Buch lesen: «Aus meinem Leben. Zweiter Teil», Seite 21

Bebel August
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Liebknecht und ich hatten selbstverständlich das Bedürfnis, wenigstens mit den führenden Genossen draußen in möglichster Fühlung zu bleiben. Das war allerdings nur in beschränktem Maße möglich. Konnten wir auch öfter Briefe heimlich hinausbringen, die Gefahr bestand, daß durch eine ungeschickte Antwort dieser Verkehr dem Anstaltsdirektor verraten wurde, und das hätte für uns unangenehme Folgen gehabt. Es galt also, vorsichtig zu sein. So schrieben wir nach Möglichkeit direkt, obgleich diese Korrespondenz der amtlichen Kontrolle unterlag. Ab und zu nahm dieselbe auch einen humoristischen Charakter an. Einen Brief, den ich von Most als Antwort auf einen solchen von mir aus dem Zwickauer Landesgefängnis erhielt, woselbst er wegen verschiedener Preß- und Redevergehen über ein Jahr zu verbüßen hatte, bringe ich hier zum Abdruck, weil er zugleich die Persönlichkeit Mosts am besten charakterisiert. Most antwortete mir:

Zwickau, den 21.4.73.

Mein lieber Bebel!

Aus Deinem Schreiben, das wie ein lichter Blitzstrahl aus düsterem Himmel in meine Einsiedelei fuhr, ersehe ich und freue mich darüber, daß es Euch ruchlosen Bösewichtern, die Ihr mittels Stahlfedern und Tintentöpfen den Staat in Gefahr gebracht hattet, ganz vortrefflich ergeht. – Ihr wollt nun auch wissen, wie es mit mir steht; glaub's gern, da ich mir denken kann, daß es Euch gerade so ergehen wird, wie es mir erging, ehe ich hier meinen Einzug hielt, daß Ihr nämlich bei dem Namen Zwickau stets an ein Zwicken denkt und ein „Au“schreien zu vernehmen wähnt. Ich muß gestehen, daß es mir trotz meiner zähen Katzennatur und meines Galgenhumors – ohne mich gerade einer Angstmichelei hinzugeben – nicht ganz so wohl war, wie den bekannten 500 Säuen, wenn ich vor meiner Hieherkunft an dieselbe dachte, jetzt aber, wo ich da bin, hat die Sache ein ganz anderes Gesicht. – Natürlich solch ein Jagdschloßleben wie Ihr führe ich nicht, sondern eher ein Karthäusermönchsdasein, allein Langeweile habe ich desungeachtet auch nicht, da ich ja noch gar vieles nachzuholen habe und jetzt daher die Gelegenheit zu fleißigem Studieren benütze. Zur Zerstreuung dienen mir die Zeitungen, welche ich erhalte, und alle meine leiblichen Bedürfnisse befriedige ich in gewohnheitsmäßiger Weise (Kost, Kleidung usw.). Ueberhaupt erdulde ich nur eine Freiheits-, nicht aber auch eine Leibesstrafe, wofür ich alles halte, was dem Gefangenen außer der Entziehung seiner Freiheit angetan wird. Bequemlichkeiten habe ich, von einem zu schriftlichen Arbeiten geeigneten Tische abgesehen, nicht. Nach einem eigenen Bette empfinde ich kein Bedürfnis, während ich aber mein eigenes Kopfkissen benütze. Die Zelle ist eben eine solche, wie sie Vahlteich schilderte (der ebenfalls längere Zeit im Landesgefängnis zu Zwickau war); andere gibt es hier nicht; man gewöhnt sich indes bald daran, zumal diese Zellen trotz des hochgelegenen Fensters sehr hell sind. Spazieren gehe ich pro Tag 2 Stunden in einem Raume, welcher ein Mittelding zwischen Hof und Garten ist, und zwar allein. Besuche macht mir niemand, weshalb ich natürlich auch keine annehmen kann. Dir wird es seinerzeit nicht verwehrt werden, daß Du mit Deinen Familiengliedern verkehrst. Ebenso wird man Dir so wenig wie mir den Bart abnehmen wollen. Licht brenne ich bis 10 Uhr. So, das wäre das Wesentlichste, was ich Dir von meiner Sozialistenklause aus berichten kann. Betreffs der Studien seid Ihr freilich schön heraus, da Ihr gleich Euren Professor bei Euch habt. Ich fühle es besonders bei Sprachstudien, wie sehr da ein Lehrer mangelt, zumal ja die Konversation ohne einen solchen gar nicht gepflogen werden kann. Apropos! Was für ein Lehrbuch benütztest Du fürs Französische? Mir hat Vahlteich auf meinen Wunsch nach einer französischen Grammatik einen ganz antiken, unbrauchbaren, unausstehlich-umständlichen und verkehrten Schunken (Hirzel) übermittelt, den ich schon manchmal vor Zorn am liebsten mitten entzwei gerissen hätte. – Was Du von Thiers schreibst, ist klar. Dieser Knirps ist der größte Intrigant Frankreichs, der lebendig gewordene Geldsack und zugleich die einzige Person, welche die Sache der Monarchie zu fördern verstand, freilich ohne Erfolg, allein der Plan war wenigstens nicht schlecht angelegt: den Status quo so lange wie möglich aufrecht zu erhalten und so schön langsam, gleichsam unmerklich die Republik erblassen und die Monarchie erscheinen zu lassen. Jeder andere Monarchist würde an seiner Stelle längst einen Staatsstreich gemacht haben und – dabei das Genick gebrochen, wie überhaupt der Monarchie den letzten Rest gegeben haben. In Spanien – ist man zu glauben versucht – haben die regierenden Tratschweiber vor lauter Schwätzen ihr bißchen Verstand verloren, sonst könnte es doch wahrhaftig nicht möglich sein, daß sie mit der Handvoll karlistischer Mordbrenner nicht fertig werden. Nun, hoffentlich wird da, wie in Frankreich, bald energisch ausgemistet. – Du staunst über die Fortschritte, die unsere Sache in der jüngsten Zeit gemacht hat; nun, die Ursachen sind zahlreich genug, um solche Wirkungen zu erzeugen. Ich sage Dir: nur 1000 Mann wie Du, oder selbst nur wie ich (ohne Selbstüberhebung) – und Europa, nicht bloß Deutschland, ist binnen 5 Jahren sozialistisch. Es erstehen zwar neue Kräfte genug, und wenn die Feigheit nicht so groß wäre, zeigte sich noch mancher, aber es sind viel zu wenig. Man sollte glauben, die meisten Menschen fallen bei der Geburt auf den Kopf oder gar auf den Mund, weil sie nicht imstande sind, den letzteren ordentlich aufzumachen. Und wir brauchen weiter nichts, als bloß Leute, die Mund und Herz am rechten Flecke haben. – Wenn ich mich schon in keinen großen Hoffnungen wiege, so freue ich mich immerhin gewaltig auf die nächste Wahlkampagne. Wenigstens wird agitatorisch gefletscht werden, daß die Funken sprühen. Die Situation ist für uns wie geschaffen. Fortschritts-Bankrott, Siegestaumel-Katzenjammer, Invalidenfrage, Wohnungsfrage, Schulfrage, Milliardenfrage, Friedensfrage, Gründerfrage, „Kulturkampf“-Angelegenheit, Fabrikantenbünde, Maßregelungen, Verfolgungen, Schubsereien usw. werden ihr Schärflein zu unsern Gunsten beitragen. Somit konserviere ich meine Lungenflügel und wetze meinen Schnabel, um dereinst mit wahrer Wollust, wenn die Wahlschlacht tobt, so manchen politischen Sumpfpiraten in den Grund bohren zu können. – In Sachsen freilich werde ich direkt nicht lospauken können, allein es gibt anderwärts auch viele Leute, denen man die Bretter loslösen muß, welche vor ihre Hirnkästen genagelt sind. Aus Sachsen wurde ich nämlich polizeilich ausgewiesen, wiewohl sich die höheren Instanzen noch nicht darüber ausgelassen haben, ob dieses Ding der gesetzlichen Unmöglichkeit auch durchgeführt werden soll, allein ich erwarte nichts Gutes, es ist mir aber auch ganz „schnuppe“, wie die Sache abläuft. Weniger „schnuppe“, ja geradezu unbegreiflich ist es mir, daß zu diesem Akt … 1 der sanfte Julius2 bisher nicht zu bewegen war, einen Kommentar zu liefern. Richtig, das Schönste hätte ich bald vergeben: im Falle ich trotz Ausweisung wieder in Sachsen mich zeigen sollte, wurde mir aktenmäßig bedeutet, steckt man mich in ein Korrektionshaus!! – Und auch darüber wird geschwiegen. – Nun, wenn ich wieder frei bin, ist auch noch Gelegenheit zum – — —.

Im allgemeinen befinde ich mich sehr wohl und bin bei ausgezeichnetem Humor. Jetzt lebe wohl, grüße alle Insassen des Sozialistenseminars und sei auch Du bestens gegrüßt von Deinem

Joh. Most.

Einen anderen Charakter wie der Mostsche Brief hatte ein solcher von Kokosky an uns. Dieser, der 1871 in Königsberg die „Demokratischen Blätter“ herausgab, mußte diese bald eingehen lassen und trat Ende 1872 auf Einladung von Bracke in die Redaktion des „Braunschweiger Volksfreund“. Kokosky hatte eine sehr humoristische Ader, wovon die Kneipabende der damaligen Parteitage zu erzählen wissen. Auch er verfiel dem Schicksal der Parteiredakteure jener Zeit. Es währte nicht lange, und er hatte so und so viele Monate Haft auf dem Rücken. Diese verdarben ihm aber nicht den Humor, wie folgender Brief zeigt:

Braunschweig, den 14. Mai 1873

Werte Freunde! Sie haben es gut; vorsorglich hat der väterliche Staat Sie in sein Gewahrsam genommen, damit Sie in beschaulicher Stille die Segnungen einer guten Regierung kennen lernen. Haben die drei Männer im feurigen Ofen Loblieder singen können, warum sollt Ihr es nicht, wenn es anders die Festungsordnung nicht verbietet, hinter den Mauern von Hubertusburg können?

Auch mir hat eine gütige Vorsehung drei Monate Festungshaft gewährt, damit ich wenigstens für einige Zeit den Schreckruf nicht zu hören brauche: Herr Kokosky, es fehlt Manuskript! Schon der Gedanke hat etwas Beruhigendes, daß etwaige Briefe, die man empfängt, erst vorher die Zensur passieren müssen, so daß unangenehme und aufregende Mitteilungen fern gehalten werden. So enthalte ich mich auch aller revolutionären Mitteilungen, so gern ich Euch auch über den Stand der Rüstungen, über die äußerst gelungene Anfertigung der Handgranaten und Nitroglyzerinbomben, die wahrhaft Wunder verrichten, aufklären möchte. Nur das eine:

Hamburg, 27. Mai. Petroleum fester; loco R.-M. 16,20-80, per Mai 16,20, Aug.-Dez. 17 B., 16,90 G.

Die Bourgeoisie fängt bereits an, Sie zu beneiden. Als neulich in einer Bourgeois-Gesellschaft auf die Sozialdemokraten losgezogen wurde, meinte ein für sehr fein, ja für oberfein gehaltener Börsier: „Bei den heutigen Börsennachrichten geht mir der Kopf so mit Grundeis, daß ich Bebel beneiden möchte, daß er ruhig kann sitzen in Hubertusburg und braucht sich nicht zu kümmern um die Schwankungen der Kurse. Man gebe so einem Sozialdemokraten so für 30000 Taler Wechslerbank zu 130 und lasse sie dann fallen auf 85, oder Louise Tiefbau mit 15 Prozent über Pari, und ich kann Ihnen sagen, sie sind gestraft genug.“ So, von dieser Seite müßt Ihr die Sache betrachten lernen, dann wird das gärende Drachengift sich wieder in die Milch der frommen Denkungsart verwandeln, mit welcher und mit den herzlichsten Grüßen – ich schließe, da der Brief zur Post gebracht werden soll – ich bleibe

Euer treuer Freund und Parteigenosse
S. Kokosky.
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Am 29. Oktober 1873 starb der König Johann von Sachsen, und sein Sohn Albert trat an seine Stelle. Da in der Regel ein solcher Thronwechsel mit einer Amnestie verbunden ist, hofften auch unsere Frauen auf eine solche. Man konnte ihnen das nicht verargen, denn sie litten am härtesten unter unserer Verurteilung und Haft, die wir als eine nicht zu vermeidende Konsequenz unserer Tätigkeit ansahen. Sobald wir aber von den erweckten Hoffnungen erfuhren, schrieben wir ihnen, sie möchten sich nicht mit falschen Hoffnungen tragen. Eine Amnestie werde kommen, aber nicht für uns. In dem Briefe an meine Frau bemerkte ich: der neue König werde eher alle Zuchthäusler Sachsens begnadigen als uns. Die Amnestie fiel sehr mäßig aus, von den zahlreichen gefangenen Parteigenossen in den verschiedenen sächsischen Gefängnissen wurde nach meiner Erinnerung nicht einer getroffen. Und das war gut so. Die allgemeinen Reichstagswahlen, die Anfang 1874 stattfanden, weil damals der Reichstag nur eine dreijährige Legislaturperiode hatte, zeigten eine Stimmung, die durch Amnestien nicht hätte verdorben werden dürfen.

Mir kam der Gedanke, daß ich mich auch als Gefangener in sehr nützlicher Weise an der Wahlagitation beteiligen könnte durch Abfassung einer Broschüre über die bisherige Tätigkeit des Reichstags, die den Kandidaten und Agitatoren der Partei das nötige Material liefere. Gedacht, getan. Die Broschüre erschien rechtzeitig unter dem Titel: Die parlamentarische Tätigkeit des Reichstags und der Landtage und die Sozialdemokratie von 1871 bis 1873. Als Anhang hatte ich derselben die wichtigsten Bestimmungen des Reichswahlgesetzes, der Wahlgesetzverordnung, der einschlägigen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs, der Vereinsgesetze und Winke für die Agitation angefügt. Die Broschüre, die anonym erscheinen mußte, wurde von der Partei mit großer Genugtuung begrüßt. Zwei Jahrzehnte später machte mir sogar der Abgeordnete Eugen Richter ein Kompliment darüber, als wir uns eines Tages auf einer Reise nach Hamburg in einem Wagenabteil begegneten. Wir hatten bis dahin, obgleich wir damals bereits über fünfundzwanzig Jahre Kollegen im Reichstag gewesen waren, nie miteinander eine Privatunterhaltung gepflogen. Diese kam jetzt in Fluß. Im Laufe der Unterhaltung erzählte mir Richter, er habe in den siebziger Jahren in einer thüringischen Stadt einen Vortrag in einer Volksversammlung gehalten, wobei in der darauf stattgefundenen Debatte ihm ein Parteigenosse von mir eine Reihe Sünden vorgehalten, die er zum Teil längst vergessen gehabt habe. Da er bemerkte, daß der Redner die Vorwürfe aus einer Broschüre zitierte, habe er einen seiner Parteigenossen gebeten, sich an den Redner heranzuschlängeln, um festzustellen, was für eine Broschüre es sei, aus der er zitiere. Er habe alsdann sich dieselbe beschafft und aus dem Inhalt ersehen, daß die der Broschüre zugrunde liegende Idee eine sehr gute sei. Darauf habe er sich entschlossen, den Gedanken, wenn auch in anderer Form, ebenfalls für seine Partei zur Durchführung zu bringen. So sei sein bekanntes politisches Abcbuch entstanden. Ich war in diesem Augenblick ein wenig stolz, meinem vielgerühmten politischen Gegner als Lehrmeister gegenüber zusitzen. Später haben bekanntlich auch die anderen Parteien, unserem Beispiel folgend, derartige politische Leitfäden herausgegeben.

Eine andere Wirkung meiner Broschüre war, daß ein Kaplan Hohoff aus Hüffe in Westfalen sich veranlaßt sah, in mehreren Artikeln, die der „Volksstaat“ veröffentlichte, gegen meine Auffassung des Christentums und des Kulturkampfes zu polemisieren. Ich antwortete in einer Reihe Artikel, die nachher als Broschüre unter dem Titel „Christentum und Sozialismus“ erschienen sind und bis heute eine größere Zahl Auflagen erlebten.

Die Wahlen waren auf den 10. Januar 1874 angesetzt worden. Das Wahlresultat war für uns sehr befriedigend. Wir hatten auf den ersten Hieb sechs Abgeordnete durchgebracht – Seib-Freiberg, Liebknecht-Stollberg-Schneeberg, Most-Chemnitz, Vahlteich-Mittweida-Burgstädt, Motteler-Crimmitschau-Zwickau und mich in meinem alten Kreise Glauchau-Meerane. Im 13. Wahlkreis Leipzig-Land war Johann Jacoby in Stichwahl gekommen. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hatte zwei seiner Kandidaten durchgebracht. Hasenclever in Altona und Reimer im schleswig-holsteinschen Wahlkreis Seegeberg. Hasselmann kam in Barmen-Elberfeld zur Stichwahl und siegte. Auch Johann Jacoby siegte mit 7577 gegen 6674 Stimmen, aber zur allgemeinen und unangenehmen Ueberraschung der Partei lehnte er das Mandat ab. Es war richtig, er hatte bei der Befragung, ob er eine Kandidatur annehme, nicht auch die Zusage gemacht, daß er eine Wahl annehmen werde. Er hatte in seinem Briefe ausgeführt: Den Parteigenossen sei seine Ansicht über das preußisch-deutsche Kaisertum bekannt; sie möchten hiernach ermessen, wie wenig Verlangen er trage, an den unersprießlichen Reichstagsverhandlungen sich zu beteiligen. Sollte – aus taktischen Gründen – die Partei für gut befinden, ihn als Kandidaten aufzustellen, so habe er nichts dagegen, er müsse jedoch im voraus bemerken, daß er – im Falle der Wahl – die freie Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Mandats sich vorbehalte. In dem Ablehnungsbrief bemerkte er, er habe seine Kandidatur nur als Protestkandidatur aufgefaßt, denn wie er über die neue Ordnung der Dinge in Deutschland denke, habe er schon am 6. Mai 1867 im preußischen Abgeordnetenhaus ausgesprochen. Er glaube nicht daran, daß man auf parlamentarischem Wege einen Militärstaat in einen Volksstaat verwandeln könne.

Der Fehler lag beim Wahlkomitee, das auf seinen ersten Brief keine klipp und klare Antwort verlangte. Die Aufregung über den Schritt Jacobys wurde in der Partei noch größer, als bei der Nachwahl unser Kandidat Wilhelm Bracke mit 5676 gegen nahe an 8000 Stimmen, die auf den Gegner fielen, unterlag. Ich selbst war über den Vorgang so aufgebracht, daß ich einen heftigen Brief an Dr. Guido Weiß, den Freund Jacobys, schrieb, worin ich die Ablehnung der Wahl tadelte.

Die beiden Fraktionen der Sozialdemokratie waren also nunmehr durch 9 Abgeordnete im Reichstag vertreten. Die Stimmenzahl, die auf ihre Kandidaten fiel, betrug 351670, davon kamen auf die Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 180319, auf die Kandidaten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 171351. Beide Fraktionen musterten also eine fast gleich starke Anhängerzahl; die Gesamtstimmenzahl war gegen 1871 um 200 Prozent, im ganzen um 236000 Stimmen gestiegen.

Dieser glänzende Wahlausfall hatte in den höheren Regionen wie in den bürgerlichen Kreisen stark verschnupft. Ein solches Resultat hatte man nicht erwartet. Es zeigte sich, daß allen Verfolgungen und Schikanen zum Trotz die Partei ständig wuchs, und so verdichteten sich die schon vorhandenen Gedanken in den maßgebenden Kreisen mehr und mehr, der Partei mit Ausnahmemaßregeln auf den Leib zu rücken.

* * * * *

Das tägliche Einerlei unserer Haft wurde Ende Februar 1874 durch einen Besuch von Gustav Rasch in amüsanter Weise unterbrochen. Rasch war ein wenig Sensationsschriftsteller, er liebte es, in seinen Arbeiten die Farben etwas dick aufzutragen. Er hatte sich dadurch einen Namen gemacht, daß er Ende der fünfziger und in der ersten Hälfte der sechziger Jahre in der „Gartenlaube“ und mehreren großen liberalen Zeitungen zahlreiche Artikel veröffentlichte über die Schandwirtschaft der Oesterreicher in Venetien und die „Tyrannenherrschaft“ der Dänen in Schleswig-Holstein, die großes Aufsehen erregten. Liebknecht und ich hatten ihn in Berlin kennen gelernt. Jetzt kam er hauptsächlich wohl zu einem Besuch, weil er hoffte, Material für einen Artikel zu erhalten. Solche Besuche fanden auf dem Bureau in Gegenwart eines Beamten statt und sollten nicht über eine Stunde währen. Das paßte aber Rasch nicht. Er verlangte vom Direktor, mit uns unter vier Augen sprechen zu dürfen, auch wünschte er unsere Zellen zu sehen. Der Direktor lehnte dieses Ansinnen mit den Worten ab: Er (Rasch) solle sich doch in seine Lage denken, um einzusehen, daß das nicht gehe; wäre er (Rasch) Direktor, könnte er auch nicht anders handeln, worauf Rasch mit seiner göttlichen Unverfrorenheit antwortete: O, wenn er Direktor wäre, er erlaubte es sicher! Eine Antwort, die uns alle zu schallendem Gelächter veranlaßte.

Königstein

Im Laufe des März wurde uns offiziell mitgeteilt, wir würden am 1. April nach der Festung Königstein überführt werden. Die Nachricht war uns nicht angenehm. Liebknechts Haft ging Mitte April, die meine Mitte Mai zu Ende und da kam uns ein Umzug mit unseren Büchern und Skripturen und verschiedenen Möbelstücken sehr ungelegen. Im letzten Moment wurde aber die Uebersiedlung verschoben, und so konnte Liebknecht am 15. April von Hubertusburg nach Leipzig reisen. Ich aber mußte am 23. April 1874 die Reise nach dem Königstein in Begleitung eines Beamten in Zivil unternehmen. Als ich mich am Tage vor der Abreise vom Direktor verabschiedete und ihm für sein Entgegenkommen in so mancher Angelegenheit dankte, war er sehr gerührt. Er drückte mir zum Abschied warm die Hand und entließ mich mit den Worten: Gehen Sie mit Gott! Der beste Wunsch, den er von seinem Standpunkt aus wohl glaubte mir mitgeben zu können. Als ich dann am nächsten Morgen 5 Uhr die Reise antrat, war auch die ganze Familie des Aufsehers versammelt, um sich von mir zu verabschieden. Dieser wurde nunmehr nach dem Waldheimer Zuchthaus versetzt; ich glaube, die Zeit, in der er uns unter seiner Obhut hatte, war die schönste seines Lebens. Er starb bald nachher.

Der 23. April war ein herrlicher Tag, das ganze Elbtal grünte und blühte in voller Frühlingspracht. Beim Aufstieg auf die Festung begegneten wir dem Gouverneur der Festung, Generalleutnant v. Leonhardti, dem ich durch meinen Begleiter vorgestellt wurde. Während wir nun selbander den Weg nach oben zurücklegten, ließ sich der General in eine Unterhaltung mit mir ein. Er wünschte zu wissen, wie die Tagesordnung und die Behandlung in Hubertusburg gewesen sei. Nachdem ich ihm die gewünschte Auskunft gegeben, meinte er: Na, schlechter sollen Sie es bei mir nicht haben.

Als Aufenthalt wurde mir ein altes, nach früheren Begriffen bombenfestes Gebäude angewiesen, das vordem Zeughaus war. Auf dem Korridor standen zur Stütze des Daches Balken von einer Dicke, wie man sie nur noch auf den Böden alter Kirchendächer sieht. Die Stube war geräumig und hatte zwei schießschartenartige Fenster, die mit dicken Eisenstäben versehen waren, als gelte es, Mörder und Mordbrenner in Gewahrsam zu halten. An der einen Wand stand ein riesiger Kachelofen, in dem die fünf Pfund Kohlen, die mir als tägliches Deputat der Staat gewährte – denn es war trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit und dem prächtigen Frühlingswetter in dem Raum bitter kalt —, verschwanden. Ich mußte mir auf eigene Kosten noch Feuerungsmaterial beschaffen, wollte ich nicht frieren. Hätten wir unsere ganze Haft dort oben verbringen müssen, wir hätten ein kleines Vermögen für Feuerungsmaterial zugesetzt.

Eine interessante Persönlichkeit war mein Wärter. Dieser, ein siebzigjähriger Mann, leistete schon seit 36 Jahren auf der Festung Dienst und hatte 1849 zwei Mitglieder der provisorischen Regierung Sachsens, Tod und Heubner, ferner August Röckel und einen der Leiter des Dresdener Maiaufstandes, Michael Bakunin, den später nach den einen berühmt, nach den anderen berüchtigt gewordenen Führer der Anarchisten, in seiner Obhut. Die Genannten befanden sich auf der Festung in Untersuchungshaft.

Sehr beschränkt war der Raum für meinen Spaziergang, der sich auf einen einzigen kurzen Weg in dem kleinen Park der Festung erstreckte und bei dem regelmäßig ein Posten Wache stand, um die zahlreichen Besucher des Königsteins mir fern zu halten. Das einzig Zufriedenstellende war die Kost, die ich aus einer kleinen Wirtschaft auf der Festung bezog. Der Wirt schien mich in sein Herz geschlossen zu haben; das Essen war nicht nur sehr gut und billig, sondern auch sehr reichlich. Ich war verwundert, als ich am ersten Tage die für mich bestimmte Portion sah, war aber höchlich überrascht, als ich sie ganz verzehrte. Die Höhenluft tat ihre Wirkung. Die Soldaten der kleinen Besatzung klagten, daß sie hier oben nie satt würden und froh seien, wenn sie abgelöst würden, was alle drei Monate geschah.

Endlich kam der 14. Mai, der Tag der vorläufigen Befreiung. Unter denen, die mich zu Hause begrüßten, befand sich auch Eduard Bernstein, der extra zu diesem Zweck von Berlin nach Leipzig gekommen war. Ich hatte Bernstein bereits 1871 in Berlin kennen gelernt. Durch Vermittlung meines Rechtsanwalts Otto Freytag hatte sich das Ministerium herbeigelassen, mir bis zum Antritt der neunmonatigen Haft im Landesgefängnis in Zwickau eine sechswöchige Frist zu gewähren. Da in diese Pause Pfingsten fiel, machte ich mit meiner Frau und Tochter und einigen Freunden einen Ausflug nach der sächsischen Schweiz und dem Königstein. Hier machte es mir großes Vergnügen, daß die Zelle, in der ich drei Wochen kampiert hatte, mittlerweile zu den Sehenswürdigkeiten der Festung avanciert war. Der Fremdenführer machte auf die Fenster der Zelle, die mich damals beherbergte, aufmerksam. Später ist ihm das verboten worden. Für die Dresdener Parteigenossen hieß der Königstein längere Zeit scherzweise die Bebelburg.

1.Die Stelle wurde durch den Kontrollbeamten gestrichen.
2.Vahlteich. Most beschuldigte Vahlteich, daß er seine Kandidatur für den Reichstag unmöglich zu machen suche und die Veröffentlichung verschiedener Mitteilungen für die „Chemnitzer Freie Presse“ unterdrückte.