Buch lesen: «Aus meinem Leben. Zweiter Teil», Seite 22

Bebel August
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Zwickau

Nachdem ich vor meinem Haftantritt dem Direktor des Landesgefängnisses einen Besuch abgestattet, um zu erfahren, welche Erleichterungen er mir als politischer Gefangener während der Haft gewähren wollte, rückte ich am 1. Juli 1874 dort ein. Die Einrichtungen des Gefängnisses und die Erleichterungen, die den meisten politischen Gefangenen gewährt wurden, sind bereits in dem Mostschen Brief an mich erwähnt. Ich kann hier darauf Bezug nehmen. Den Besuch der Familie sollte ich monatlich einmal auf eine Stunde unter Aufsicht eines Beamten genießen können. Nachdem meine Frau einen solchen im dritten Monat meiner Haft gemacht hatte, verzichteten wir beiderseitig darauf, den Besuch zu erneuern. Zu den Kosten der Reise auch noch die Beamtenkontrolle über jedes Wort, das man miteinander sprach, in den Kauf nehmen zu sollen, das war ein zu großes Opfer. Anderweite Besuche empfing ich auch nur vereinzelt, ich sehnte mich nicht danach.

Ich stürzte mich nunmehr wieder mit allem Eifer in die Arbeit. Sehr aufregend wirkte auf mich, als von meiner Frau Berichte einliefen über den schweren Stand, den wir geschäftlich hatten, denn mittlerweile war die große Industriekrise mit aller Wucht hereingebrochen und machte sich obendrein für uns die ruinöse Konkurrenz eines neu errichteten Fabrikbetriebs geltend. Wer eine solche Situation nie durchgemacht hat, ahnt nicht, wie niederdrückend das Bewußtsein vollständiger Hilflosigkeit auf den Gefangenen wirkt. Meine Hauptgefängnisarbeit war die schon erwähnte Geschichte des deutschen Bauernkriegs – die längst vergriffen ist —, die aber schon aus dem Grunde kein Meisterwerk werden konnte, weil mir die nötigen Hilfsmittel fehlten. Ich schrieb das Buch, weil mir der große deutsche Bauernkrieg von 1525 und die ihm unmittelbar vorhergehenden revolutionären Bauernaufstände mit das wichtigste Ereignis der neueren deutschen Geschichte zu sein dünkt, das die offizielle Geschichtschreibung zu schildern schmählich vernachlässigte.

Am 1. Januar 1875 erhielt ich durch Motteler eine Depesche, daß am Vorabend York gestorben sei. York war ein knorriger und eigenwilliger Charakter, aber auch ein Mann von unermüdlicher Tätigkeit und höchster Opferwilligkeit. Dabei war er äußerst bescheiden. Er begnügte sich in den ersten Jahren als Parteisekretär mit einem Gehalt, das ihm nicht einmal erlaubte, wie er mir mal schrieb, sich eine neue Hose anzuschaffen. Er starb arm wie eine Kirchenmaus, die Partei dankte ihm dadurch, daß sie die Sorge für seine Frau und Kinder übernahm. An Yorks Stelle war schon den Herbst zuvor Auer als Parteisekretär eingetreten.

Endlich waren auch die neun Monate Zwickau überstanden. Am 1. April 1875 – dem 60. Geburtstag Bismarcks – wurde ich entlassen. Der Abschied zwischen dem Direktor und mir war auch hier ein warmer. Ich habe allezeit den Grundsatz befolgt, sich in Unvermeidliches, das man nicht zu ändern vermag, nach Möglichkeit zu fügen und den Dingen die beste Seite abzugewinnen. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, bin ich, ohne mir dabei das geringste zu vergeben, den Gefängnisbeamten bei Ausübung ihres schweren Amtes möglichst entgegengekommen, indem ich mich in die vorgeschriebene Ordnung fügte. Dafür waren sie stets dankbar. In den größeren Gefängnissen haben es die Beamten mit so viel sozial bedenklichen und verkommenen Elementen zu tun – den traurigen Produkten unserer famosen sozialen Ordnung —, daß ihr Dienst einer der schwersten ist, den es gibt; sie sind glücklich, wenn sie Leute unter ihre Obhut bekommen, mit denen sie menschlich verkehren können.

Die Zwickauer Genossen hatten sich am Tage meiner Entlassung zu einer Ovation vereinigt; sie überreichten mir und meiner Frau ein paar feine, mit einer Widmung versehene Kaffeetassen. Wir sollten das sächsische Nationalgetränk künftig noch recht lange in voller Ruhe und Muße und ungetrennt genießen. Der Wunsch war gut gemeint, aber in Erfüllung ging er nicht.

Unter den zahlreichen Gratulanten, die mir ihre Glückwünsche zu meiner Befreiung übermittelten, befand sich auch die damals noch demokratische „Frankfurter Zeitung“, die unter anderem mit Hinweis auf Bismarcks Geburtstag schrieb:

„… Unser Glückwunsch sucht an einem anderen Orte einen anderen Mann. Er gilt dem schlichten Bürger und Arbeiter, der morgen nach fast ununterbrochener dreijähriger Haft das Gefängnis verläßt mit demselben fleckenlosen Rufe, mit dem er es nach einem Richterspruch, über den, soweit es von der Mitwelt noch nicht geschehen ist, die Nachwelt richten wird, betreten hat, geliebt von seinen Parteigenossen, gefürchtet und geachtet von seinen Gegnern. Wir zählen nicht zu diesen noch zu jenen, aber wir schätzen, wo wir sie finden, Ueberzeugungstreue und ehrliches, uneigennütziges Streben, und es erfüllt uns die stärkste Sympathie für jeden, der um ihrer willen leiden muß…. Gruß und Glückwunsch darum dem Reichstagsabgeordneten August Bebel.“

Einige Monate zuvor hatte mir der Hauptbesitzer der „Frankfurter Zeitung“, Leopold Sonnemann, zwanzig Flaschen Wein ins Gefängnis geschickt; ich ließ sie nach Hause wandern, da im Gefängnis solche Genüsse nicht gestattet werden. Ich trank sie nachher in Gemeinschaft mit meiner Frau und Freunden. Zu meiner Freilassung am 1. April sandte mir dann Sonnemann noch einen brieflichen Glückwunsch, worin er bemerkte: „Ich hoffe, daß nunmehr Dein Martyrium auf längere Zeit ein Ende hat.“ Wir duzten uns seit 1866.

* * * * *

Kurze Zeit nach meiner Entladung aus Zwickau erhielt ich einen Brief von Professor Schäffle aus Stuttgart. Schäffle hatte nach seinem Rücktritt aus dem Ministerium Hohenwart in Wien sich nach Stuttgart zurückgezogen, woselbst er seinen Studien lebte. 1874 war von ihm eine Broschüre, betitelt „Die Quintessenz des Sozialismus“, erschienen, die durch die objektive Beurteilung, die er darin dem Sozialismus zuteil werden ließ, großes Aufsehen machte. Jetzt sandte er mir den ersten Band seines dreibändigen Werkes „Bau und Leben des sozialen Körpers“ nebst einem Brief mit folgendem Inhalt:

Er wisse nicht, ob ich mich seiner noch vom Zollparlament her erinnere. Gesehen hätten wir uns seitdem nicht mehr, aber wohl öfter voneinander gehört. Gingen wir auch in vielem in unseren Lebensauffassungen auseinander, so sei doch wohl das Interesse an den sozialen Fragen bei uns gleich stark geblieben. Er sei daher so frei, mir ein Exemplar seines neuen Buches, in dem mich wohl manche Ausführung interessieren dürfte, zu übersenden. Es würde ihn freuen, wenn ich das Buch, das ihm viel Gedankenarbeit verursacht habe, als ein Zeichen der Erinnerung entgegennehmen wolle.

Ich antwortete entsprechend und dankte ihm nachträglich noch besonders dafür, daß er bei seinem Eintritt ins Ministerium Hohenwart die Amnestie für die verurteilten „Hochverräter“ Scheu, Most, Oberwinder usw. erlangt habe.

Im Sommer 1877 besuchte mich Schäffle in Leipzig. Wir unterhielten uns längere Zeit. Hauptthema unserer Unterhaltung bildete die Entwicklung der sozialdemokratischen Partei und der Zeitpunkt, wann der Sozialismus zum Siege kommen werde. Ich als Optimist sah diesen Zeitpunkt sehr nahe, er dagegen meinte, das werde mindestens noch zweihundert Jahre dauern. Darüber stritten wir uns. 1880 machte ich ihm einen Gegenbesuch in Stuttgart, wo wir ebenfalls wieder eine längere Unterhaltung hatten, die zeigte, daß er uns nach wie vor freundlich gegenüberstand. In den nächsten Jahren vollzog sich aber bei ihm eine vollständige Wandlung. Nachdem Bismarck die soziale Versicherungsgesetzgebung inaugurierte, von der, wie er meinte, seine Geheimräte zu wenig verständen, wurde seine Aufmerksamkeit auf Schäffle gelenkt. Schäffle war geneigt, eine Stellung im deutschen Reichsdienst anzunehmen. Damit aber keinerlei ungünstiges Vorurteil gegen ihn bestehen bleibe, verfaßte er jetzt eine Schrift, betitelt „Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie“, die das Gegenteil von seinen früheren Auffassungen bekundete. Hermann Bahr, der in seinen jungen Jahren ebenfalls sozialistische Hosen trug wie so viele unserer Intellektuellen, verfaßte darauf eine Broschüre, betitelt „Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle“, in der er in geschickter und humoristischer Weise Schäffle und seine Schrift verspottete. Meine Beziehungen zu Schäffle hörten mit dem Jahre achtzig auf. Bekanntlich erfüllte sich seine Hoffnung, in den Reichsdienst gezogen zu werden, nicht.

Von 1871 bis zum Vereinigungskongreß zu Gotha

Die Regierungen und die Sozialdemokratie

Die Pariser Kommune hatte in den regierenden Kreisen große Besorgnisse vor der sozialistischen Bewegung hervorgerufen. Die Sympathien, die die Kommune in allen Ländern mit sozialistischer Bewegung bei den Arbeitern fand, wurden auf das unangenehmste vermerkt und steigerten das Mißbehagen. Dazu kamen die übertriebenen, um nicht zu sagen lächerlichen Vorstellungen, die sich Bourgeoisie und Regierungen von der Macht der Internationale machten. So sollte zum Beispiel die Internationale der Pariser Kommune zwei Millionen Franken, viele tausend Gewehre, Munition usw. geliefert haben, obgleich der Kommune sowohl die Mittel der Bank von Frankreich zur Verfügung standen wie die Arsenale von Paris mit ihren Munitions- und Waffenvorräten. Ueberdies war die allgemeine Volksbewaffnung bereits seit Beginn September, seit der drohenden Einschließung von Paris durch die Deutschen, also noch unter der bürgerlichen Regierung, durchgeführt worden. In Deutschland wurden ebenfalls zahlreiche Stimmen laut, die ein scharfes Vorgehen gegen die sozialistische Bewegung forderten, ein Verlangen, dem Polizei, Staatsanwälte und Gerichte bereitwillig entgegenkamen. In dieser Situation benahm sich Garibaldi sehr anständig, der in einem Briefe an den Redakteur der „Romagnole“ – Caprera, August 1871 – schrieb: Die Internationale vertrete einen zahlreichen Teil der Gesellschaft, welcher um weniger Privilegierter willen leide. Folglich müßten sie für die Internationale sein, und wenn in ihren Einrichtungen Fehler seien, müßte man sie verbessern.

Obgleich um diese Zeit die sozialistische Bewegung in Oesterreich von geringer Bedeutung war und das Ministerium Hohenwart-Schäffle nicht die geringste Neigung zu Verfolgungsmaßregeln zeigte, folgte dennoch der Reichskanzler Graf v. Beust einer Einladung Bismarcks zu einer Konferenz der beiden Kaiser und ihrer Kanzler in Gastein, um dort über Maßregeln gegen die Internationale zu beraten. Schäffle hatte von dieser Konferenz abgeraten, aber er und Beust standen auf gespanntem Fuße, auch mochte es Beust darum zu tun sein, mit seinem langjährigen intimen Feinde einmal zusammenzukommen, wohingegen Bismarck von einer Zusammenkunft mit seinem Gegner von 1866 eine Annäherung erhoffte für seine spätere äußere Politik. Soweit bekannt wurde, kam man bezüglich der Internationale überein, zunächst die soziale Lage zu „studieren“.

Dagegen sah sich Anfang Februar 1872 die spanische Regierung veranlaßt – Spanien hatte mittlerweile in der Person des Prinzen Amadeo von Italien einen König erhalten —, in einer Zirkulardepesche an die Mächte einen Notschrei über die Internationale auszustoßen, die mit ihren Bestrebungen allen Ueberlieferungen der Menschheit ins Gesicht schlage, Gott aus dem Geiste auslösche, Familie und Erbnachfolge aus dem Leben streiche und durch ihre furchtbare Organisation eine Gefahr bilde, deren Größe nicht überschätzt werden könne. Die spanische Regierung wünsche deshalb, daß eine der Großmächte die Angelegenheit gegen die Internationale in die Hand nehme. Mit diesem Verlangen kam sie bei der englischen Regierung übel an. Der Leiter der englischen auswärtigen Politik, Lord Granville, antwortete ihr in einer Note, die ihr jedes weitere Vorgehen verleidete. Er erklärte: obgleich die Internationale ein Mittelpunkt für die Verbindung von Arbeitern und Gewerkschaften in den verschiedenen Teilen der Welt geworden sei, beschränke sie sich in Großbritannien darauf, hauptsächlich Ratschläge in Sachen von Arbeitseinstellungen zu geben. Auch habe sie sehr wenig Geld. Nach den bestehenden Gesetzen Großbritanniens hätten alle Ausländer das unumschränkte Recht, dieses Land zu betreten und sich hier aufzuhalten, und während sie in diesem Lande seien, ständen sie im gleichen Grade wie die britischen Untertanen unter dem Schutz der Gesetze. Auch könnten sie nicht anders bestraft werden als für einen Verstoß gegen das Gesetz und kraft des Urteilsspruchs der ordentlichen Gerichtstribunale nach einer öffentlichen Prozedur und nach einem Erkenntnis, das sich auf die in offenem Gerichtsverfahren beigebrachten Beweise stütze. Kein Ausländer könne als solcher des Landes verwiesen werden, mit Ausnahme derer, die auf Verträge mit anderen Staaten hin behufs wechselseitiger Auslieferung von Kriminalverbrechern weggeschafft würden. Schließlich äußerte Granville, es liege bis jetzt kein Grund vor, Aenderungen der bestehenden Gesetzgebung über den Aufenthalt von Ausländern in Großbritannien vorzunehmen.

Durch diese Haltung der englischen Regierung war jede Möglichkeit zu internationalen Vereinbarungen gegen die Internationale ausgeschlossen. Endlich zeigte auch der Ausgang des Kongresses der Internationale im Haag im September 1872, der mit einer Spaltung zwischen Sozialisten und Anarchisten – dort Marx, hier Bakunin – endete, auch der ängstlichsten Regierung, daß vorläufig die befürchteten Gefahren nicht eintreten würden. Und indem die Internationale den Sitz des Generalrats von London nach Newyork verlegte, war der Beweis geliefert, daß sie selbst ihre Reorganisation für eine Notwendigkeit hielt.

War so die Aussicht auf eine internationale Verfolgung der Sozialisten geschwunden, so hielt Bismarck um so nachdrücklicher an der Verfolgung der Arbeiterbewegung durch Ausnahmemaßregeln in Deutschland fest. Dieses zeigte seine Rede, die er Ende April 1873 im Herrenhaus hielt, worin er die Notwendigkeit scharfer Gesetze gegen die Partei der Internationale – wie er uns nannte – für ebenso notwendig erklärte wie gegen die Partei der weltlichen Priesterherrschaft, das Zentrum.

Dieser Ankündigung folgte die Tat auf dem Fuße. Anfang Juni 1873 ließ er dem Reichstag einen Preßgesetzentwurf zugehen, in dem der § 20 also lautete: Wer in einer Druckschrift die Familie, das Eigentum, die allgemeine Wehrpflicht oder sonstige Grundlagen der staatlichen Ordnung in einer die Sittlichkeit, den Rechtssinn oder die Vaterlandsliebe untergrabenden Weise angreift, oder Handlungen, welche das Gesetz als strafbar bezeichnet, als nachahmungswert, verdienstlich oder pflichtmäßig darstellt, oder Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise erörtert, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft. Wer die im § 166 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich (Vergehen wider die Religion) vorgesehenen Handlungen mittels der Presse verübt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bis vier Jahren bestraft. Nach § 21 sollte der verantwortliche Redakteur einer periodischen Druckschrift mit der Strafe des Täters belegt werden.

Diese diabolischen Bestimmungen, die eine Aenderung des Strafgesetzes in wichtigen Materien enthielten, die jede wissenschaftliche Erörterung der mit Strafe bedrohten Fragen unmöglich machten und außerdem gegen alle Parteien Anwendung finden konnten, waren denn doch nebst anderen Bestimmungen der Mehrheit des Reichstags zu bedenklich. Der Entwurf fiel.

Mit seinem Preßgesetzentwurf hatte aber Bismarck nicht genug. Er beantragte in derselben Session auch eine Abänderung und Verschärfung des § 153 der Gewerbeordnung, wonach unter Umständen statt der bisherigen Maximalstrafe von drei Monaten Gefängnis eine solche bis zu sechs Monaten, eventuell bis zu einem Jahre erkannt werden konnte. Ferner schlug er eine Aenderung des § 108 der Gewerbeordnung vor, wonach die Streitigkeiten zwischen Unternehmern und den von ihnen beschäftigten Arbeitern durch Gewerbegerichte entschieden werden sollten, deren Vorsitzender von der obersten Justizaufsichtsbehörde des betreffenden Bundesstaats, deren Beisitzer durch die Gemeindevertretungen gewählt werden sollten. Wegen Schluß der Session blieben die Gesetzentwürfe unerledigt.

Im folgenden Jahre folgte der Entwurf eines Kontraktbruchgesetzes und ein neuer Preßgesetzentwurf, und in der Session von 1875/76 ein Entwurf für die Abänderung des Strafgesetzbuches, und endlich nach den Attentaten des Frühjahres 1878 das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Da vom Jahre 1874 ab die Sozialdemokratie wieder durch ihre Vertreter im Reichstag zum Worte kam, komme ich noch auf die Behandlung dieser Vorlagen ausführlicher zu sprechen.

Die Einigungsfrage vor den beiden Fraktionen

Der Charakter, den die Verfolgungen seit 1872 gegen beide Fraktionen der Sozialdemokratie annahmen, hätte bei ihnen das Bedürfnis nach festem Zusammenhalten und nach Vereinigung hervorrufen sollen. Davon war aber vorläufig wenig zu merken. In den Jahren 1872 und 1873 waren sogar die gegenseitigen Angriffe in der Presse der beiden Fraktionen heftiger als je zuvor, und der Ton in der Presse übertrug sich auf die Versammlungen. Da um jene Zeit Auer neben York unser eifrigster und sehr wirksamer Agitator war, bekamen sie die Folgen dieser Kampfmethode besonders zu genießen, Auer noch speziell in seiner Agitation in Berlin, worüber sich beide öfter in Briefen, die sie an mich nach Hubertusburg richteten, beschwerten. Auer sprach nur noch von den Schülern Tölckes und von Tölckianern. Aus diesen Vorgängen erklärt sich der bittere Ton, den Auer einige Male auf den Parteikongressen anschlug, sobald die Einigungsfrage zur Erörterung kam, und sein Verhalten auf dem Einigungskongreß in Gotha. Das schloß aber nicht aus, daß er ehrlich die Vereinigung wollte, und als sie endlich unter seiner Mithilfe kam, keiner mehr als er bemüht war, die mancherlei persönlichen Gegensätze, deren Vorhandensein nach jahrelanger erbitterter Bekämpfung nur natürlich war, auszugleichen.

Die Frage der Vereinigung wurde zum ersten Male offiziell auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Berlin (22. bis 25. Mai 1872) erörtert, auf der das Mitglied Harm, der sich schon auf dem allgemeinen deutschen Webertag sehr versöhnlich gezeigt hatte, im Namen seiner Elberfelder Genossen den Antrag stellte: „Die Generalversammlung möge Mittel und Wege suchen, um die verschiedenen Fraktionen der deutschen Arbeiterpartei zu vereinigen.“ Dieser Antrag wurde heftig bekämpft unter starken Ausfällen gegen unsere Partei und schließlich Uebergang zur Tagesordnung beschlossen.

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Vom 7. bis 11. September 1872 hielt die sozialdemokratische Arbeiterpartei ihren vierten Kongreß in Mainz ab. Den Vorsitz führten Motteler und Vahlteich. Unter den Gästen befand sich Hartung-Wien, der jetzt die schweizer Gewerkschaften vertrat. Hartung war es 1869 gelungen, sich der Verhaftung zur Einleitung des Wiener Hochverratsprozesses auch wider ihn durch die Flucht zu entziehen. Er war eine Reihe von Jahren in Zürich und der schweizer Bewegung tätig, zog sich aber dann zurück und wurde als Inhaber einer großen Schreinerei in Zürich ein wohlhabender Mann. Der mit Hartung eng befreundete Oberwinder verblieb in Oesterreich und war Redakteur des „Volkswille“. Die gegen ihn ausgesprochene Ausweisung war zurückgenommen worden. Die Rolle, die er aber jetzt in der österreichischen Arbeiterbewegung spielte, wurde immer mehr eine zweideutige und führte schließlich zur Spaltung. Aber auch seines Bleibens war auf die Dauer nicht in Oesterreich. In der Zeit des Sozialistengesetzes lebte er in Paris und kam hier bei unseren Parteigenossen in den Verdacht, im Dienste der preußischen Polizei zu stehen. Der Partei hatte er Valet gesagt. Später kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm die Chefredaktion des „Dresdener Anzeigers“, eines magistratlichen Amtsblattes. Oberwinder setzte sich im Jahre 1911 in seiner Heimat Weilburg an der Lahn zur Ruhe.

Ich erwähne dieses hier im Anschluß an meine Bemerkungen über Hartung, nachdem ich in dieser meiner Arbeit Oberwinders wiederholt gedachte.

Andreas Scheu, auch einer der Führer der damaligen österreichischen Bewegung, der mit Oberwinder in Konflikt geriet, ging nach schweren Verfolgungen außer Landes, und zwar nach England.

Unter den 51 Delegierten auf dem Mainzer Kongreß befand sich zum ersten Male der junge Karl Grillenberger, der sich um jene Zeit die ersten Sporen in der Nürnberger Arbeiterbewegung erworben hatte und deshalb in der Cramer-Klettschen Fabrik, in der er als Schlosser arbeitete, gemaßregelt worden war.

In den Verhandlungen des Kongresses kam auch die Vereinigungsfrage zur Erörterung. Es lag zunächst ein langer Antrag von Bruno Geiser vor, der die Redaktion des „Volksstaat“ scharf tadelte wegen ihrer Polemik gegen den „Neuen Sozialdemokrat“. Er verlangte, daß die Redaktion des „Volksstaat“ unverzüglich die Polemik einstelle und eine solche nur dann aufnehme, wenn der Parteiausschuß eine solche billige. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Es standen dann weiter drei Anträge zur Verhandlung, die sämtlich die Vereinigung befürworteten. Schließlich fand folgender Antrag Annahme, wodurch die anderen Anträge erledigt waren:

„Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ist seinen sozialistischen Prinzipien gemäß der einzige natürliche Bundesgenosse der sozialdemokratischen Arbeiterpartei; der Kongreß beauftragt demgemäß den Ausschuß, ein prinzipielles Zusammengehen mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein immer von neuem zu versuchen; ferner dafür Sorge zu tragen, daß die Haltung aller dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein abgeneigten Mitgliedschaften eine versöhnliche werde und die Redaktion des ‚Volksstaat‘ unverzüglich jede Polemik gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und seine Leiter einzustellen, sowie etwa neu eintretenden Anfeindungen von seiten des letzteren mit Schweigen zu beantworten, falls der Ausschuß nicht ausnahmsweise eine sachgemäße Erwiderung für unbedingt geboten erachtet.“

Kurze Zeit darauf, am 20. September 1872, veröffentlichte der „Neue Sozialdemokrat“ einen Artikel mit der Ueberschrift: „Ein ernstes Wort an die Arbeiter der Eisenacher Partei“, eine Anrede, in der er seiner ständigen Taktik uns gegenüber den Namen der Partei verschwieg und einen Gegensatz zwischen den Arbeitern und Nichtarbeitern in der Partei konstruierte. In dieser Ansprache, die der „Volksstaat“ wörtlich abdruckte, führte er bittere Beschwerde über angebliche Angriffe, die der „Volksstaat“ und einzelne Mitglieder der Partei trotz jener in Mainz beschlossenen Resolution gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein richteten. Auf seiner Seite habe man stets nur in der Verteidigung gestanden, wohingegen der „Volksstaat“ der Angreifer gewesen sei. Daraufhin erwiderte der „Volksstaat“ unter dem 28. September in einem Artikel mit der Ueberschrift „Eine Antwort“ und unterzeichnet „Die Redaktion“, in der jene Angriffe zurückgewiesen wurden. Am Schlusse des Artikels, den Liebknecht und ich auf Hubertusburg verfaßt und der Redaktion zugesandt hatten, hieß es: „Wir wollen von nun an alle Polemik gegen den ‚Neuen Sozialdemokrat‘ einstellen unter der Bedingung, daß er 1. unsere Partei ausdrücklich und unzweideutig als eine sozialdemokratische anerkennt und sie, wenn er von ihr spricht, stets bei ihrem richtigen Namen nennt, und 2. daß er die Angriffe gegen die Internationale Arbeiterassoziation unterläßt.

Wir unsererseits erklären, wie wir das schon des öfteren getan haben, 1. daß wir die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins als unsere Parteigenossen ansehen, was nicht ausschließt, daß wir gegen gewisse Persönlichkeiten im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein so lange ein entschiedenes Mißtrauen hegen werden, bis die von unserer Seite geltend gemachten Verdachtsgründe konklusiv widerlegt sind; 2. erklären wir uns bereit, einen Vorschlag zu unterstützen, der dahin ginge, einen gemeinschaftlichen Kongreß der beiden Fraktionen einzuberufen, auf welchem die Differenzpunkte behufs einer Einigung besprochen werden. Sollte eine Einigung respektive Verschmelzung nicht möglich sein, dann müßte wenigstens ein gemeinsames Programm aufgestellt und die Formen festgesetzt werden, innerhalb denen eine gemeinsame Aktion (bei Wahlen, der Agitation usw.) sich zu bewegen hätte. Ein von beiden Teilen gleichmäßig zu wählender Ausschuß hätte die Ausführung der vereinbarten Punkte zu überwachen. Ferner möchten wir noch die Niedersetzung eines aus beiden Fraktionen gleichmäßig zu wählenden Schiedsgerichts befürworten, das die gegen verschiedene Mitglieder einer der beiden Fraktionen von der anderen Seite erhobenen Anklagen zu untersuchen und zu richten hat. Bemerken wollen wir, daß ähnliche Vorschläge, wie die soeben angedeuteten, privatim schon wiederholentlich Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von uns unterbreitet und von diesen auch gebilligt worden sind.“

Auf dem Mainzer Kongreß habe die sozialdemokratische Arbeiterpartei offiziell in feierlichster Form ihrer versöhnlichen Stimmung Ausdruck gegeben; am Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei es jetzt, die dargebotene Hand zu ergreifen und der deutschen Arbeiterwelt den Frieden zu geben.

Auf diesen Vorschlag antwortete der „Neue Sozialdemokrat“ durch nichtssagende Ausflüchte. Als dann kurze Zeit darauf die Lassalleaner eine Versammlung unserer Parteigenossen in Berlin gewaltsam sprengten, veröffentlichte der „Volksstaat“ eine Art Kriegserklärung gegen den „Neuen Sozialdemokrat“, die mit den Worten schloß: „Die offenbaren Verräter der Arbeitersache müssen unschädlich gemacht werden.“

Damit war der Kampf zwischen den beiden Fraktionen aufs neue entbrannt, man schoß in den beiden führenden Blättern herüber und hinüber und klagte sich gegenseitig mit einer Heftigkeit an, daß es schien, als stehe eine Vereinigung weiter denn je im Felde. Schließlich mußte es als ein Fortschritt in der Stellung der beiden Fraktionen zueinander angesehen werden, als der „Neue Sozialdemokrat“ anläßlich der Wahl am 20. Januar 1873 im 17. sächsischen Wahlkreis seine Parteigenossen dort aufforderte, nichts gegen meine Wiederwahl zu unternehmen.

Einen sehr unangenehmen Eindruck machte es auf unserer Seite, daß F.W. Fritzsche, der 1869 die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach mit gegründet hatte, jetzt plötzlich wieder auf die andere Seite schwenkte und Stellung gegen uns nahm.

In diesem gegenseitigen Kampfe glaubte die Kontrollkommission, die in Breslau ihren Sitz hatte, unter Führung Geisers einen Rüffel der Redaktion des „Volksstaat“ erteilen zu sollen, daß sie auf eigene Faust Versöhnungsvorschläge gemacht und dabei den Kampf wider den „Neuen Sozialdemokrat“ abermals aufgenommen habe.

Die Antwort gab der Kontrollkommission die nächste Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

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Bei den polizeilichen Verfolgungen, die in jener Zeit in Betracht kamen, suchte der Leipziger Polizeidirektor seine Kollegen im übrigen Deutschland in den Schatten zu stellen. Der Auflösungs- und Ausweisungswut fügte er ein Verbot des Besuchs des Internationalen Arbeiterkongresses im Haag hinzu mit Androhung von vier Wochen Gefängnis im Falle der Zuwiderhandlung. Ebenso verbot er die Mitgliedschaft, die Anwerbung von Mitgliedern und die Geldsammlung für die Internationale. Als dann Hepner trotz des Erlasses eines Verbots den Haager Kongreß besuchte, erreichte ihn das angedrohte Geschick. Er bekam seine vier Wochen Gefängnis und wurde im nächsten Frühjahr auf Grund dieser Bestrafung aus Leipzig ausgewiesen, eine Maßregelung, die ihm nachher in der Umgebung Leipzigs wiederholt widerfuhr. Da er aber auch mit dem Parteiausschuß in Konflikt gekommen war, entschloß er sich, nach Breslau zu übersiedeln und dort einen Buchverlag zu gründen.

Die Animosität, die Hepner gegen den Parteiausschuß und speziell gegen York als Parteisekretär empfand, in dem er nur den verbissenen Lassalleaner, den bösen Geist in der Partei sah, veranlaßten ihn, an Marx und Engels Mitteilungen gelangen zu lassen, wonach es in der Partei sehr trübe aussehen sollte. Bei dem übertriebenen Mißtrauen, das Marx und Engels gegen alles Lassallesche empfanden, genügten diese Hepnerschen Schilderungen, um Engels zugleich im Namen von Marx zu einem Warnungsbrief an Liebknecht zu veranlassen. Da mir Liebknecht den Inhalt dieses Briefes mitteilte, nahm ich Veranlassung, an Marx folgendes zu schreiben:

„Hubertusburg, den 19. Mai 1873.

Geehrter Freund!

… Es sind mehr als 5 Jahre, daß ich Ihnen zum letztenmal geschrieben und jener Brief betraf Schweitzer. Dieser ist nun glücklich gestürzt und vieles andere seit jener Zeit ebenfalls. Unsere Partei hingegen hat einen mächtigen Aufschwung genommen und ich hoffe in weiteren 5 Jahren ist sie so weit, daß sie ein ernsthaftes Wörtchen mitreden kann. Hepner hat allem Anschein nach Ihnen und Freund Engels unsere Parteiverhältnisse sehr düster gemalt, sehr mit Unrecht. Ich habe darüber Freund Engels ausführlicher geschrieben, der Ihnen Mitteilung davon machen wird. Im großen und ganzen halte ich die Parteiverhältnisse für durchaus zufriedenstellend; was noch mangelhaft ist, wird in nicht allzulanger Zeit sich beseitigen lassen, allerdings ist da auch notwendig, daß man sich leidlich verträglich hält und nicht mit Gewalt Krakeel haben will. Was mich zu dieser Verträglichkeit bestimmt, ist, daß ich genau weiß, daß der beste und ehrlichste Wille für das Wohl der Partei auch bei den Andersmeinenden vorhanden ist. In einem solchen Falle halte ich es für unrecht, Meinungsverschiedenheiten schroff zu behandeln und zum Bruch zu reizen. Glauben Sie aber nicht, daß wir deshalb die Verträglichkeit zur Schwäche treiben, es gibt eine Grenze, wo sie aufhört; die Mittel und die Macht fehlen dann auch nicht, um unseren Willen durchzusetzen …

Dem Wunsche Liebknechts, daß Sie Lassalles Schriften mal zum Gegenstand einer kritischen Abhandlung machen möchten, schließe ich mich vollkommen an. Eine solche ist durchaus notwendig, und damit sie die nötige Wirkung erzielt, müßten Sie und kein anderer sie veröffentlichen. Eine solche Kritik würde der Partei in Deutschland nach verschiedenen Seiten hin den Boden ebnen.

Mit Liebknecht habe ich schon mehrere Male gesprochen wegen neuer Herausgabe des Kommunistischen Manifestes; wir können es aber in Rücksicht auf den Schluß nicht riskieren. Dieser würde uns sofort einen Hochverratsprozeß auf den Hals laden. Das Manifest ist zwar in einem Heft des Leipziger Hochverratsprozesses als Aktenstück abgedruckt, es sind auch einige Separatabzüge gemacht worden, aber das genügt nicht, es müßte nachdrücklich empfohlen und öffentlich verkauft werden können. Diese Schrift, mit einem passenden Vorwort verbunden, würde vielen die Augen öffnen, sie würde beweisen, wie unendlich schwächlich die Lassalleschen Vorschläge sind. Ueberlegen Sie sich die Sache einmal.

Mit freundlichem Gruß Ihr Bebel.“

In meinem Brief an Engels lauteten die entscheidenden Stellen: