50 Jahre Speech-Acts

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3 Zweiter Akt: Katz-und-Maus und Hase-und-Igel

Schauen wir uns die folgende Fußnote in einem Aufsatz des (Politikers und) Politolinguisten Josef Klein an:

Ohne dafür im Einzelnen eine methodologische Rechtfertigung zu geben, wird in diesem Beitrag versucht, Erkenntnisse und methodische Zugriffe aus den einschlägigen wissenschaftlichen Kontexten integrativ zu verknüpfen, insbesondere empirische linguistische Hermeneutik (vgl. Hermanns/Holly 2007), medienwissenschaftliche empirische Rezeptionsforschung, zeithistorische Politikanalyse, TV-bezogene Audiovisualitätsanalyse, Frame-Analyse, linguistische und rhetorische Argumentationsanalyse, politolinguistische Sprach- und Kommunikationskritik. (Klein 2015, S. 240)

Interessant ist: In der Auflistung gibt es keine Sprechakttheorie. Klein, der ansonsten sprechakttheoretischen Beschreibungen eigentlich zugeneigt ist und auch regen sowie schnellen, unkomplizierten Gebrauch von Kapitälchen- bzw. Majuskelauszeichnungen macht, hat offenbar genug von einer rein deduktiven SAT, aber auch von einer dogmatisch induktiven Gesprächsanalyse (GA):

So sehr sich eine theoretisch und methodisch reflektierte Analyse vor theorievergessener Datenfixierung hüten sollte, ebenso sehr sollte man die Tendenz zur datenvergessenen Typisierung meiden, wie sie – nicht immer zu Unrecht – der Sprechakttheorie vorgeworfen wird. (Klein 2015, S. 242)1

Hier versteckt sich SAT, aber nur halb. Sie wird gejagt, aber nicht vertrieben. Die Vorhaltung der datenvergessenen Typisierung markiert bei diesem Versteckspiel die wichtigste Spielregel: Ich möchte nicht festgelegt sein bei meinen Analysen auf deduktiv entworfene Typologisierungen bzw. Klassifikationen, weil meine erkenntnisfördernde Beschäftigung mit Mustern sprachlichen Handelns dadurch zu stark beeinträchtigt wird und ich stattdessen lieber – und ja auch zurecht – zu relevanten (und interessanten) Beschreibungen von Phänomenen und nicht zu logisch deduzierten Entwürfen begrifflicher Systeme gelangen möchte. Kurz: Eine theoretische Orientierung soll mich nicht behindern, sie soll mich vielmehr fördern. Es steht also im Grunde die Brauchbarkeit der SAT auf dem Spiel.

Folgend möchte ich mich in den beiden aktuellsten Pragmatikheften der Zeitschrift Der Deutschunterricht (nämlich: Liedtke/Wassermann 2019 und Niehr/Schlobinski 2017) auf SAT-Suche begeben. Die Idee dabei ist: Wenn SAT als eine pragmatische Richtung irgendeine gefestigte Analyserelevanz besitzt (also eine Brauchbarkeit bei der Analyse authentischer Sprachdaten), darf man sie in einer Zeitschrift erwarten, die genau solche Eignung als Analyseinstrumentarium in den Mittelpunkt stellen müsste. Und falls SAT dort irgendwo vorkommt: wie und mit welcher Ausrichtung? Festzustellen ist zunächst einmal, dass SAT in den Aufsatztiteln beider Hefte nicht (oder vielleicht doch ein einziges Mal, s.u.) vorkommt, auch wenn auf dem Cover von Liedtke/Wassermann (2019) in Form einer stehenden Laufschrift zu lesen ist: „Indirekte Kommunikation │ Interkulturelle Missverständnisse │ Sprechakte │ Implikaturen“. Bei Niehr/Schlobinski (2017) hingegen: „Hermeneutik │ Gesprächsanalyse │ Sprechhandlungsanalyse │ Foucault’sche Diskursanalyse.“

3.1 SAT in der GA? Zwei Mikrobeispiele rund um tja und denn

Günthner/Wegner (2017) zeigen in ihrem Aufsatz mittels Beispielanalysen von Ausschnitten aus schulischen Sprechstundengesprächen, wie die Konversationsanalyse (folgend auch als GA geführt) die Fragen angeht,

wie soziale Phänomene von Interagierenden erzeugt werden, mittels welcher sprachlich-kommunikativer Verfahren sie die soziale Wirklichkeit, in der sie leben und die sie erfahren, also konkret konstruieren. (Günthner/Wegner 2017, S. 38)

Greifen wir uns eine dieser Analysen heraus. Der folgende Ausschnitt stammt aus „einem Gespräch an einer Gesamtschule“ (Günthner/Wegner 2017, S. 41). Hier „informiert der Lehrer die Mutter über die negativen Resultate ihrer Tochter Jessi in den Klausuren“ (Günthner/Wegner 2017, S. 40). Von Interesse ist insbesondere das in diesem Transkript­ausschnitt 3 vorkommende tja in der Intonationsphrase 009, darauf werden wir am Schluss der Besprechung der Analyse dieses Ausschnittes wieder zurückkommen:

Abb. 2:

Beispiel aus Günthner/Wegner (2017, S. 41)

In den Analysebemerkungen zu dieser Stelle (vgl. Günthner/Wegner 2017, S. 40f.) finden sich zunächst die folgenden (hier nicht bloß sinngemäß wiedergegebenen) Zuschreibungen (durch Fettdruck hervorgehoben sind die dort jedenfalls so vorkommenden Formulierungen):

 L stellt eine Frage, worüber M informiert werden möchte (001)

 M kommuniziert ihr Anliegen (003–004)

 M legt dar, dass sie Informationen dazu haben möchte, ob sich ihre Tochter verbessert habe (003) und ob sie mehr am Unterricht teilnehme (004)

 L beginnt in 008 die Übermittlung der Nachricht

 L bricht vor einem syntaktischen Abschlusspunkt ab (Aposiopese) und formuliert dann weiter keine Beurteilung oder Bewertung

Diese ersten Analysezugriffe auf das Geschehen sind sehr interessant. Es wird hier nämlich – ganz im Gegenteil zum Modell des gegenseitigen Aushandelns von Sinn und des gemeinsamen Konstruierens von Wirklichkeit – ein einfaches Containermodell der Kommunikation bedient: L und M übermitteln oder kommunizieren sich gegenseitig Informationen bzw. Nachrichten. Man könnte nun sagen, das sei einer gewissen didaktischen Reduktion geschuldet. So verstehe man erst einmal ganz unbefangen, was hier als Geschehen rekonstruiert wird.1 Aber dann heißt es weiter (und nun kommen wir zu tja):

Auffällig ist, dass die Mutter die Äußerung dennoch als eine in pragmatischer Hinsicht vollständige behandelt und damit die Interpretation als Aposiopese (und nicht etwa als Anakoluth) bestätigt: Mittels eines sehr leise geäußerten „tja“ (Z. 009) tut sie ihr Bedauern ob der Tatsache kund, dass es sich ganz offensichtlich um eine schlechte Leistung des Kindes handelt, und liefert damit eine „Verstehensdokumentation“ (Deppermann/Schmitt 2009) des Gesagten. Sie verdeutlicht also, dass sie in der Lage ist, das von der Lehrkraft nicht Explizierte zu inferieren. (Günthner/Wegner 2017, S. 40)

Zweifelsohne ist die Analyse alles andere als unplausibel. Aber ebenso zweifelsohne ist sie alles andere als methodisch abgesichert. Woher will man als Analysierende wissen, dass M hier mit dem leisen tja Bedauern ausdrückt (i. Ü. versteckt sich auch hier die SAT: BEDAUERN AUSDRÜCKEN ist ein expressiver Sprechakt par excellence)? Wie sollen SchülerInnen oder auch Studierende zu dieser Analyse gelangen können? Das gilt nicht nur hier. Auch die Frage, ob M ein Anliegen hat, darf gerade im Hinblick auf den für Eltern sicher nicht immer präferierten Gesprächstyp Sprechstundengespräch wohl noch einmal neu gestellt werden: Hat M ein Anliegen oder muss sich M irgendetwas einfallen lassen nach der (auf mich beim Lesen, aber nicht unbedingt auch auf M in der Interaktion krude wirkenden) Frage in 001, um nicht nichts zu sagen? Dann hat sie kein Anliegen, sondern sie wurde dazu gedrängt, sich eines einfallen zu lassen, damit das Gespräch weitergehen kann (eine alternative Variante wäre ja, dass L einfach erst einmal alles sagt, was aus L’s Sicht wichtig wäre zu wissen über Jessi und ihre schulischen Leistungen). Noch einmal: Diese Analyse ist plausibel, aber sie ist nicht methodisch transparent und genau das könnte ein Problem für SchülerInnen und Studierende sein oder werden. Das trifft auch auf die GA-Analyse als Verstehensdokumentation zu. Wie kommt man zu der Analyse, dass sie in der Lage ist, das nicht Gesagte inhaltlich zu inferieren? Woher kommt die (bei SchülerInnen und Studierenden ja nicht vorauszusetzende) Sicherheit bei diesen Funktionszuschreibungen? Man kann dies auch anders formulieren: Hier werden Funktionen auf der Basis der gut geschulten Intuition professioneller Analysierender zugeschrieben, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, wie man das macht. Empirisch ist diese Analyse hier an der Stelle nur deshalb, weil sie sich auf erhobene Daten bezieht. Nicht aber etwa deswegen, weil sie methodisch mit diesen Daten transparent umgeht. Das ist nicht zu verteufeln, aber dann ist auch nicht zu verteufeln, wenn die SAT überlegt, was ein Vorwurf sein könnte. Und – das werde ich weiter unten vorschlagen – man kann diese beiden Zugriffe auch als aufeinander abstimmbare komplementäre Methoden kombinieren.

Ich möchte nicht dahingehend missverstanden werden, die Günthner’schen Beschreibungen ganz generell für verfehlt zu halten. Ganz im Gegenteil. Ihre Analysen zeichnen sich in der Regel durch eine wünschenswerte Klarheit aus, durch den Willen zur adäquaten und auch explizit reflektierten Beschreibung natürlichsprachlicher Daten aller Art. So schreibt sie in einer früheren Arbeit zu Vorwurfshandlungen im Rahmen der Frage, wie man Vorwurfshandlungen überhaupt findet in den Daten:

Sich bei der Identifikation von Vorwurfspassagen auf jene Sequenzen zu konzentrieren, die von Teilnehmenden explizit als „Vorwurf“ bezeichnet werden [also sog. Ethnokategorien; Anmerkung des Verfassers], erweist sich als ungenügend, da zum einen nur in wenigen Fällen Vorwürfe explizit als solche markiert werden, und zum anderen […] Interagierende sich gelegentlich bei der Zuordnung einer „Äußerung“ als „Vorwurf“ nicht einig sind, bzw. gelegentlich ihre Äußerungen mit „das ist jetzt kein Vorwurf, aber …“ einführen, doch diese vom Gegenüber als Vorwurf interpretiert und behandelt werden. Folglich ist es unumgänglich, zunächst einmal über einen Vorbegriff von „Vorwurf“ sämtliche untersuchungsrelevante Sequenzen aus dem Datenmaterial herauszufiltern. Da dieser Vorbegriff im Fortgang der Untersuchung durch empirisch begründete Bestimmungen ersetzt wird, genügt als Vorbegriff eine alltagssprachliche Bestimmung, wie „Kritik am Verhalten einer anwesenden Person“. (Günthner 2000, S. 52)

 

Wahrscheinlich wird man sich recht schnell darauf einigen können, dass nicht jede Kritik am Verhalten einer anwesenden Person ein Vorwurf sein muss. Man wird also – wenn man mit dem Versprechen der empirisch begründeten Bestimmungen ernst macht – zu einer engeren Fassung des Vorwurfsbegriffs gelangen müssen. Der eigentliche Punkt ist: Wenn man Vorwurf durch ‚Kritik am Verhalten einer anwesenden Person‘ bestimmt, muss man – sonst kann diese als alltagssprachlich hingestellte Bestimmung nicht funktionieren – auch sicher sein können, was eine Kritik ist (und natürlich auch, was genau alles als Verhalten gilt, in welcher Form diese Person anwesend sein muss usw.). Und je mehr man sich mit diesem alltagssprachlichen Vorwurfsbegriff beschäftigt, umso differenzierter wird die dann klar sprechakttheoretische Arbeit – man wird hier also von einem sprechakttheoretischen Fundament sprechen können, das gelegt werden müsste. Das Problem nun ist, dass dafür kaum Operationalisierungen vorliegen. Schauen wir uns ergänzend einen Transkriptausschnitt mit Analysebemerkungen dazu aus Günthner (2000) an (das erste längere Analysebeispiel in dem Buch):

Abb. 3:

Transkriptausschnitt und Analysebemerkungen dazu (Scan-Zitat aus Günthner 2000, S. 75)

Wie kommt man zu der Analyse, dass in Z. 23–25 ein Vorwurf, also eine Kritik am Verhalten einer anwesenden Person vorliegt? Die anwesende Person ist du, also die angeredete Clara, ok. Das fragliche Verhalten ist hast … nichts gesagt, ok. Aber wo ist die Kritik? Hier spielen zwei Analyseressourcen eine Rolle: erstens das intuitive Verständnis der Analysierenden und zweitens das Wissen (und eigentlich auch Verstehen), dass zum Vollzug von Vorwurfshandlungen warum-Fragen (die in der genannten Schrift dann folgend auch eine wichtige Rolle spielen) und bestimmte Partikeln (hier denn2) anzusetzen sind – also stabile Vorstellungen über Realisierungsmöglichkeiten bestimmter Sprechakte, über illokutionäre Indikatoren. Man kann Z. 23–25 ansonsten auch sehr gut (und das heißt: an der wahrnehmbaren Oberfläche) als Begründungsfrage ansehen, auf die es im i. Ü. ja auch die – aufgrund konditionaler Relevanz erwartbare – begründende Antwort gibt: Clara nennt den fraglichen Grund, warum sie nichts gesagt hat und markiert dies auch deutlich mittels eines selbstständigen weil-VL-Satzes in Z. 26. Dass dies eine Entschuldigung sei, die die Interpretation der warum-Äußerung als Vorwurf verdeutliche, ist also ebenfalls nicht methodisch eingelöst. Auch hier gilt: Die Analyse ist nicht unplausibel (allerdings könnte es sich auch gut um ein inszeniertes Vorwurf-Entschuldigungs-Spiel Babs gegenüber handeln). Aber sie kommt eben auch nicht ohne die gezielt eingesetzte Intuition der Analysierenden aus, die hier – und zwar letztlich unabhängig von etwaigen Aufzeigehandlungen der Interagierenden – etwas als Vorwurf verstehen (können/wollen).

Schauen wir als nächstes, ob sich die SAT in der FP (= Funktionalen Pragmatik) versteckt.

3.2 SAT in der FP? Ein Mikrobeispiel rund um die Ankündigung Die Frage ist …

In dem Aufsatz von Redder (2017) zur Diskursanalyse – handlungstheoretisch (so der Titel) werden zunächst die Tradition (Abschnitt 1) und die theoretische Basis (Abschnitt 2) behandelt. Man findet dort (hier schnipselartig zusammengestellt) ein paar Bezüge zu namhaften Größen, deren Ansätze die FP dann weiterentwickelt habe:

[…] revolutionäre Einsicht von John L. Austin […] der Ausdrucks- und Sprachpsychologe Karl Bühler […] Nach Austin ist besonders Speech Acts (1969) seines US-amerikanischen Schülers John R. Searle bekannt. […] Eine konsequente Fortführung der skizzierten handlungsanalytischen Ausführungen von Austin sowie Bühler liegt in der Funktionalen Pragmatik vor, einer durch Konrad Ehlich und Jochen Rehbein in den 1970’er Jahren begründeten Handlungstheorie von Sprache […]. Im Unterschied zu anderen pragmatischen oder diskursanalytischen Ansätzen bleibt die Illokution als eine der wesentlichen Dimensionen sprachlichen Handelns erhalten und wird im komplexen interaktiven Handeln als sprachliche Wirklichkeit rekonstruiert. Sprache hat nämlich ihre Existenzform in der konkreten sprachlichen Handlungspraxis, genuin im mündlichen Diskurs. (Redder 2017, S. 21f.)

Auch wenn sich hier nicht alle Dinge sogleich erschließen (das betrifft beispielsweise den genauen Verknüpfungssinn des Konnektors nämlich im letzten Satz), so ist eines in Bezug auf die Namen sicher auffällig: Aus Austin+Bühler+Searle als Tradition begründende Ahnengemeinschaft wird wenig später Austin+Bühler. Die Frage ist: Wo ist Searle geblieben? Dass dies nicht unbedingt ein bloß textstilistisches Kürzen oder eine Unachtsamkeit sein muss, wird klar, wenn man den folgenden abgrenzenden Satz zur Kenntnis nimmt:

Verglichen mit Austins rechtspraktisch angeregten Überlegungen zur Interaktion betreibt er [d.i. Searle; d. Verf.], stimuliert durch sprechhandlungsbezeichnende Verben, eine Sprechhandlungssemantik. (Redder 2017, S. 21)

Auch wenn nicht unbedingt sofort klar sein dürfte, was genau eine Sprechhandlungssemantik sein soll (was ist die Semantik einer Sprechhandlung bspw. im Unterschied zu einer Äußerungssemantik oder einer Semantik sprechhandlungsbezeichnender Ausdrücke?), so wird hier aber klar: Searle hat mehr mit Semantik zu tun, wohingegen Austin und Bühler eher die eigentlichen Ahnherren für eine – mal ad-hoc-gebildet – Sprechhandlungspragmatik sind. Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass sich Searle eher mit der Bedeutung von Ausdrücken als mit Interaktionen beschäftigt (was richtig ist und auch einen der wichtigsten Pfeiler sprechakttheoretischer Beschreibungsansätze darstellt), wohingegen Austin und Bühler mehr auf den Gebrauch abzielen (wenngleich sie natürlich auch nicht Sprachgebrauch i. e. S. untersuchen).

Betrachten wir auch hier ein Beispiel (es handelt sich um „einen mehrsprachigen Ausschnitt aus einer unterrichtsexternen Aufgabenstellung an eine Mathematikfördergruppe des 7. Jahrgangs im Zuge einer Interventionsstudie“ (Redder 2017, S. 28)):

Abb. 4:

Beispielausschnitt aus dem Diskursausschnitt B1 in Redder (2017, S. 29)

Redder schreibt dazu:

Die mündlich formulierte Aufgabenstellung von FLMC erfolgt in Segment22 #131. Bei differenzierter, propositionaler und illokutiver Betrachtung muss man die Äußerung in zwei Teilsegmente zerlegen, nämlich in die ‚Ankündigung‘ (Rehbein 1981)23 („Sorunuz şu:“) und die ‚Aufgabenstellung‘ im engeren Sinne. Insofern erfolgt ein diskursiv sorgfältig abgesicherter Einstieg in das Handlungsmuster ‚Aufgabenstellen-Aufgabenlösen‘. […] Im Diskursausschnitt (B1) wird das Muster einer ‚Erläuterung‘ (Bührig 1996)24 initiiert, um ein zentrales propositionales Element der Aufgabenstellung, den Ausdruck ‚zar‘, im gemeinsamen Diskurswissen abzusichern (#132: […]).

[Die Fußnoten dazu lauten:]


(22)Hier liegt eine erste grobe, digital unterstützte Segmentierung im Sinne von Rehbein et al. (2005) vor.
(23)Eine Ankündigung dient der Synchronisierung von Handlungsplänen und Sicherung kooperativer Handlungsbereitschaft des Interaktanten.
(24)Mittels einer Erläuterung wird so viel Wissen für einen Hörer nachgeliefert, wie dieser für die gemeinsame, verständige Diskursfortführung benötigt. Die mentale Antizipation des unzureichenden H-Wissens durch S wird hier in Form einer Frage verbalisiert, sodass eine diskursive Bearbeitung erfolgt. (Redder 2017, S. 30)

Die spannende Frage (die auch SchülerInnen und Studierenden zugetraut werden dürfte): Wie betrachte ich das Segment #131 differenziert, propositional und illokutiv? Und was kommt dabei raus? Das Transkript selbst legt eine Interpretation dieser Stelle bereits nahe, nämlich die, dass es sich bei Sorunuz şu: um eine einen neuen Satz beginnende Einheit handelt, die aber – und das zeigt der Doppelpunkt an – dem restlichen Satz gegenübergestellt ist. In der deutschen Übersetzung handelt es sich dabei um einen valenziell unvollständigen Satz, bei dem nur das Prädikativ zu der Kopula realisiert ist (zusammen: die Frage sein) und das Subjekt fehlt (also: Was ist denn nun die Frage?). Dadurch wird syntaktisch eine Erwartungshaltung aufgebaut (mit Auer: eine Projektion eröffnet), die der restliche Satz dann auch einlöst (es folgt das satzförmige Subjekt), das durch die W-Fragesatzform zudem propositional direkt an Frage anschließt. Vielleicht ließe sich eine solche Beschreibung zumindest als differenziert betrachten. Nun charakterisiert Redder diese Stelle mit Rehbein (1981) als Ankündigung und liefert dazu in Fußnote 23 eine Definition, die auf Sprachplanungs- / Sprachproduktionsprozesse abzielt (Auer (2000): Projektion, Günthner (2008): Projektorkonstruktion). Von einer Ankündigung zu reden, ist sowohl alltagssprachlich als auch sprechakttheoretisch nicht ganz unproblematisch oder zumindest auf den ersten Blick irritierend1, weil es sich hier ja um die Funktionszuschreibung zu einer Einheit beim Aufbau einer syntaktischen Konstruktion handelt und nicht um eine durch eine sprachliche Äußerung vollzogene eigenständige Handlung. Um Sprechhandlung sein zu können, bedürfte es schon einer potenziell selbstständigen funktionalen Einheit (vgl. Fiehler 2016, S. 1240–1243). Was Redder hier im Blick hat, ist in der Systematik Fiehlers eine projizierende funktionale Einheit. Insofern man die Ankündigung als Ankündigung der gleich folgenden Frage versteht, kann sie zwar als illokutionärer Indikator (als Handlungsverdeutlichung) angesehen werden. Der Operator zeigt dann die Illokution des Ganzen an, ist selbst aber nicht eine separat durch Ankündigung zu erfassende Sprechhandlung auf derselben Ebene. Innerhalb der FP-Methodik, sowohl die sprachlichen Oberflächen als auch die mit ihnen verbundenen Handlungsabfolgen funktional bis zu den allerkleinsten Einheiten zu zerlegen, macht es natürlich Sinn, eine solche Funktion zu definieren und durch einen Terminus wie Ankündigung greifbar werden zu lassen. Dieser Terminus aber – und das ist dann doch etwas problematisch – sieht so aus, als ließe er sich an sprechakttheoretische Beschreibungen andocken (die sich ja gerade darum kümmern, was ANKÜNDIGUNGEN sind), was aber nicht der Fall ist. Und in der Tat ist die Fußnote 23 ja überhaupt nicht auf Sprechaktbeschreibungen bezogen. An die oben im Zitat erwähnte Bührig’sche Erläuterung ließen sich ähnlich kritische Bemerkungen anschließen.

Auch hier gilt wieder: Die Beschreibungen sind alles andere als unplausibel. Sie beziehen sich auf die sprachliche Oberfläche und sind bemüht, alles funktional zu erfassen, wobei größere Einheiten immer weiter untergliedert werden, bis man bei den kleinsten Einheiten angelangt ist. Nur hat das mit sprechakttheoretischen Beschreibungen recht wenig zu tun. Insbesondere sind die situational verankerbaren Gelingensbedingungen als methodologischer Beschreibungskern suspendiert.2 Eine Berufung auf die Sprechakttheorie schlägt hier also fehl. FP betreibt funktionale Gesprochene-Sprache-Forschung und hat einen eher – wenn man das so sagen darf – technischen Handlungsbegriff. Mit der Sichtweise auf verbale Kommunikation als soziale Arbeit hat die FP zudem auch ein von dem der GA verschiedenes Erkenntnisinteresse. Letztere dockt ja eher an soziologische und sozialphilosophische Strömungen an, wohingegen die FP sich gern auf musterhafte, ritualisierte Handlungsabläufe im Rahmen gesellschaftlich wiederkehrender Handlungsbedürfnisse stürzt3 (und nicht zuletzt deshalb u.a. auch stark an Formen institutioneller Kommunikation interessiert ist). Die Stoßrichtung könnte kurz so erfasst werden: Was macht man alles (für gewöhnlich oder in diesem Fall), wenn man sprachlich handelnd das Muster X zur Abarbeitung des übergeordneten Musters Y realisiert?