Zuspätkommen aus Vergesslichkeit, nicht um Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit. Es liegt kein Betriebsunfall der Geschichte vor, kein Stottern im Motor der Moderne – sondern eine Entscheidung, wiederholt getroffen und bekräftigt. Denn die Geschichte der Rechte ist keine Agenda mit Deadlines, die eingehalten oder verpasst und nachgeholt werden. Es ist eine Geschichte von Kämpfen um Teilhabe an dem, wovon die Rechte handeln. Wie sie ausgeht, ist immer offen – auch heute.
Menschenrecht und Männerstaat
Es ist ja nicht so, dass, auch in der Schweiz, niemand auf die Idee gekommen wäre, Frauen als politische Subjekte anzusehen. Im Jahr 1833 – in Paris sind drei Jahre zuvor einmal mehr die Frauen mit auf die Barrikaden gestiegen und jetzt fordern sie dort ihre Freiheit – gründet in Stäfa Johann Jakob Leuthy eine Zeitschrift, die von nichts anderem handeln soll: «Wenn daher nur der Wahnsinn dagegen kämpfen kann, dass die Weiber auch Menschen sind und also Menschenrechte haben, so bleibt den Gegnern der Emanzipation der Frauen nur noch der Einwurf möglich, dass die Frauen vermöge ihrer geistigen und körperlichen natürlichen Anlagen nicht fähig sind, aktive Bürger im Staatenvereine zu seyn. Diesen Einwurf in seiner ganzen Nichtigkeit darzustellen, ist der Hauptzweck dieser Zeitschrift.»1
Neben dem programmatischen Leitartikel zum «Recht des Weibes» bot die erste und zugleich letzte Nummer Lektüre zur «Geschichte des weiblichen Geschlechts seit der ersten Bildung menschlicher Gesellschaften bis auf unsere Tage». Von Frauen in der Antike ist die Rede, von Kaiserin Catharina II., Madame Roland und Germaine de Staël-Holstein geb. Necker, von Herrscherinnen, Revolutionärinnen, Gelehrten also: Niemand soll behaupten können, Frauen seien qua Geschlecht unfähig.
Es wird natürlich trotzdem behauptet. So räumt zum Beispiel der Rechtsgelehrte Johann Caspar Bluntschli 1876 ein, die Frauen hätten durchaus das Recht, «gut regiert zu werden». Mehr aber wäre zu viel, denn auch Kinder hätten dieses Recht, und «dennoch leitet Niemand daraus ein Stimmrecht der Kinder im State [sic] ab». Das Regiertwerden nämlich verlange «keine besondere Fähigkeit», während die Kontrolle der Regierung «die persönliche Fähigkeit zur Ausübung» des entsprechenden Rechts voraussetze.2 Persönliche Fähigkeit ist nun aber bei Bluntschli alles andere als eine Frage der Person – dies würde ja auch dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts widersprechen. Es ist eine Frage des Geschlechts. Denn im Bereich des Politischen regiert eine Tatsache von besonderer Art: nämlich «die männliche Natur des States [sic], als der bewussten Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung des Volks, welche die Kraft des männlichen Charakters und Geistes nicht und niemals entbehren und nicht durch die Beimischung der weiblichen Empfindsamkeit und Schwäche verdorben werden dürfen».3
Ist also das Menschsein hinreichende Begründung für die aktive Staatsbürgerschaft, wie Leuthy argumentiert, oder gibt es eine Bedingung namens «Männlichkeit», wie Bluntschli behauptet? Diese Streitszene liegt offen da, seit die Rechte des homme et citoyen erfunden und verkündet und die Frauen – auch die Armen und Menschen anderer Hautfarbe, Religion und Geschichte – davon ausgenommen worden sind.4 Denn was heisst das? Doch nichts anderes, als dass es Menschen gibt, die nicht die Rechte von Menschen haben, weil Menschenrechte zwar universal, aber nicht alle Menschen fähig sind, sie wahrzunehmen. Einwurf und Einspruch gehen hin und her, von Anfang an ist alles da: das Postulat der Universalität, die ungleiche Verteilung von Rechten und die Kritik daran. Die Schieflage ist eingerichtet, der Streit angezettelt. Seither gibt es die, «die Rechte nicht haben, die sie haben, und Rechte haben, die sie nicht haben».5 1872 gründet Marie Goegg-Pouchoulin, Berner Patrizierin, zusammen mit Julie von May, Genfer Radikaldemokratin, die Association pour la défense des droits de la femme. Es gibt sie, die Frauenrechte, man muss sie nur verteidigen.
Immer schon …
Es gibt auch eine Ausflucht: die Idee vom geschichtlichen Fortschritt. Sie gewährt Aufschub. Man kann in Aussicht stellen, dass diejenigen, denen das Recht wegen Unfähigkeit verweigert wird, fähiger werden. Nicht alle können auf einmal berücksichtigt werden, heisst das, nur die einen nach den andern, nach Massgabe ihrer Reife. Oder: Es gibt verschiedene Sorten von Rechten, nicht alle können auf einmal wahrgenommen werden, nur eines nach dem andern, und das politische Recht ist die Krönung. Man kann auch den Kreis der Befugnisse schrittweise weiter ziehen: zuerst im Kirchen-, Schul- und Armenwesen, dann in allen Belangen der Gemeinde, dann im Kanton, dann auf Bundesebene. Dereinst das Ganze, aber zuerst die «Schulsachen», findet Carl Hilty 1897.6
Doch Demokratie wächst nicht wie ein einmal gesetzter und dann sich selbst überlassener Keimling in die Höhe und Breite. Sie ist ein umkämpftes Gut, wird verweigert und erstritten. Müssen sich die Frauen, fragt Iris von Roten 1959, wirklich sagen lassen, sie seien «für die politischen Rechte nicht reif genug»? Eine «Argumentiererei» sei das. Sie gleiche «aufs i-Tüpfchen der Bekämpfung der Volksrechte» im 19. Jahrhundert und sei auch nicht mehr wert: eine «ölige Mahnerei der Frauen zur Geduld», die nur schlecht puren Unwillen verbirgt.7 Also ist es umgekehrt: Die Männer sind nicht reif genug, die Rechte zu teilen, die ihnen doch nicht allein gehören.
Und wie passt die Idee des geschichtlichen Fortschritts überhaupt zur Schweiz? Hat nicht der neue Bundesstaat von sich behauptet, immer schon die alte Landsgemeinde gewesen zu sein?8 Auf dem Gedenkblatt, das die Einführung der Bundesverfassung vom 12. September 1848 visuell flankiert, überreicht wohl die Helvetia dem Volk die Verfassung. Aber hinter – und über – ihr steht der alte Eidgenosse, in seiner Hand den Lorbeerkranz, der über ihrem Kopf nur schwebt. In der modernen Schweiz ist das Neue auch das Alte. Und so wird der Bundesstaat männlich, wie es auch die alte Eidgenossenschaft war, als Mitsprache und Mitbestimmung nicht an das Individuum, sondern an Stand und Haus geknüpft waren.9 Hätte es jetzt anders kommen können, da Rechte nun an den einzelnen Menschen vergeben werden – und die Weiber auch Menschen sind?
Als Emilie Kempin-Spyri, Jura-Studentin im fünften Semester, 1886 dem Bundesgericht die Frage stellt, wie das gehen soll, dass die Frauen mitgemeint sind, wenn in den Gesetzen von den Pflichten des Staatsbürgers die Rede ist, nicht aber, wenn es um die politischen Rechte geht; wie es also sein kann, dass unversehens aus einem generischen ein spezifisches Maskulinum werden kann (und wie man dann eigentlich wissen soll, wann was der Fall ist), lautet die Antwort: Wenn die Frau Kempin-Spyri aus der Verfügung der Bundesverfassung, es gebe in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, die «volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter» folgern wolle, so sei das eine Auffassung «ebenso neu als kühn» und genau deshalb nicht zu billigen: Sie verstosse gegen nichts weniger als die «gesammte geschichtliche Entwicklung».10
… und immerdar
Nicht nur in der Schweiz wird weibliche Unfähigkeit behauptet, um damit den Ausschluss der Frauen zu begründen. Aber hier ist dieser überdies historisch beglaubigt. So alt wie das republikanische Prinzip der «Gleichen unter Gleichen» ist in der Schweizer Geschichte dessen Verkörperung durch die Männer. Die Entwicklung, von der das Bundesgericht spricht, verbindet also Herkömmliches und Neues miteinander. Sie meint nämlich: immer mehr Männer. Und je weiter die Kreise unter diesen gezogen werden (von den Gemeindebürgern auf die Hintersassen und Zugezogenen, von den Stadtbürgern auf die Landbewohner, von den Hablichen auf die wenig Bemittelten, von den Christen auf die Juden), desto schwieriger wird es für die Frauen.
Jedes Mal, wenn sich berufen wird auf Urkunden oder das natürliche Recht, wenn die Hebel angesetzt werden zu mehr Freiheit, die allen gehören soll, damit daraus mehr Gleichheit erwachse, jedes Mal haben Frauen Anlass zur Frage: «Und wir?»11 Und jedes Mal, wenn mehr Demokratie unter Männern gelingt, verlieren sie mögliche Verbündete.12 Immer grösser wird das Paradox, das Julie von May 1872 auf den Punkt bringt: «[D]as mündigste Volk Europa's [sic] betrachtet und behandelt seinen weiblichen Bestandtheil, wenn nicht völlig konsequent im Leben, doch vor dem Gesetz und in der Sitte, als das unmündigste Kind.»13
Auch in den 1860er-Jahren melden sich Frauen zu Wort. Eine Bewegung – die Historiker werden sie die «demokratische Bewegung» nennen – verlangt im Namen des «Volkes» mehr Mitsprache, eine direkte, nicht nur eine repräsentative Demokratie. Blitzschnell werfen die Sissacherinnen ein: «Die Frauen werden ja wohl auch zum Volke gezählt werden.»14 Einige Jahre später unterzeichnen im Zürcher Oberland «mehrere Frauen aus dem Volk» ihrerseits eine Petition. Sie klagen an: Eine «allseitige Erweiterung der Volksrechte» werde verkündet, gross täten die «grossen Männer der Schöpfung», und keiner spreche von den Frauen, «niemand gedenkt ihrer verkümmerten und unterdrückten Menschenrechte».15
Zu hoffen wagen sie nicht, die Zürcherinnen, dass die Männer zur Einsicht kämen oder doch wenigstens «etwas mehr Bescheidenheit in ihren privaten und öffentlichen Freiheitsmanifestationen» an den Tag legen möchten. Denn sie halten die Menschenrechte für unteilbar und verlangen «Wahlberechtigung und Wahlfähigkeit für das weibliche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten und Beziehungen». Fast hätten die Sissacherinnen ein paar Jahre früher dasselbe gefordert. Zumindest gingen so damals die Gerüchte im Baselbiet, weshalb die aus dem Waldenburgertal verlauten liessen: «Zwar verlangen wir nicht allgemeines Stimmrecht, statt dessen aber: 1) dass unsere Unterschrift gesetzliche Gültigkeit habe ohne Beistand, 2) gleichmässige Teilung der Hinterlassenschaft; 3) dass wir leichter freie Mittelverwaltung erlangen können.»16
Wenn es also Menschenrechte gibt, dann gibt es auch Frauenrechte. Sie sind unteilbar, und dennoch wird nicht immer alles gefordert. Nicht das eine, aber das andere, nicht das Stimmrecht, aber Mündigkeit und Gleichbehandlung in ökonomischen Belangen. Aus welchen Gründen? Ist das Resignation? Taktik? Vorsicht? Oder aber: Jede Forderung in der Geschichte der Frauen ist auch eine Analyse. Sie bringt eine Situation zur Sprache und deckt Zusammenhänge auf. Niemand behauptet ja, die Frauen seien keine Menschen – also Tiere zum Beispiel oder Pflanzen. Allerdings seien sie etwas weniger fähige Menschen, unmündig, das wird behauptet. Und diese Unmündigkeit wird genau dort verfügt, wo es um Unterschriften, das Erben und die Mittel geht.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stellt sich nämlich die Frage, ob auch die Frauen als individuelle Rechtssubjekte anzusehen sind. Hier wird es zu Änderungen kommen. Ausser in genau einem Fall, für den, wie der Rechtsgelehrte Eugen Huber 1886 schreibt, gilt, dass der Mann «immerdar das entscheidende Wort zu sprechen haben» wird – dieser Fall ist die Ehe.17
Mehr als das Stimmrecht
Bevor Frauen in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts Vereine gründen, um das Stimmrecht für sich einzufordern, ist also etwas anderes dringlicher. Julie von May bringt es 1872 mit Blick auf die anstehende Totalrevision der Bundesverfassung auf den Punkt: «die unbedingte Gleichstellung der Frau mit dem Manne in allen sozialen und privatrechtlichen Verhältnissen». Ausformuliert heisst das: gleiche Ausbildung, gleicher Lohn bei gleicher Arbeit, gleiches Erbrecht, gleiches Eigentums-, Verwaltungs- und Verfügungsrecht, Vermögensunabhängigkeit der Ehefrau vom Ehemann, Gleichheit im ehelichen Erbrecht und gleiche elterliche Rechte für die Mütter. Die «politischen Rechte» nimmt von May explizit aus. Stattdessen: «Alles was uns fehlt und […] Alles was uns bis jetzt verweigert worden ist.»18
In einem gewissen Sinn ging es hier tatsächlich um alles. Ohne zivile – also ökonomische und soziale – Rechte wurden die Frauen zu Wesen erklärt, die ohne Männer nichts sind, weil sie nicht mal über ihr Eigenes verfügten. Nicht über ihre Güter, nicht über ihr Handeln. Von hier ging alles aus, und hier war alles verkehrt. Denn Frauen trugen ja doch bei zum Lebensunterhalt einer Familie, als Heimarbeiterinnen, bestritten ihn manchmal auch allein, als Ledige oder Witwen, sie erbten Bauerngüter, betrieben Gewerbe. Überall war ihre Arbeit und waren ihre Vermögen die ihren, und doch waren sie es nicht: Für Verheiratete handelte der Ehemann, für Unverheiratete ein behördlicher Vormund. 1846 und 1847 schon haben Bernerinnen zwei Petitionen zur Abschaffung der sogenannten Geschlechtsbeistandschaft vorgebracht, die erste zurückhaltend, die zweite, aus dem Emmental, spricht von «Freiheit» und «Emancipation».19 Sie erhielten Recht, andere Kantone folgten, aber erst 1881 verfügte der Bund für alle Kantone die «persönliche Handlungsfähigkeit» der unverheirateten Frauen.
Nur der unverheirateten. Den verheirateten Frauen bescheidet Eugen Huber 1881 im Vorgriff auf das Schweizerische Zivilgesetzbuch, das 1907 verabschiedet und 1912 in Kraft treten wird, sie sollen zwar wie die ledigen Frauen «handlungsfähig sein, aber gewisse Handlungen nicht vornehmen dürfen». Vor allem ihre Erwerbstätigkeit untersteht der Einwilligung des Ehemannes.20 Fast überall in Europa werden zu diesem Zeitpunkt neue Privatrechtskodifikationen geschaffen oder bestehende revidiert, und die Frauen wissen, wo es um alles geht. Sie lassen sich ausbilden in den Rechtswissenschaften, mischen sich ein, schreiben und argumentieren. In der Schweiz verlangen sie Einsitz in die vorbereitende Kommission, wo manche Mitglieder schon Hubers Entwurf zum neuen Zivilgesetzbuch «zu feministisch» finden.21 Man lässt die Frauen nicht an den Tisch, und am Schluss entscheidet das Bundesparlament, zusammengesetzt aus Männern. Für die Ehe gilt bis auf Weiteres: «Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft.»22
Arbeiterinnen sind sie alle
Aber die Frauen wirtschaften weiter, die verheirateten und die unverheirateten, gegen Lohn oder unbezahlt, ausgebildet oder angelehrt. Und manchmal legen sie die Arbeit nieder. 59 Zigarrenarbeiterinnen sind es in Yverdon, vom 23. Mai bis zum 1. Juni 1907. Sieben von ihnen haben eine Gewerkschaftssektion gegründet, werden entlassen, da treten die anderen in den Streik. Erst als sie auf Entschädigung aus der Streikkasse verzichten, nimmt die Gewerkschaft der Lebens- und Genussmittelarbeiter sie auf. Währenddessen gewährt der Fabrikdirektor der nun dringend benötigten männlichen Belegschaft genau die Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung, welche die Arbeiterinnen verlangen.
Ausserdem, heisst es, habe er die städtische Krippe angehalten, die Kinder der Streikenden nach Hause zu schicken. So können die Frauen keine Arbeit anderswo annehmen.23 «Vier mal Sklavin ist heute die in Abhängigkeit arbeitende Mutter», steht in der Zeitung der Arbeiterinnen. Vier Mal: Sklavin des Unternehmers (der sie aussperrt und ihr den Erwerb an ihrem Wohnort verunmöglicht), Sklavin des Mannes (der über den Wohnsitz der Familie verfügt und sie fernhält vom Erwerb andernorts), Sklavin des Kindes (das ihre stete Aufmerksamkeit verlangt und sie an die Wohnung bindet), Sklavin des Staates (der Steuern von ihr fordert – «und Soldaten! und der diese Soldaten, ihre eigenen Kinder, mit ihrem eigenen gesteuerten Geld gegen sie führt, wenn die Frau aufsteht für ihr Recht»). Vier Mal verfügt sie nicht über sich, ist eine Festgesetzte in Raum und Zeit. Wie alles miteinander zusammenhängt und im Fieber der Ereignisse deutlich wird!
Manchmal legen sie die Arbeit nieder, und manchmal werfen sie auf dem Markt Gemüsekörbe um. Wem, wenn nicht ihnen, fällt auf, wie die Lebensmittel teurer werden, in den Kriegsjahren. Zu teuer für die in den Städten, die ohnehin zu wenig haben.24 Sie kochen und verwalten das Familienbudget, sie kennen und nehmen das Mass der Preise. 1916 geht es nicht mehr. Sie werfen die Körbe um, setzen die Preise selbst fest, den Erlös übergeben sie den Marktfrauen. 1918 kommt es zu «Hungerdemonstrationen»; jetzt unterstützen die bürgerlichen Frauen die Frauen aus der Arbeiterbewegung. Dass sie Töpfe und hungrige Mägen füllen müssen, verbindet sie. Auch mit den Bäuerinnen. Im Broyetal gründen 39 Frauen die Association des productrices de Moudon, um den Zwischenhandel auszuschalten, der die Dinge verteuert. Es gilt, Fugen zu schliessen zwischen Produktion, Verteilung und Verbrauch. Vielleicht auch: Ketten aus Frauen zu bilden, einen anderen Kreislauf einzurichten. Die Bäuerinnen aus Moudon werden verlacht, ein Leserbrief nennt sie «ces dames qui produisent».25 Als wäre Widersinn, was man nicht wahrhaben will.
Denn das verbindet fast alle: Was die Frauen tun, in der Fabrik, in den Haushaltungen, an den Küchentischen, die zum Strohflechten so gut sind wie zum Gemüserüsten, zum Beaufsichtigen der Hausaufgaben der Kinder so gut wie zum Nachführen der Rechnungsbücher, was sie tun, ist selbstverständlicher Teil des Überlebens und guten Lebens von Familien. Das, wofür sie Geld erhalten, und alles andere auch. «Deshalb», schreibt Betty Farbstein 1910, «sollte auch die Hausfrau Anspruch haben auf eine angemessene Entschädigung, über die sie nach Gutdünken verfügen kann».26 Stattdessen verschwindet das alles mehr und mehr hinter dem Trompe-l’Œil des männlichen «Alleinernährers». In der Statistik werden die Frauen zu «Abhängigen» oder «Ernährten».
Nichts könnte falscher sein. Sofort wird Einspruch eingelegt: Wo wäre die Volkswirtschaft ohne die Arbeit der Frauen? 1928 organisieren ihre Verbände und Vereine eine «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit», die sie 1958 wiederholen werden. Und damit nicht alles und jedes über sie behauptet werden kann, nehmen sie das Argumentieren mit Zahlen in die eigenen Hände, rechnen, deuten und erstellen Studien. Es gibt die Arbeit der Frauen, sagt Margarita Schwarz-Gagg, erste Frau in der eidgenössischen Fabrikkommission, und sie ist normal. Oder gilt doch etwas nur für sie? «Die Frauenarbeit hat kein Mass und keine Zeit», hatte Betty Farbstein 1910 geschrieben.27