50 Jahre Speech-Acts

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Sprechhandlung und Aushandlung

Frank Liedtke

Abstract: The analysis of speech acts as presented by John R. Searle is criticised for its ignorance towards the speaker-hearer-relation and its consequences for the investigation of speech behaviour in conversation. The fact that illocutionary effects often are the result of bargaining or co-construction between S and H has to be investigated within a complete theory of linguistic communication. A proposal is made as to how such an analysis can be elaborated without foregoing such notions as illocutionary effect and speaker-intention. This is undertaken by means of the notions of we-intentions and collective actions, which are applied to conversational encounters.

1 Einleitung

Ein Sprechakt ist gelungen, wenn die kommunikative Intention erkannt ist, mit der er vollzogen wurde. Diese Grundannahme steht im Zentrum der Sprechakttradition seit Erscheinen von J.R. Searles Speech Acts. In der Definition des ‚illocutionary effect‘ kondensiert sich diese Auffassung in deutlicher Form:

S utters sentence T and means it = S utters T and

(a) intends (i-1) the utterance U of T to produce in H the knowledge (recognition, awareness) that the states of affairs specified by (certain of) the rules of T obtain. (Call this effect the illocutionary effect, IE) […] (Searle 1969, S. 49f.)

Eine weitere Bedingung (b) bezieht sich auf den reflexiven Charakter der Sprecherintention, wonach der illokutionäre Effekt aufgrund der Erkenntnis von i-1 eintritt, und die dritte Bedingung (c) fordert, dass dies auf der Basis der Regelkenntnis für den produzierten Satz geschieht (vgl. Searle 1969, S. 49f.).

Diese Grundannahme ist in vielfältiger Weise kritisiert worden, vor allem mit dem Argument, sie sei zu eng und würde viele Fälle des Sprechaktvollzugs ignorieren. Eine verbreitete Kritikfigur benennt vor allem das Defizit, dass der interaktive Charakter außer Acht gelassen werde.1 Die Rolle von A (bei Searle H) besteht lediglich darin, den Sachverhalt zu erkennen, dass der illokutionäre Effekt realisiert ist. Die zitierte Definition baut somit auf der solitären Sprecherintention auf ohne Rücksicht darauf, dass ihre Realisierung grundsätzlich das Resultat eines kooperativen Prozesses ist, der zwischen A und S stattfindet. Die letztlich gültige Illokution ist eine Frage der Aushandlung der A- und der S-Perspektive, der illokutionäre Effekt das Resultat einer Ko-Konstruktion des illokutionären Effekts von S und A. Die Äußerungsbedeutung des vollzogenen Sprechakts ist somit emergent, sie entsteht erst im Gespräch, und dieser Prozess kann nicht von S restlos vorherbestimmt werden. Programmatisch liest sich diese Auffassung wie folgt:

Die interaktiv gültige Bedeutung von Äußerungen ist nicht durch Interpretationskonventionen verbürgt und wird auch nicht durch Sprecherintentionen abschließend festgelegt. Interaktive Bedeutung wird in wechselseitigen Interpretationsprozessen ausgehandelt und elaboriert. […] Adressaten können nicht nur signalisieren, daß sie Äußerungen hören und verstehen, sondern auch, ob bzw. inwieweit sie sie akzeptieren. (Deppermann 2005, S. 19; Hervorhebung vom Verf.)

Genau genommen findet sich in dieser Passage jedoch keine Aussage zu Äußerungsbedeutungen schlechthin, sondern lediglich zu einem Untertyp, nämlich den interaktiven Bedeutungen. Andere Bedeutungstypen, etwa denotative, expressive oder evaluative Bedeutungen, aber auch Illokutionen wie ‚unilaterale‘ Direktiva und Deklarationen werden nicht berücksichtigt. Da diese bei Sprechaktvollzügen aber durchaus eine Rolle spielen, führt die alleinige Sicht auf interaktive Bedeutungen dazu, dass nur ein Teilaspekt der gesamten Äußerungsbedeutung erfasst wird.

Hinzu kommt ein definitorisches Problem: Bezieht man sich allein auf den interaktiven Bedeutungstyp, dann ist die Feststellung, dass diese Bedeutung wechselseitig ausgehandelt und elaboriert wird, ein Truismus; es handelt sich um ein Definitionsmerkmal interaktiver Bedeutung, nicht um eine Feststellung über diese. Der Anspruch der zitierten Bestimmung sowie des ganzen Buches, aus dem sie zitiert ist, geht freilich weit über eine Definition eines bestimmten Bedeutungstyps hinaus, denn der Rolle von Konventionen und Intentionen wird grundsätzlich nur ein geringer Stellenwert zugebilligt.

Auch wenn die zitierte Kritikposition an der Sprecherzentriertheit der Sprechakttheorie auf schwachen Füßen steht, so ist die dahinterstehende Intuition, dass S nicht solitär die Verfügungsgewalt über den illokutionären Effekt seiner Sprechakte hat, durchaus zutreffend. Weiterhin muss man feststellen, dass dies in der Searle’schen Definition des IE zwar nicht explizit ausgeschlossen ist, aber weder theoretisch expliziert noch deskriptiv berücksichtigt wird.

Ist man also gezwungen, die Sprechakttheorie aufzugeben, da sie die falschen Vorhersagen macht? Ich möchte in einem ersten Zugriff dafür argumentieren, dass diese Konsequenz überzogen ist und letztlich zu einem sehr einseitigen Bild sprachlicher Interaktion führt. An zweiter Stelle soll der grundsätzlich berechtigten Kritik an der Sprecherzentriertheit dadurch begegnet werden, dass der illokutionäre Effekt eines Sprechakts in manchen Fällen als Ergebnis der Kooperation zwischen S und A aufgefasst wird, ohne auf den erklärungsstarken Begriff der Sprecherintention zu verzichten. Hier kommen die Begriffe der Wir-Intention und der kollektiven Intention resp. kollektiven Handlung ins Spiel, wie sie von Winfried Sellars (1974), Raimo Tuomela und Kaarlo Miller (1985, 1988; Tuomela 2005, 2013), John R. Searle (1990) sowie Susan Miller (2001) eingeführt worden sind. In den letzten Jahren erfährt dieses Thema wieder vermehrte Aufmerksamkeit, wie sich an verschiedenen Handbüchern, Sammelbänden und Monografien zeigt (vgl. Schmid 2005, 2008; Chant/Hindriks/Preyer 2014; Jankovič/Ludwig 2018; Ludwig/Jankovič 2019).

Im Ergebnis soll gezeigt werden, dass diese Ansätze in der Tat einen guten Weg aufzeigen, illokutionäre Effekte als potenziell gemeinsam von S und A hergestellte Lesarten von Gesagtem zu konzipieren, wobei allerdings gewisse Einschränkungen an dem Konzept der Wir-Intention vorgenommen werden müssen, wenn man es auf Sprechaktperformanzen anwenden möchte. Zuvor jedoch soll eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der interaktionstheoretischen Sprechaktkritik unternommen werden.

2 Ko-Konstruktion von Sprechakten

Eine über die sprechakttheoretische Konzeption hinausgehende Auffassung lässt sich mit dem Stichwort der Ko-Konstruktion des illokutionären Effekts kennzeichnen. Was ist damit genauer gemeint? Wir hatten im vorigen Abschnitt unter Einklammerung der explanativen Schwäche die interaktional geprägte Idee akzeptiert, dass Sprecher_innen nicht die alleinige Autorität besitzen, welches der illokutionäre Effekt des vollzogenen Sprechakts ist, sondern dass sie sich gegebenenfalls einem Prozess der expliziten oder impliziten Aushandlung unterziehen müssen, an dessen Ende etwas Anderes stehen kann, als sie eingangs intendiert hatten. So kann sich herausstellen, dass das Gesagte vor dem Hintergrund spezieller Kontextinformationen, die ihnen nicht zugänglich waren, eine bestimmte nicht vorhergesehene Lesart annimmt. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein vom intendierten vollkommen abweichender illokutionärer Zweck realisiert wird, zu dem sich S dann auch bekennen muss, will er/sie nicht als weltfremd oder irrational gelten. Der Begriff der Ko-Konstruktion bezieht sich somit nicht (nur) auf das gemeinsame Herstellen des Äußerungsaktes mit seiner syntaktischen Struktur durch S und A, etwa wenn beide jeweils ein Satzfragment produzieren, was zusammengenommen einen vollständigen Satz ergibt. Er wird vielmehr weiter gefasst, sodass er auch die Ebene der Illokution betrifft und diese als gemeinsam konstruierte versteht.1

Der Fall der sprecherseitigen Revision des illokutionären Zwecks führt zur schwachen These der Ko-Konstruktion: Es ist möglich, dass S sich in der Annahme, einen bestimmten illokutionären Indikator gewählt oder einen bestimmten Sprechakt vollzogen zu haben, geirrt hat und sich der besseren Interpretation von A beugt. Diese schwache These stellt für eine sprecherzentrierte Auffassung von illokutionären Effekten keine Schwierigkeit dar, denn eine nachträgliche Selbstkorrektur durch S ist durchaus möglich, ohne dass die S-Autorität bezüglich des vollzogenen Sprechakts infrage gestellt würde. Es gibt allerdings eine stärkere These, die darauf hinausläuft, dass grundsätzlich die Festlegung des illokutionären Effekts erst dann gelingt, wenn S und A sich auf diesen ‚geeinigt‘ haben, entweder explizit im Zuge eines Aushandlungsprozesses oder implizit durch die Zuweisung des interaktionalen Stellenwerts, den der Sprechakt in der Folgekommunikation hat.

Die starke These der Ko-Konstruktion ist durchaus geeignet, das traditionelle Sprechaktmodell ins Wanken zu bringen, denn es wurde schon gesagt, dass in der zitierten Searle’schen Definition der Sprecherbedeutung dieser Fall nicht vorgesehen ist. Hier geht es lediglich um die Intention von S und ihre Erkenntnis durch A. Wenn wir uns mit der Adäquatheit dieser Definition beschäftigen wollen, dann müssen wir uns folglich mit der starken These auseinandersetzen. Eine frühe Fassung hat Herbert Clark vorgelegt, indem er einer sprachlichen Äußerung lediglich den Status der presentation phase zuweist, auf die dann die acceptance phase durch den jeweiligen Adressaten folgt. Hier wird kollaborativ die Bedeutung dieser Äußerung akzeptiert oder auch modifiziert, woraufhin sie dann als Bestandteil des common ground, des gemeinsamen Hintergrunds, verbucht wird, auf den sich die Gesprächsteilnehmer_innen beziehen (vgl. Clark 1992; vgl. hierzu Deppermann 2002, S. 20). In einem Beitrag der Herausgeber_innen zum einschlägigen Sammelband „Ko-Konstruktionen in der Interaktion“ (Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft, 2015b) wird ein entsprechend weites Verständnis von Ko-Konstruktion vertreten,

 

das alle Formen der interaktiven Herstellung einer Handlung bis zu dem Zustand umfasst, bei dem alle Beteiligte [sic!] davon ausgehen, dass die aktuell zu erledigende gemeinsame Handlung abgeschlossen ist und man sich folglich einer neuen Interaktionsaufgabe zuwenden kann. (Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft 2015a, S. 28f.)

Noch weiter geht Jörg Bergmann in seinem Beitrag, wenn er diesem Begriff Analytizität zuschreibt: „Ko-Konstruktion [ist] die Bezeichnung für ein Merkmal von sprachlich-sozialen Handlungen, das gar nicht negierbar oder vermeidbar ist.“ (Bergmann 2015, S. 40)

Im Folgenden soll die starke These der Ko-Konstruktion näher diskutiert werden. Zu diesem Zweck sollen zunächst zwei Klassen von Sprechakten unterschieden werden. Eine in diesem Kontext relevante Unterscheidung wird – eher beiläufig – schon im Rahmen der Searle’schen Taxonomie eingeführt, und sie beruht auf dem Kriterium des Sprecher- bzw. Adressateninteresses, wonach man Gratulieren (S-Interesse) von Kondolieren (nicht S-Interesse) abgrenzen kann (vgl. Searle 1982, S. 23; vgl. den Beitrag von Astrid Tuchen in diesem Band, S. 293-317). Anders als bei Searle soll hier die Beziehung zwischen S und A im Vordergrund stehen: Es geht einerseits um asymmetrische Sprechakte – wie ich sie nennen möchte –, deren illokutionärer Effekt im Interesse von S, aber nicht im Interesse von A liegt, und andererseits um symmetrische Sprechakte, bei denen die Interessenlage von S und A übereinstimmt. Ein asymmetrischer Sprechakt ist beispielsweise jmd. KÜNDIGEN, ein symmetrischer PROGNOSTIZIEREN. Haben sich S und A einmal darauf geeinigt, dass es sich im letzteren Fall tatsächlich um diesen Sprechakt handelt, dann besteht grundsätzlich kein Dissens darüber, dass eine solche Prognose aufgestellt wurde, und A kann sich mit dem illokutionären Effekt identifizieren – wenn auch nicht unbedingt mit dem Zutreffen des propositionalen Gehalts. A kann sagen: „Gut, nehmen wir an du hast Recht: Was würde daraus folgen?“ A hat sich damit, wenn auch nur vorübergehend, die Illokution zu eigen gemacht und spielt diese nun durch. Beide, S und A, sind in dieser Phase gemeinsame Konstrukteure des Sprechakts und baden die Konsequenzen gemeinsam aus. Am Ende kann sich A natürlich wieder aus dieser Gemeinschaft verabschieden und die Prognose insgesamt bestreiten.

Dies sieht bei jmd. KÜNDIGEN durchaus anders aus. Wenn die Arbeitgeberin S dem Angestellten A kündigt, dann fällt es schwer, sich ein Szenario wie beim PROGNOSTIZIEREN vorzustellen. Abgesehen von dem seltenen Fall, dass A schon lange gehen wollte und sich nur nicht getraut hat, von sich aus zu kündigen, handelt es sich hier um einen extrem asymmetrischen Sprechakt, der sich einer einseitig verteilten Macht verdankt. Auch wenn A unbedingt dabeibleiben möchte, hat S die Macht, seine Mitgliedschaft einseitig zu beenden – vorausgesetzt, es unterläuft kein Rechtsfehler, der die Kündigung unwirksam macht. Würde man auch hier sagen wollen, dass der Sprechakt der Kündigung von S und A ko-konstruiert wurde? Ich halte dies für eine Fehleinschätzung, die neben ihrer sachlichen Falschheit auch dazu führt, dass es kein Analyseinstrument mehr gibt, mittels dessen asymmetrische Sprechakte und diesen unterliegende Machtkonstellationen identifiziert werden können. A hätte den entsprechenden illokutionären Zweck mit hergestellt und somit keine Möglichkeit, gegen diesen zu opponieren, denn dann würde er gegen sich selbst opponieren.

In der eingeführten Terminologie kann man beim jetzigen Stand Folgendes festhalten: Die starke These der Ko-Konstruktion des illokutionären Effekts durch S und A ist für symmetrische Sprechakte möglichweise zutreffend. Im Fall von asymmetrischen Sprechakten scheitert sie jedoch, unter anderem deswegen, weil sie A, dem machtlosen Part, im Falle einer Ko-Konstruktion irrationales Verhalten unterstellen müsste, das ihn letztlich als den eigenen Unterdrücker zu kennzeichnen hätte. Eine solche Unterstellung ist mit einer adäquaten Theorie sprachlichen Handelns nicht vereinbar.

Auch wenn es schwerfallen mag: Lässt sich die starke These gegen diesen Einwand verteidigen? Für Anhänger der Ko-Konstruktionsthese gibt es die Möglichkeit, auf eine begriffliche Ungenauigkeit der Argumentation abzuheben. Bei der Frage der gemeinsamen Konstruktion geht es nicht um die Frage, ob sowohl S als auch A sich möglicherweise mit dem illokutionären Akt der Kündigung identifizieren, so als hätten sie ihn beide ausgeführt; es geht vielmehr darum, dass beide zu der Einsicht gelangen, die Kündigung hätte als Sprechakt stattgefunden, sie sei nun ein soziales Faktum, an dem man nicht mehr vorbeikommt, unabhängig davon, ob man sie gut findet oder nicht. Auf einer allgemeinen Ebene muss man also den illokutionären Effekt im Sinne einer sozialen Tatsache von der illokutionären Sprecherintention des Inhalts, diesen illokutionären Effekt herzustellen, unterscheiden. Wenn man dies tut, lässt sich die Idee der Ko-Konstruktion eines gemeinsam als Faktum akzeptierten illokutionären Effekts auch bei asymmetrischen Sprechakten vermeintlich aufrechterhalten. A muss sich in diesem Fall nicht selbst kündigen und bleibt ein rationaler Sprecher bzw. Adressat.

Es ist natürlich wichtig, zwischen der Sprecherintention und dem intendierten illokutionären Effekt, den man anerkennen kann, ohne sich mit der Sprecherintention zu identifizieren oder etwa sie selbst zu haben, konsequent zu unterscheiden. Wenn man dies tut, lässt sich die starke These der Ko-Konstruktion prima facie aufrechterhalten. Ich möchte allerdings dafür argumentieren, dass sie damit weitgehend ihre theoriekritische Wirkung einbüßt, denn das von Searle aufgestellte Sprechaktschema wird dadurch in keiner Weise berührt. Wenn man es auf den Fall des KÜNDIGENS anwendet, sieht man vielmehr, dass das Searle’sche Schema nur spezifiziert, nicht aber modifiziert werden muss. Es lautet dann:

S äußert den Satz T „Ihnen wird hiermit gekündigt“ und meint ihn = S äußert T und intendiert, dass die Äußerung U von T bei A das Wissen (das Anerkennen, das Bewusstsein) hervorruft, dass der Sachverhalt der Kündigung, der durch die T betreffenden Regeln angezeigt ist, besteht (illokutionärer Effekt).

Der illokutionäre Effekt besteht also in dem wechselseitigen Wissen von S und A, dass die Kündigung ausgesprochen ist und damit gilt. Eine wechselseitige oder geteilte Intention ist dafür weder erforderlich noch erwünscht, zumindest seitens A.

Trifft diese Diagnose zu, dann befindet sich der Ko-Konstruktivist in einem theoretischen Dilemma: Wenn die interaktionale Auffassung auf alle Arten von Sprechakten anwendbar sein soll, dann unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der Sprechaktanalyse, wie sie seit 50 Jahren im Sinne Searles durchgeführt wird. Wird dies bestritten und soll die Ko-Konstruktionsthese doch einen Gegenentwurf zur Sprechaktanalyse der letzten 50 Jahre bilden – etwa weil die Unterscheidung von Sprecherintention und illokutionärem Zweck für irrelevant gehalten wird – dann trifft sie nicht auf alle Arten von Sprechakten zu, sondern bestenfalls auf eine Teilklasse, nämlich die symmetrischen. Die asymmetrischen Sprechakte werden von ihr nicht erfasst. Dies hat zur Folge, dass die ko-konstruktivistische Annahme zu einer deskriptiv unzureichenden Auffassung führt, die nur einen Teil des gesamten Phänomenbereichs zu erfassen in der Lage ist. Zu der theoretisch unzureichenden Charakterisierung von Äußerungsbedeutung, die ebenfalls nur einen Teilbereich von Bedeutungstypen in den Blick nimmt, kommt also eine deskriptive Verkürzung hinzu.

Welche Konsequenz ist aus diesem Befund zu ziehen? Wenn man an dem genannten Vorsatz festhalten möchte, Sprecherintentionen als grundsätzlich sozial aufzufassen, und zwar so, dass sie sich in der Interaktion bewähren müssen und keine Ereignisse innerhalb einer kommunizierenden Monade sind, dann bietet es sich an, einen Begriff der Intention zu suchen, der genau dies berücksichtigt. Es wurden einige Ansätze innerhalb der handlungstheoretischen Literatur erwähnt, die dies leisten können. Es soll im Folgenden geprüft werden, ob die Konzepte der kollektiven oder der Wir-Intention in der Lage sind, diese soziale, interaktive Seite von Sprecherintentionen zu berücksichtigen, ohne in das beschriebene deskriptive Dilemma und/oder die theoretische Unzulänglichkeit zu geraten. Nicht unwichtig ist hier der Begriff der Kooperation, der in einem engen Zusammenhang mit dem Gedanken des interaktiven Charakters des Sprechhandelns steht.

3 Kooperation und das Wir

Die Searle’sche Definition des illokutionären Effekts ist in Auseinandersetzung mit H. P. Grices Theorie der Sprecherbedeutung entstanden, was sich an dem zentralen Stellenwert der Sprecherintention für jeden Meinensakt zeigt. Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist der ebenfalls von H. P. Grice eingebrachte Begriff der Kooperation zwischen S und A. Wenn mit Grice ein Gespräch als kooperatives Unterfangen aufzufassen ist, dann sollte es möglich sein, die Sprecherzentriertheit der frühen Sprechakttheorie mithilfe dieses Begriffs aufzubrechen und eine S und A einbeziehende Auffassung des illokutionären Zwecks sowie der relevanten Intentionen zu erreichen. Ein Rückblick auf den klassischen Aufsatz „Logic and Conversation“ macht Grices Position noch einmal deutlich:

Our talk exchanges do not normally consist of a succession of disconnected remarks, and would not be rational if they did. They are characteristically, to some degree at least, cooperative efforts; and each participant recognizes in them, to some extent, a common purpose or set of purposes, or at least a mutually accepted direction. (Grice 1989, S. 26)

Die wechselseitig akzeptierte Richtung eines Gesprächs sollte sich nicht nur darin wiederfinden, dass es eine woraus auch immer resultierende Dynamik gibt, sondern sie sollte sich auch im Bewusstsein von S und A zeigen, denn nach Grice erkennen die Teilnehmenden ja den gemeinsamen Zweck oder die Richtung des Gesprächs, und sie unternehmen eine entsprechende kooperative Anstrengung. An diesem Punkt kommt wiederum der Begriff der Sprecherintention ins Spiel, und es stellt sich die Frage, inwiefern Gesprächsziele oder -richtungen jeweils Inhalt einer Sprecherintention sein können. Zu diesem Zweck muss grundsätzlich geklärt werden, inwiefern von mehreren Personen verfolgte, kooperative Ziele im engeren Sinne intendiert werden können, denn der Intentionsbegriff ist in seiner traditionellen Definition individualistisch geprägt.

Um diese Frage beantworten zu können, soll eine kurze Darstellung und Diskussion des Begriffs der Wir-Intention unternommen werden, denn dieser erweist sich als höchst relevant für das Problem der Ko-Konstruktion. Winfried Sellars ist einer der ersten, die sich mit diesem Konzept näher auseinandergesetzt haben, und zwar aus einer moralphilosophischen Perspektive. Der Begriff der Wir-Intention (we-intention), die nicht auf eine Ich-Intention (I-Intention) zurückführbar ist, wird deshalb notwendig, weil beide Intentionsarten erkennbar im Konflikt miteinander stehen können (vgl. Sellars 1974). Raimo Tuomela schließt in seinen – auch mit Kaarlo Miller verfassten – Schriften an das Sellars’sche Konzept der Wir-Intention an, nicht ohne es wesentlich zu erweitern. Seine und Millers Fassung dieses Begriffs sei hier kurz erläutert, und dies anhand des Aufsatzes „We-Intentions“, in dem sich ihre Auffassungen konzise bündeln und der für die gesamte Diskussion einen locus classicus darstellt (vgl. Tuomela/Miller 1988).

Im Fokus ihres Ansatzes stehen gemeinsam ausgeführte Handlungen wie diejenigen, ein Klavier die Treppe hochzutragen, Tennis zu spielen, einen Toast für einen Freund auszusprechen oder ein Gespräch zu führen (vgl. Tuomela/Miller 1988, S. 369). Der einzelne Handelnde trägt in diesem Fall seinen Anteil dazu bei, dass die kollektive Handlung gelingt. Des Weiteren bildet er eine Reihe von Intentionen und Annahmen aus (intentions/beliefs). Ausgangspunkt ist eine paradigmatische Situation, in der die Handelnden gemeinsam und intentional agieren, indem sie ein gemeinsames Ziel verfolgen, das üblicherweise die gesamte Handlung umfasst. Sieht man die gemeinsam Handelnden als ein Kollektiv, dann lässt sich mit Tuomela/Miller festhalten: „[…] that every participant in the collective must believe that every other participant will do his part and, paradigmatically, shares the relevant, action-prompting we-intention to do X and has the beliefs relevant to carrying out the intention.” (1988, S. 371) Unter einem Kollektiv können dabei unterschiedlich komplexe Personenkonstellationen verstanden werden, also soziale Gruppen, Organisationen, Institutionen bis hin zu sozialen Gemeinschaften.

 

Intentionen dieser Art sollen im Folgenden Tuomela-Wir-Intentionen, kurz TWI, genannt werden. So verstandene Wir-Intentionen erfüllen eine Standardbedingung von Ich-Intentionen nicht, die darin besteht, dass die intendierte Handlung auch individuell ausgeführt werden kann. Das kollektiv intendierte Ergebnis besteht darin, dass es von einer einzigen Person gerade nicht alleine ausgeführt werden kann.1 Andererseits sind TWIs anspruchsvoller, denn wenn ich meinen Anteil an der kollektiven Handlung erbringe, dann muss ich den gesamten Prozess aufmerksam verfolgen und meinen spezifischen Beitrag mit dem gemeinsam angestrebten Ziel laufend abgleichen. Außerdem kommt ein Minimum an Vertrauen in die andere Person hinzu, der ich zutrauen muss, dass sie ihren Anteil an der kollektiven Handlung ebenfalls erbringen kann (vgl. Tuomela/Miller 1988, S. 373).

Die Analyse in Tuomela/Millers Ansatz umfasst folgende Wir-Intention: „A member Ai of a collective G we-intends to do X if and only if …” (1988, S. 375), woraufhin die im obigen Zitat informell eingeführten intention- und belief-Bedingungen folgen. Man kann dies für überzogen halten, weil hier von der gesamten kollektiven Handlung X die Rede ist und nicht nur von dem eigenen Anteil an ihrer Realisierung. Kann ein Individuum so etwas überhaupt intentional in den Blick nehmen? Die Autoren stellen beispielsweise die Frage, ob von einem Orchestermitglied sinnvoll gesagt werden kann, dass es die-und-die Mozart-Symphonie zu spielen intendiert? Sie bejahen dies und vertreten damit eine holistische Sicht auf Wir-Intentionen. Dies entspricht offenbar der Art und Weise, wie über Wir-Intentionen gesprochen wird; ein Mitglied des – sagen wir – Leipziger Gewandhaus-Orchesters wird berechtigterweise sagen können, dass es im vergangenen Jahr die-und-die Mozart-Symphonie gespielt hat, auch wenn jeder weiß, dass es dies nicht alleine getan haben kann. Das Gesamtergebnis muss in der individuellen Intention repräsentiert sein, denn wenn es nicht so wäre, könnte die Aufführung wohl kaum gelingen (vgl. Tuomela/Miller 1988, S. 375f.).

Im Analysans der TWI sind eine intention- und zwei belief-Bedingungen enthalten, die nun genauer betrachtet werden sollen. Sie lauten auszugsweise:


(i) Ai intends to do his part of X;
(ii) Ai has a belief to the effect that the joint action opportunities for X will obtain, especially that at least a sufficient number of the full-fledged and adequately informed members of G … will … do their parts of X;
(iii) Ai believes that there is … a mutual belief … to the effect that the joint action opportunities for X will obtain. (Tuomela/Miller 1988, S. 375)

Die belief-Bedingung (ii) enthält den Begriff der hinreichenden Anzahl von Gruppen-Mitgliedern, die an der Handlung mitwirken. Die belief-Bedingung (iii) enthält den wechselseitigen Glauben, dass die belief-Bedingung (ii) erfüllt ist. Wenn diese Bedingung einen solch zentralen Stellenwert hat, dann sollte geklärt sein, was unter einer „hinreichenden Anzahl“ zu verstehen ist. Zum Teil legt sich dies aus physikalischen Gründen nahe – zum Klaviertragen benötigt man einen bis drei zusätzliche Beteiligte. Allerdings spielen auch soziale Gründe für eine Mindestanzahl eine Rolle oder auch explizite Vereinbarungen bezüglich geteilter Lasten. Die Frage der Untergrenze kann also physisch oder sozial festlegbar sein; was ist aber mit einer Obergrenze? Bei sehr großen Gruppen wie einer Massenhandlung (mass action) ist es nicht nötig, eine präzise Anzahl von G-Mitgliedern anzusetzen, so dass eine ungefähre Angabe genügt. Allerdings stellt sich die Frage der maximalen Komplexität von G, denn sie ist Teil des propositionalen Gehalts des Glaubens von Ai als Bestandteil der Wir-Intention. Sie unterliegt also kognitiven Restriktionen.

Ein herausforderndes Beispiel sind Sprechchöre, wie sie bei Demonstrationen oder Sportveranstaltungen auftreten. Der eigene Anteil am Ruf der Menge, die mehrere tausend Mitglieder betragen kann, ist hier so gering, dass die individuelle Sprechhandlung stark hinter dem Kollektiven zurücktritt. Der Unterschied zwischen einem Cellisten im Gewandhaus-Orchester und dem einzelnen Rufer in einem Sprechchor besteht in dem Beitrag der individuellen Handlung zum Gesamtziel. Damit man von einer holistischen Wir-Intention sprechen kann, die die Ich-Intention beinhaltet, muss letztere einen wesentlichen und erkennbaren Beitrag zur kollektiven Handlung leisten. Ich nenne dies die Wesentlichkeits-Bedingung. Wenn man nicht oder nur schlecht davon sprechen kann, dass der einzelne Fußballfan intendiert, einen Sprechchor zum Anfeuern der eigenen Mannschaft auszuführen, dann ist dies auf die Verletzung der Wesentlichkeits-Bedingung zurückzuführen.2

Hiermit soll die Darstellung des ausführlichen Ansatzes von Tuomela/Miller vorerst abgeschlossen werden. Der behandelte Aufsatz ist nur eine von einer ganzen Reihe von Publikationen, die in dem Buch „A Theory of Social Action“ (1984) von Raimo Tuomela gebündelt sind. Im Folgenden soll gefragt werden, ob dieser Ansatz eine tragfähige Grundlage für eine nicht-sprecherzentrierte Theorie der Sprechakte bieten kann – und somit kehren wir wieder zur Grundfrage dieses Beitrags zurück.

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