50 Jahre Speech-Acts

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3 Neuere Tendenzen

Das oben gezeichnete Bild der Sprechakttheorie als Normalwissenschaft ist natürlich ein überzeichnetes. Insbesondere im angelsächsischen Raum werden auch gegenwärtig neue und dezidierte sprechakttheoretische Modelle entwickelt (vgl. Kissine 2013). Auch neuere Theorieentwicklungen im erweiterten Bereich der pragmatischen Linguistik werfen Perspektiven auf, die – obwohl sie selbst nicht die klassischen sprechakttheoretischen Probleme adressieren – eine erneute Auseinandersetzung mit sprechakttheoretischen Grundannahmen erfordern.

In der poststrukturalen Diskurslinguistik ‚nach Foucault‘ mit ihrer Kritik am Subjekt- und Intentionsbegriff (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 51, 67f.) müssen auch der Begriff des Sprechakts als in individuellen Intentionen verankerte sprachliche Handlung sowie die ihm eingebaute intentionalistische Theorie der Bedeutung (vgl. Grice 1957) problematisiert werden. Dem Sprechakt stellt Foucault die Aussage (énoncé) gegenüber, die dem Vollzug von Sprechakten gewissermaßen vorgelagert ist, die stets in Diskurse und Aussagennetze eingewoben ist, welche überhaupt erst bedingen, dass in einer sozialen und kulturellen Situation einzelne Aussagen möglich werden (vgl. Foucault 1973, S. 67f.).1 „Diskurshandlungen“ (Spieß 2011) sind gegenüber Sprechakten im Sinne Searles also viel stärker durch diskursive, dem Individuum vorgängige Bedingungen der Möglichkeit des Gesagten geprägt (vgl. zusammenfassend Spitzmüller/Warnke 2011, S. 69–72).2

Ebenfalls dem Subjektivismus und Intentionalismus kritisch gegenüberstehend ist die Praxistheorie, die statt „interessengeleiteten und mit einer subjektiven Rationalität ausgestatteten Handlungsakten einzelner Akteure“ (Reckwitz 2003, S. 287) routinisierte, materiale und leibgebundene Praktiken als kleinste Einheiten des Sozialen veranschlagt. Die zunächst in der Soziologie entwickelte Praxistheorie hat längst auch auf die (germanistische) Linguistik ausgestrahlt. In einer Linguistik der Praktiken interessiert weniger, welche Sprechakte als Mittel zur Realisierung von Akteursintentionen zur Verfügung stehen und wie sie sprachlich vollzogen werden, sondern „wie Sprache im leiblichen, respektive multimodalen Ausdruck inkarniert und intrinsisch in die Handlungsvollzüge in der materiellen und medial vermittelten Welt verwoben ist“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 14). Das für gesprächsanalytische Zwecke entwickelte Konzept der kommunikativen Praktiken (vgl. Fiehler et al. 2004, S. 99–104) scheint dagegen noch eher mit sprechakttheoretischen Grundannahmen verträglich zu sein. Doch auch kommunikative Praktiken als „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke realisiert werden sollten“ (Fiehler et al. 2004, S. 99) – als Beispiele können Auskünfte, Beschwerden oder Unterweisungen genannt werden – sind gewissermaßen auf einer Ebene oberhalb von einzelnen Sprechakten angesiedelt. Der sich hier andeutende Perspektivenwechsel von einzelnen Akten hin zu umfassenderen Routinen prägt im Übrigen auch neuere, dezidiert sprechakttheoretische Ansätze. In ihrer Einleitung zum Handbuch Pragmatics of Speech Actions, das den internationalen Stand der pragmalinguistischen Sprechakttheorie dokumentiert, weisen etwa Sbisà und Turner die Verhältnisbestimmung von Sprechakten einerseits und „linguistic and cultural practices and routines“ (Sbisà/Turner 2013, S. 5) in ihrer interaktionalen Dynamik andererseits als wichtige Aufgabe einer zeitgemäßen Sprechakttheorie aus.

Für die an Praktiken orientierten Zugriffe ist kennzeichnend, dass Sprache bzw. Kommunikation weniger mit Blick auf die zugrundeliegenden Regeln, sondern „nur in der sozial bestimmten performativen Qualität des Vollzugs“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 12) interessiert. Mit dem hier anklingenden Konzept des Performativen ist freilich ein sprechakttheoretischer Grundbegriff angesprochen, welcher indes bei Austin eine weitaus größere Rolle spielt als bei Searle, wo nur am Rande performative Verben als mögliche Indikatoren der illokutionären Rolle erwähnt werden. Das Konzept der Performativität, mit dem ganz allgemein die soziale Konstruktivität symbolischer Handlungen auf den Begriff gebracht (vgl. Scharloth 2009, S. 234) und zugleich der Anschluss zu dem in der Anthropologie zentralen Begriff der performance hergestellt werden kann, ist in den Sprach- und Kulturwissenschaften zu einem Schlüsselkonzept avanciert (vgl. Fischer-Lichte 2016). Für dieses ist jedoch die Searle’sche Fassung der Sprechakttheorie kaum mehr ein theoretischer Bezugspunkt.3 Auch in unmittelbar an der Sprechakttheorie interessierten neueren Forschungsarbeiten zum Begriff der Performativität lässt sich eine Tendenz zum Rückgang auf Austin beobachten (vgl. Robinson 2013; Rolf 2015), und so erstaunt auch nicht, dass neuere Versuche, den Begriff des Sprechaktes um den des Bildaktes zu ergänzen, sich eher an Austin anschließen (vgl. Schmitz 2007; Bredekamp 2015).

Neben diesen drei Theorieentwicklungen, der Diskurslinguistik, der Theorie der Praktiken und der Performativitätstheorie, die auf die Sprechakttheorie rückwirken, lassen sich aber auch in der genuinen Sprechakttheorie einige Tendenzen ausmachen, die die neueren Diskussionen bestimmen. Diskutiert werden etwa Bezüge zwischen Kognitiver Linguistik und Sprechakttheorie, etwa indem so genannte Sprechaktszenarien, die bei Searle noch als Sets von Regeln erscheinen, als Idealized Cognitive Models beschrieben und auf ganz allgemeine kognitive Prinzipien bezogen werden (vgl. Panther/Thornburg 2005 und Gärtner/Steinbach in diesem Band). Besondere Aufmerksamkeit wird zudem – und auch hier dürfte die Kognitive Linguistik mit ihrem ausgeprägten Interesse an Emotionen (vgl. Schwarz-Friesel 2013) entscheidenden Anteil haben – den expressiven Sprechakten geschenkt. Expressivität wird als linguistische Kategorie verhandelt, die sich insbesondere auf Sprechaktebene manifestiert (vgl. d’Avis/Finkbeiner 2019 sowie Finkbeiner in diesem Band und Trotzke in diesem Band), und so sind es gerade auch empirische Arbeiten zu expressiver Kommunikation, in denen sprechakttheoretische Zugriffe zur Anwendung kommen (vgl. Marx 2018 sowie Tuchen in diesem Band).

Ebenfalls im Fahrwasser der Kognitiven Linguistik bewegen sich konstruktionsgrammatische Ansätze. Mit ihrer grundlegenden Modellierung von Konstruktionen als gebrauchsbasierten form-meaning pairs sind sie ohnehin recht nah an Searles Vorschlag, die Analyse von Sprechakten auf die Semantik von formseitig bestimmbaren Indikatoren der illokutionären Rolle abzustellen. So wurden etwa konventionalisierte indirekte Sprechakte bzw. die sprachlichen Formen ihres Vollzugs als Konstruktionen beschrieben (vgl. Stefanowitsch 2003). Besonders anschlussfähig sind indes jene vor allem in der interaktionalen Linguistik entfalteten Spielarten der Konstruktionsgrammatik, die auch pragmatische Restriktionen der Bedeutungsseite von Konstruktionen zurechnen. Konstruktionen, verstanden als rekurrente sprachliche Muster, werden an „Sprechhandlungstypen“ (Deppermann 2006, S. 240) wie etwa Empfehlungen oder Vorschläge gekoppelt, welche typischerweise durch diese Konstruktionen realisiert werden. Das ist, so scheint es, im Kern ein sprechakttheoretisches Vorgehen, und doch wird interessanterweise jeder explizite Bezug auf die Sprechakttheorie vermieden (vgl. hierzu Staffeldt in diesem Band).

Neue methodische Impulse für sprechakttheoretische Ansätze sind seitens der Korpuslinguistik, genauer der Korpuspragmatik zu erwarten, die Sprechakte – wiederum abzulesen an der Position dieses Themas in einem einschlägigen Handbuch (vgl. Aijmer/Rühlemann 2014) – zu ihren primären Gegenständen zählt. Sind diachrone Sprechaktanalysen im Rahmen der Historischen Pragmatik immer schon auf Korpora angewiesen, werden in jüngerer Zeit auch synchrone Untersuchungen korpusbasiert angelegt (vgl. McAllister/Garcia 2014; Weisser 2018 und den Überblick in Tuchen 2018, S. 21). Noch offen ist dabei die Frage, ob und wie die Identifikation von illokutionären Akten, die sich ja gerade nicht eindeutig an sprachoberflächenbezogenen Merkmalen ablesen lassen, überhaupt computergestützt oder gar automatisiert geschehen kann (vgl. Rühlemann/Clancy 2018). Allerdings kann schon eine an großen Datenmengen vorgenommene Erhebung von Gebrauchsprofilen derjenigen sprachlicher Muster, die üblicherweise als Indikatoren illokutionärer Rollen gelten, heuristisch wertvoll sein, insbesondere dann, wenn Kontextfaktoren als Metadaten zur Verfügung stehen.

Im Übrigen dürfte die Etablierung der Korpuslinguistik im (pragma-)linguistischen Methodenkanon4 und damit einhergehend die Entwicklung der Linguistik hin zu einer grundlegend empirischen, datenorientierten Disziplin auch ein Grund dafür sein, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie ein wenig in den Hintergrund geraten ist. Die reine Theoriearbeit, die allenfalls zu Veranschaulichungszwecken auf Sprachdaten zurückgreift, scheint an Attraktivität zu verlieren angesichts der Fülle der empirischen Details, die es zu entdecken gibt. Und dennoch: Auch das induktivste Vorgehen wird auf theoretische Konzepte zurückgreifen und den Umgang mit dem empirischen Material deduktiv ausbalancieren müssen, und wie bereits gezeigt, ist das Konzept des Sprechakts bzw. des Sprechakttyps hierfür ein oft gewählter Kandidat, auch wenn er mitunter terminologisch anders gefasst wird. Nach wie vor ist es aber nötig und auch lohnend, dieses Konzept theoretisch und methodologisch, aber auch in seiner für die Pragmalinguistik identitätsstiftenden Funktion zu reflektieren. Oder, um einen sprechakttheoretischen Klassiker (vgl. Austin 1968, S. 153) abzuwandeln: Es lohnt zu klären, was man – als Linguist*in – tut, wenn man Sprechakt sagt. Dazu leisten die Aufsätze im vorliegenden Band einen Beitrag.

 

4 Zu den Beiträgen

Der Band wird eröffnet von Sven Staffeldt, der in seinem Beitrag „SAT(T?) – Ein Verwirrspiel in drei Akten“ aktuelle Forschungsbeiträge zur Pragmalinguistik daraufhin sichtet, welche Rolle der Sprechakttheorie oder zumindest sprechakttheoretisch konturierten Konzepten zukommt. Insbesondere anhand von transfer- und anwendungsorientierten Arbeiten gesprächsanalytischen Zuschnitts zeigt Staffeldt, dass explizite und erst recht affirmative Bezugnahmen auf die Sprechakttheorie weithin fehlen, aber gleichwohl Analyseschritte unternommen werden, die sich an sprechakttheoretische Analysen anschließen lassen. Der Beitrag plädiert dafür, induktive und deduktive Zugänge nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als Stationen in einem Kreislauf sich wechselseitig bedingender Zugriffe auf Sprache und Sprachgebrauch anzusehen.

Um eine wissenschaftshistorische Einordung geht es im Beitrag „Vormoderne Sprechaktanalysen als Herausforderung für die moderne Sprechakttheorie“ von Simon Meier. Anhand von historischen Analysen von Sprechhandlungen wie z.B. Versprechungen und Drohungen wird gezeigt, dass einige wesentliche Merkmale der modernen Sprechakttheorie – etwa die Formulierung von Gelingensbedingungen – bereits lange vor Searle in den Werken vormoderner Autoren wie Thomas von Aquin, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf und anderen relevant gesetzt wurden. Unterschiede liegen hingegen darin, dass sich vormoderne Analysen an objektiver Gesetzmäßigkeit orientieren, während die moderne Sprechakttheorie versucht, die Regeln und Klassifikationen von Sprechhandlungen in einzelnen psychologischen Zuständen wie Präferenzen und Interessen zu begründen. So erweisen sich einige Vorannahmen der modernen Sprechakttheorie als zeitgebundene und mentalitätsgeschichtlich deutbare Prägungen.

Die folgenden beiden Beiträge widmen sich der Frage nach der Integration interaktionslinguistischer Konzepte in die Sprechakttheorie. Frank Liedtke setzt sich in seinem Beitrag „Sprechhandlung und Aushandlung“ mit einem zentralen Kritikpunkt an der Sprechakttheorie auseinander: Der Fokus auf die Intention eines Sprechers/einer Sprecherin blendet den interaktiven Charakter in Kommunikationssituationen ebenso aus wie die Sprecher-Hörer-Beziehung. Er unterbreitet einen Vorschlag dazu, wie eine Analyse erstellt werden kann, die das Ergebnis von Aushandlungen oder Ko-Konstruktionen berücksichtigt, ohne auf Begriffe wie illokutionäre Wirkung und Sprecherabsicht zu verzichten. Zu diesem Zweck wird der Begriff der kollektiven oder Wir-Intention für die Analyse fruchtbar gemacht; ebenso werden systematische Unterscheidungen unter anderem zwischen komplementären und kompetetiven sowie symmetrischen und asymmetrischen Gesprächssituationen vorgestellt.

Leonard Kohl veranschaulicht in seinem Beitrag „Sprechakte in der Interaktion“, wie die Sprechakttheorie (SAT) so modifiziert und durch gesprächsanalytische Konzepte erweitert werden kann, dass sie zur Analyse von verbaler Interaktion eingesetzt werden kann. Dabei soll aber der sprechakttheoretische Fokus auf die in den meisten gesprächsanalytischen Ansätzen abgelehnten Sprecherintentionen möglichst erhalten bleiben. An authentischen WhatsApp-Chatdaten wird dabei unter anderem veranschaulicht, wie illokutionäre Kräfte von den Teilnehmer*innen in der Interaktion gemeinsam konstruiert oder verhandelt werden.

Grundlagentheoretische Detailstudien sind das Thema der beiden folgenden Beiträge. Expressive Sprechakte, mit denen sich Rita Finkbeiner in ihrem Beitrag „Expressive Sprechakte revisited“ auseinandersetzt, stellen eine Herausforderung für ihre Klassifikation und Beschreibung dar, unter anderem deshalb, weil letztlich alle Sprechakte als Ausdruck einer propositionalen Einstellung gelten können. Es geht dann darum, das Spezifische dieser ausgewählten Klasse herauszuarbeiten, wobei für diese Aufgabe unterschiedliche Strategien gewählt werden können. Im Zuge einer kritischen Diskussion werden ältere und rezente Ansätze zu Expressiva behandelt, bevor eine Auseinandersetzung mit der semantisch geprägten Erklärungsstrategie, im Sinne von David Kaplans Begriff eines use-conditional meaning, vorgenommen wird. Aus einer sprechakttheoretischen Sicht wird demgegenüber das Spezifikum von Expressiva in der Ausformung der Einleitungsbedingung des Sprechakts gesehen. Die Voraussetzungen für seinen Vollzug im Sinne spezifischer Angemessenheitsbedingungen werden als Teil dieser konstitutiven Bedingung definiert.

Daniel Gutzmann und Katharina Turgay streben in ihrem Beitrag „Fiktionale Aussagen als Assertionen?“ eine Explikation dessen an, was eine fiktionale Äußerung ist bzw. welche definierenden Eigenschaften sie hat. Die von Searle vorgelegte pretense-Theorie des fiktionalen Diskurses, die davon ausgeht, dass für Assertionen in fiktionalen Kontexten entscheidende konstitutive Regeln außer Kraft gesetzt sind, wird mit dem Argument kritisiert, dass auch auf fiktionale Äußerungen konstitutive Regeln zutreffen. Demgegenüber werden schaffende fiktionale Äußerungen als fiktionale Deklarationen aufgefasst, beschreibende fiktionale Äußerungen als fiktionale Assertionen. Fiktionale Assertionen schaffen keine neuen Sachverhalte, sondern stellen einen Vorschlag von S dar, den jeweils für S und H geltenden Common Ground um diese Assertion zu erweitern. Um den Unterschied zwischen nicht-fiktionalen und fiktionalen Assertionen abzubilden, werden unterschiedliche Common Grounds angenommen, in diesem Fall ein realer und ein fiktionaler Common Ground.

Die beiden folgenden Beiträge fokussieren den sprechakttheoretischen und später von Searle (1983) sogar zum eigenständigen Thema erhobenen Grundbegriff der Intentionalität. Am Beginn des Beitrags von Tilo Weber zu „Intentionalität und Äußerungsbedeutung“ steht die für Searles Sprechakttheorie wie auch für die klassische linguistische Pragmatik insgesamt zentrale These, dass die sprachliche Bedeutung auf den Intentionen der einzelnen Sprecher basiert. Jacques Derrida hat diese These grundlegend in Frage gestellt. Die daraus resultierende Diskussion (Searle-Derrida-Debatte) wird in dem Beitrag genauer beleuchtet. So erfährt man, dass auf beiden Seiten in der Diskussion auf harsche persönliche Angriffe und aggressive Formulierungen nicht verzichtet wurde. Allerdings zeigen sowohl Derridas „Dekonstruktion“ des Intentionalismus als auch Searles konsequente Gegenargumentation Risse und brüchige Stellen. Obwohl man Derrida in einigen Punkten recht geben könne, sollte man Weber zufolge zumindest aus der Hörendenperspektive eine enge Korrelation zwischen Intentionen und Bedeutung annehmen.

Der intentionalistischen Auffassung sprachlicher Äußerungen, die von einer vorgängigen Intention ausgeht, stellt Joschka Briese in seinem Beitrag „Intentionalität ohne Intentionalismus?“ ein alternatives Konzept gegenüber, das diese Vorgängigkeitsannahme vermeidet und grundsätzlich die soziale und zeichenvermittelte Natur einer prozessualen Intentionalität hervorhebt. Die Grundlage des entwickelten Konzepts einer diskursiven Intentionalität bildet einerseits die Theorie der inferenziellen Semantik von R. Brandom, andererseits wird auf die zeichentheoretische Konzeption von T. L. Short rekurriert, um die bei Brandom nicht ausbuchstabierte linguistische Komponente zu ergänzen. Das in diesem Beitrag vorgestellte Modell verbindet beide Ansätze zu einem Gesamtbild der Intentionalität sprachlicher Äußerungsvollzüge in ihrer sozialen und diskursiven Einbettung.

Schnittstellen zur kognitiven Linguistik und zur Grammatikforschung werden in den folgenden drei Beiträgen beleuchtet. Hans-Martin Gärtner und Markus Steinbach greifen in ihrem Beitrag „Zum Verhältnis von Satztyp- und Illokutionstypinventaren“ die spätestens seit Searle (1976) virulente Frage nach dem Verhältnis von Satztypen und Illokutionstypen auf. Anhand neuerer Ansätze aus der kognitiven Linguistik, welche Sprechaktklassifikationen in einer Belief-Desire-Intention-Psychology fundieren, diskutieren sie mögliche Anschlüsse wie auch Diskrepanzen zu typologiebasierten Forschungsergebnissen und erarbeiten einen modifizierten Vorschlag, der sich eng an das Searle’sche Konzept der Aufrichtigkeitsbedingungen anschließt. Wie die Autoren zeigen, ist damit auch der Weg geebnet, um die Diskussion um Satz- und Illokutionstypen an neuere Erkenntnise aus der experimentellen Pragmatik anzubinden.

Andreas Trotzke zeigt in seinem Beitrag „How cool is that! Ein neuer Sprechakt aus Sicht der Grammatik/Pragmatik-Schnittstelle“, dass es eine Subklasse der W-Exklamativa gibt, welche als Affirmationsorientierte Pseudofragen (APQs) bezeichnet werden können. An den Beispielsätzen How cool is that! und der deutschen Entsprechung Wie geil ist das denn!, zeigt er, dass in den beiden Sprachen die APQ-Funktion der Äußerung durch unterschiedliche Indikatoren angezeigt wird: Im Englischen übernimmt dies die interrogative Syntax, im Deutschen sind es die Modalpartikeln. Die APQs zeigen eine gewisse Offenheit für die affirmative Reaktion des Hörers an, welche der übergeordneten Klasse W-Exklamativa abgeht. Aus diesem Grund plädiert Trotzke für eine Unterscheidung in der Sprechaktklasse der EXKLAMATIONEN durch die Merkmale „[+Adressaten-Orientierung]“ und „[-Adressaten-Orientierung]“.

Der Beitrag von Pawel Sickinger über „Sprechakte als prototypisch strukturierte Überkategorien sprachlicher Problemlösungen“ befasst sich mit der Abgrenzungsproblematik von Sprechakten. Fokussiert werden aber nicht primär die Defizite der Sprechakttheorie, sondern Vorschläge zu deren Ergänzung bzw. Rekonzeptualisierung. Sickinger unterbreitet im Wesentlichen zwei Modifizierungsvorschläge im Sinne der angewandten linguistischen Pragmatik: Zunächst argumentiert er dafür, Sprechakte als Prototypenkategorien im Sinne der kognitiven Linguistik zu konzipieren. Darauf aufbauend ist sein zentraler Punkt für die empirische Pragmatikforschung, dass die Beschreibungen von kommunikativen Handlungen auf der Ebene der sogenannten communicative tasks und den entsprechenden solutions ansetzen sollte. Die communicative tasks sind allerdings kein Gegenentwurf zum Sprechaktkonzept, sondern konstituieren Sprechaktkategorien vielmehr ‚von unten‘.

Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Astrid Tuchen Too little, too late – Der Sprechakt KONDOLIEREN auf Twitter durch Donald Trump“, in welchem der Sprechakt des Kondolierens in digitalen Kontexten fokussiert wird. Dabei wird der Sprechakt des Kondolierens zunächst aus einer theoretischen Perspektive beleuchtet, bevor im empirischen Teil Kondolenz-Tweets des US-Präsidenten Donald Trump hinsichtlich verschiedener Dimensionen inhaltsanalytisch untersucht werden. Gegenstand der Analysen sind einerseits der Zusammenhang von inhaltlichen Kategorien wie Ausdruck des Beileids, Sprecherrolle oder Hinterbliebene und verschiedenen Todesursachen (z.B. natürlicher Tod, Naturkatastrophe, Amoklauf) sowie Bewertungen der Twitter-User dahingehend, ob Donald Trumps Sprechakt des Kondolierens geglückt ist oder nicht. Tuchens Untersuchung zeigt, dass sich das Instrumentarium der Sprechakttheorie auch auf Sprechhandlungen im digitalen Kontext anwenden lässt.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf die Jahrestagung 2019 der Arbeitsgemeinschaft Linguistische Pragmatik e.V. zum Thema „50 Jahres Speech Acts – Bilanz und Perspektiven“ zurück, die am 5. März 2019 unter der Organisation der Herausgeber*innen an der Universität Bremen stattfand.