Buch lesen: «Eringus - Freddoris magische Eiszeit», Seite 6

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„Sicher, sicher. Ich sehe euren etwas betrübten Blick, Frau Magda. Würde es euch ablenken, uns noch ein kleines Liedchen zu singen? Ich hoffe, Wikerus hat damit nicht auch die Unwahrheit gesagt. Er meinte, ihr könntet angenehm singen und hättet oft ein passend Liedlein parat.“

Gerne nimmt Magda die Aufforderung an. Tatsächlich hat sie die Erinnerung an damals etwas betrübt. Auch wenn die Sprache nicht darauf kam, so hat es sie doch an Karl, ihren verstorbenen Mann erinnert, den sie bei der Geschichte auch kennen gelernt hatte.

„Ihr habt recht, Pessolt. Ein Liedchen mag gerade jetzt nichts Verkehrtes sein. Nur einen Moment Geduld.“ Hinter dem Schanktisch holt Magda ihre Laute hervor, um ihren Gesang zu begleiten.

„So höret nun mein Liedchen über den Doppelbiergraben.“

Doppelbiergraben

Kehrreim

Die Brücke in die Bule rein, die stürzte krachend ein,

nur weil des Bibers Zahn so hart, der nagte alles klein.

Der Zwerg und auch der Mönch, die kippten in den Bach hinein

und leider auch zwei Fass voll Bier, die fielen hinterdrein.

Zwei Weibern in der Bule ward das Fässchen einmal leer.

Erschrocken rief die eine aus: "Wir haben kein Bier mehr."

Sogleich darauf die zweite sprach: "Das ärgert mich gar sehr.

Denn morgen komm'n erst Zwerg und Mönch und bringen Neues her."

Kehrreim

Am Tag darauf zog los der Zwerg mit seinem Ochsgespann

und auf der Straße traf er dann den Mönchen irgendwann.

"Leg auf das Fass und auch den Karr'n, so kommen wir sodann

zur gleichen Zeit mit unserm Bier am Haus der Weiber an."

Kehrreim

Der Pfahlweg durch die Bule über manche Brücke führt,

doch eine dieser Brücken hat des Bibers Zahn berührt.

Der Ochse zog den Karren auf die Brücke ungerührt.

Den Absturz haben Zwerg und Mönch im Doppelbier gespürt.

Kehrreim

Kehrreim schneller

Begeistert klatschen der Händler und der Jüngling in die Hände.

Die Wirtin verwahrt die Laute wieder an ihrem Platz und setzt sich wieder zu dem Händler. „Es freut mich, wenn euch dies kleine Lied gefallen hat. Lasst uns jetzt das Geschäftliche bereden, Pessolt. Was führt ihr mit euch?“

Es folgt eine Zeit ausgiebigen Feilschens, das zur Zufriedenheit aller verläuft.

„Wunderbar, Frau Magda. Einfach wunderbar. Ich danke vielmals. Sagt, wart ihr schon einmal in Ascaffaburc? Eine wunderbare Stadt. Dort könnte man so ein Haus wie das eure wohl noch gebrauchen. Viele Händler gibt es dort, die auf der Durchreise gerne auch mal eine Nacht ruhen wollen.“

„Mich zieht hier nichts fort und meine Geschäfte haben es mir noch niemals erlaubt, auch nur weiter als ein paar Schritte ins Boierische zu tun. Ich bin es hier zufrieden.“

„Schade, doch wie ihr meint. Jetzt denke ich aber, es sei an der Zeit, der Ruhe zu pflegen. Ich wünsche eine gute Nacht.“, beendet der Gast die Verhandlungen.

„Gute Nacht, Pessolt. Und gute Nacht auch euch, Kuno.“

Kuno nickt nur, wie in Gedanken, und verschwindet in die Scheune. Bevor der Händler in die Kammer geht, sieht er noch kurz vor die Tür und schreit: „Bewacht mir mein Gut ordentlich. Dass mir ja nichts abhandenkommt bis morgen!“

Magda räumt noch kurz den Becher und den Humpen weg, bedeckt Frieder in seinem Stuhle mit einer Decke, löscht das Licht und folgt dann den Söhnen, die bereits vor Magdas Gesang in ihrer Kammer zu ihrer Schwester verschwunden sind.

Ein sonderbarer Kauz, dieser schweigsame Kuno.

* * * * *

Schon vor dem ersten Hahnenschrei ist Magda wieder auf den Beinen. Sie richtet den Frühstücksbrei für ihre Kinder, den auch Pessolt nicht verschmäht, bevor er weiterzieht. Selbst die Bediensteten des Händlers bekommen ihre Schüsseln gefüllt. Kuno hat sich noch nicht sehen lassen.

Frieder ist auf seinem Kontrollgang, wie er es nennt. Um seine Wichtigkeit zu unterstreichen ist er immer schon vor Magda draußen, um nach dem Rechten zu sehen.

„Magda, du musst kommen. Die Rinder drüben am Wald sind unruhig. Ich höre sie bis hierher rufen. Bestimmt ist ein wildes Tier dort an der Weide, das sie erschreckt.“, kommt er herein gestürmt.

Magda nimmt den Kessel vom Haken, damit der restliche Brei, der für Kuno bestimmt ist, nicht verbrennt. „Das wird wohl wieder die alte Bärin sein. Ihre Winterruhe ist vorbei. So langsam sollte sie etwas anderes zu fressen finden, als meine Rinder. Die sind zu teuer und sie kann nicht zahlen.“, scherzt Magda. Es ist nicht das erste Mal, dass sie einen Bären vertreiben muss. Sie wendet sich ihren Kindern zu, die am Tisch noch ihren Brei löffeln.

„Hör mir gut auf die großen Jungs, Methildis.“, spricht sie zu ihrer Kleinen und streicht ihr durch das Haar. Das Mädchen klopft begeistert in ihrer Schüssel herum und strahlt ihre Mutter an. Dann wendet sich Magda Magnus und Markward zu. „Ihr hört auf die Großen, solange ich fort bin. Ja? Und ihr beiden, ihr behaltet alles im Blick, Odo und Rudwin.“ Reihum gibt sie jedem ihrer Söhne einen Kuss auf das Haupt. „Ihr wisst, was alles zu tun ist. Passt auf euch auf. Und wenn es Probleme gibt, geht in die Bule zu eurer großen Schwester. Die wird euch immer helfen. Ich hab euch sehr lieb.“ Dabei greift sie zu ihrem ständigen Begleiter, dem Kampfstock.

„So hast du dich ja noch nie verabschiedet, Mutter.“, stellt Odo überrascht fest.

„Nicht? Dann hätte ich es vielleicht schon öfter tun sollen.“, antwortet Magda leichthin. „Komm, Frieder! Wir haben etwas zu tun.“ Damit eilt sie aus dem Haus, gefolgt von dem kleinen Halbling, der aber nicht mehr so schnell ist, mithalten zu können.

„Ich komme schon!“, ruft er hinterher und läuft so schnell, wie er es noch vermag. Bei gemütlichem Schritt wippen Halblinge wegen der sehr großen Füße immer auf und nieder. Jetzt aber ist davon nichts mehr zu bemerken. In Eile benutzen die Kleinen stets nur die Vorderfüße. Der Händlerzug setzt sich gerade langsam wieder in Bewegung in Richtung Franconovurd. In die entgegengesetzte Richtung eilt Magda und nicht auf der Straße, sondern abseits auf Feldwegen, um bald schon nach rechts zum Wald hin abzubiegen.

Nach geraumer Zeit ist sie am abgelegenen Ende der Weide angekommen. Sie muss nicht nach der Bärin suchen. Die Kühe stehen in der Ecke des Zauns zusammen gedrängt und muhen, was die Lunge hergibt. Kein Wunder, denn vor ihnen steht hoch erhoben ein Riesenvieh von einer Bärin. Bestimmt über 300 Pfund schwer und weitaus größer als Magda droht sie den Rindern mit wildem Gebrüll, noch unschlüssig, welches davon ihre Mahlzeit werden soll. Mit einem Sprung über den Holzzaun ist Magda auf der Weide und schreit noch im Laufen aus Leibeskräfte: „Hey, du alter Mitesser. Das ist mein Futter und geht dich gar nichts an.“

Im Grunde ist es gleich, was sie ruft. Es geht einzig darum, der Bärin Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Prompt reagiert das mächtige Tier, lässt sich auf alle Viere nieder und wendet sich, böse brummend, der unerwarteten Konkurrenz zu. Magda bleibt stehen und erwartet in Ruhe den unvermeidlichen Angriff des Raubtieres.

Inzwischen hat auch der atemlose Frieder die Weide erreicht und ist nicht weit hinter Magda.

Die Bärin kommt näher und erhebt sich. Damit versucht sie, Magda, durch lautstarkes Drohen zu vertreiben und die Beute für sich zu beanspruchen. Eine für Magda bekannte Prozedur, die sie geduldig erwartet. Sie weiß, dass das Tier bald noch ein oder zwei Schritte näher kommen wird, bevor es richtig angreift. Darauf wartet sie. Noch während der Schritte will sie vorspringen und mit dem Stock gegen die Kehle stoßen. Gleich darauf muss sie auf die Nase schlagen. Der Schädel selbst ist viel zu hart, als dass ein Hieb darauf sonderlich Wirkung zeigen würde. Breitbeinig, den Stock fest in beiden Händen, bereit zuzustoßen, steht Magda da.

Frieder wirft seine Mütze in die Luft und schreit, um das Tier zusätzlich zu verwirren. Sofort läuft er weiter. Über sich hört er das leise Sirren eines Pfeils. Gleich darauf trifft dieser von der Seite Magdas Hals. Die Spitze schlägt durch und schaut auf der anderen Seite wieder heraus. Die Halsschlagadern sind eröffnet. Blut strömt in großer Menge pulsierend aus. Langsam, wie ein gefällter Baum, kippt die Frau zur Seite und bleibt reglos liegen. Frieder steht vor Schreck wie angewurzelt da. Dann dreht er sich um, blickt in die Richtung aus der der Pfeil gekommen sein muss und sieht tatsächlich, am Waldrand versteckt, eine Gestalt, die ein junger Mann im braunen Mantel sein könnte, welcher sich eiligst davon macht. Schon ist die Gestalt nicht mehr zu sehen. Frieders erste Sorge aber gilt Magda. Er stürmt schreiend, die Bärin missachtend, zu ihr hin.

„Magda, steh auf. Was ist mit dir? Sag was! Tu was! Magda!“

Frieder bricht in Tränen aus und trommelt wie wahnsinnig auf der sterbenden Frau herum, als könne er sie damit beleben, ihr helfen. Noch einmal öffnet sie die Augen, tonlos formen Lippen unverständliche Worte, gefolgt von einem letzten Lächeln. Damit schließt Magda die Augen für immer.

Für die Bärin war Frieders Geschrei und Getrommel zu viel. Sie zieht sich lieber zurück und verzichtet auf die Mahlzeit.

Unablässig rüttelt Frieder weiter an dem leblosen Körper, unfähig, den Tod Magdas zu verstehen. In seine Trauer mischt sich Wut, die den Tränenstrom verebben lässt. Trotzig erhebt er sich und wendet sich dorthin, wo der Bogenschütze gestanden hat. So schnell, wie es seine alten kurzen Beine nur erlauben, rennt er los. An der Stelle stehen die Bäume nicht sehr dicht. Es ist nur ein schmaler Ausläufer des Waldes, der zwei Wege voneinander trennt. Auf dem Weg entlang der Weide ist niemand zu sehen. Frieders Gefühl sagt ihm, welche Richtung er nehmen muss. Auf Spuren am Boden achtet er nicht. Weit kann der Kerl nicht sein. Er läuft so schnell er kann die Straße nach Steinenaue hoch. Den Bogen, der hoch oben in einem Baum in dem Waldstück baumelt, hat er nicht gesehen.

* * * * *

Im ersten Licht des Morgengrauens dieses Tages hatten sich Guda und Beata auf den Weg gemacht. Sie wollten zu Eringus. Guda musste endlich Bekanntschaft machen mit dem Drachen, fand Beata. Es ging nicht an, dass die Halbzwergin nach so vielen Monaten sich immer noch nicht zu ihm traute, ist er doch ein so unverzichtbarer Partner.

Guda hat einen ganz anderen Standpunkt dazu. Natürlich weiß sie, dass der Drache im Grunde ein friedfertiger Zeitgenosse ist, der eigentlich nur in Ruhe und Frieden in seinem Tal leben mochte. Aber er ist nun mal ein Drache, mit gar fürchterlichen Möglichkeiten. Und vor allen Dingen: Er ist so ungeheuer groß. Außerdem weiß Guda nicht, was man mit einem Drachen anfangen soll. Ihr ganzes Leben ist sie ohne einen ausgekommen.

„Stell dir mal vor, Guda, ich bin in einen tiefen Graben gestürzt und komme nicht mehr aus eigener Kraft heraus oder ich bin verletzt und nicht mehr bei Sinnen. Und du kannst mich nicht erreichen und mir helfen. Der Drache kann immer helfen und sei es nur, passendere Hilfe zu beschaffen, wie zum Beispiel Zwerge zu schicken. Außerdem ist er ein hervorragender Gesprächspartner für alle Fragen.“

„Ich hab dich.“, brummte Guda trotzig.

„Ich weiß viel, aber nicht alles. Er aber verfügt über Wissen, das so weit zurück reicht, dass es noch gar keine Aufzeichnungen gibt. Vielleicht gibt es aber auch mal etwas, das du lieber nicht mit mir besprechen möchtest und du trotzdem Rat benötigst.“

„Was soll das sein?“

„Das weiß ich jetzt auch nicht, doch ich hoffe, wir werden lange zusammen sein, da mag sowas schon mal vorkommen.“

„Glaub ich nicht.“ Die Halbzwergin lässt sich nicht überzeugen.

„Jetzt stell dich nicht so an.“ Beata wird unwirsch. „Er ist ein sehr guter Freund von mir und ich möchte, dass auch du Freundschaft mit ihm schließt.“

„Und wie hast du dir das vorgestellt? Geh ich hin, geb ihm die Hand und sag wir sind jetzt Freunde. Ja?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so störrisch bist.“

„Ich bin ein Zwerg.“

„Bist du nicht, nur zur Hälfte.“

„Dann ist jetzt gerade die zwergische Hälfte störrisch.“

Schweigen. Doch nicht lange und Beata fängt an zu lachen. Guda kann nicht anders und stimmt in das Lachen ein.

„Komm her, du sture Zwergenhälfte. Ich will dich umarmen.“ Beata nimmt ihre Freundin in den Arm und gibt ihr einen Kuss. „Ist das wirklich so schlimm für dich?“

„Ich fühl mich dabei nicht wohl, Beata. Ich weiß, wir leben alle mit dem Drachen in Nachbarschaft. Aber das reicht doch. Keiner geht hin und macht sich lieb Kind bei dem Feuerspucker.“

„Das ist auch gut so und auch so gewollt. Stell dir vor, jeder wüsste, dass der Drache ein ganz friedlicher Zeitgenosse ist, der keiner Fliege etwas zu leide tut. Es hätte doch keiner mehr rechten Respekt vor ihm. Ich meine, keiner würde ihn als Herrscher dieses Reiches achten. Nur die Angst vor seiner Macht ist es, die die Menschen dazu bringt, ihn anzuerkennen.

Du aber brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Hast du ihn erst einmal recht kennen gelernt, wirst du mich auch verstehen.“

„Ich gebe mich geschlagen. Dir liegt so viel daran. Dann schau ich mir mal den Prachtkerl aus der Nähe an.“

Strammen Schrittes marschieren die beiden Frauen weiter. Zur Mittagszeit wollen sie bei Magda Rast machen, um anderen Tages dann bei dem Drachen anzukommen. Unterwegs treffen sie auf Pessolt, der lautstark seine Leute antreibt, weil ihm alles zu langsam geht.

* * * * *

So schnell ihn seine alten Beine tragen können, läuft Frieder die Straße nach Steinenaue hoch. Es ist schon einige Zeit vergangen, doch jetzt ist ihm das Glück hold. Dort vorne ist der Kerl, den er wohl sucht. Er sitzt auf einem Pferd und hat es offensichtlich überhaupt nicht eilig. Kaum in Rufweite schreit er hinterher: „Bleibt stehen, Verbrecher. Ich erwische euch. Ihr entkommt mir nicht.“

Erstaunlicher Weise hat der Reiter tatsächlich sein Pferd zum Stehen gebracht und erwartet nun den Halbling, ohne sich im Sattel umzuwenden. Schnell steht Frieder daneben und blickt, schwer atmend, nach oben.

„Oh, verzeiht, junge Frau. Von Ferne hielt ich euch für einen Mann, den ich suche. Und wie ich sehe, tragt ihr auch keinen Bogen bei euch und euer Mantel ist dunkelgrün, nicht braun. Ist denn noch ein anderer Reiter an euch vorbei gekommen?“

Die Reiterin schüttelt nur mit dem Kopf, der von einer Gugel bedeckt ist. Tränen rinnen ihr aus den Augen.

Frieder bemerkt die Tränen und Mitleid steigt in ihm auf.

„Gerne würde ich versuchen euch zu trösten und den Schmerz zu lindern, der euch weinen lässt, doch suche ich einen Mörder und habe dafür nun leider keine Zeit. Ihr versteht sicher.“

Die Reiterin nickt nur leicht und treibt ihr Pferd wieder an, das in langsamem Schritt ungeleitet weiter die Straße verfolgt.

Noch kurz blickt Frieder der traurigen Gestalt hinterher. Dann wendet er sich, besieht sich den weiten Weg zurück, holt noch einmal tief Luft und rennt die Straße nun Richtung Franconovurd. Mist, Zeit verloren, denkt er sich.

* * * * *

„Bald sind wir da.“, freut sich Beata. Immer wenn sie ihre Mutter besucht, freut sie sich. Ihre Brüder zu ärgern und mit der kleinen Schwester zu spielen, ist immer ein Fest für sie. Manchmal braucht sie das. Öfters aber genießt sie die Ruhe in der Bule. Dann braucht sie die Familie nicht. Bestimmt ist das auch der Grund, dass es niemals Streitigkeiten gibt. Man sieht sich nicht so oft.

„Ich bin gespannt, was heute in ihrem Kessel blubbert.“ Guda liebt gutes Essen und Magda ist eine hervorragende Köchin.

Während Guda noch tief in nahrhaften Gedanken versunken ist, bemerkt Beata die kleine Person, die höchst eilig ihnen entgegen kommt.

„Ist das nicht Frieder?“

„Du hast recht. Und er wirkt sehr aufgeregt. Was er wohl hat?“

Die Antwort lässt bei Frieders Tempo nicht lange auf sich warten.

„Habt ihr ihn gesehen?“, stößt der Halbling hervor, schon bevor er die Frauen erreicht hat.

„Wen sollen wir gesehen haben, Frieder? Seit der Bule ist uns, außer dem Händlerzug, niemand begegnet.“, antwortet Beata verwundert.

„Verdammt, verschwunden. Hat der sich in Luft aufgelöst?“ Außer Atem hält er vor ihnen an und ringt nach Luft. „Dieser vermaledeite Mörder ist fort.“ Enttäuscht und völlig erschöpft sinken die Schultern herunter.

„Wieso Mörder? Was ist hier geschehen? Ist etwas mit Mutter?“

Beata ist aufgeregt. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt. Es ist wirklich nur sehr selten, Frieder so weit vom Hof allein ohne Magda anzutreffen.

„Sie ist tot. Irgendein Mann hat sie umgebracht. Und ich hab ihn nicht erwischt.“ Traurig setzt sich Frieder einfach auf der Stelle nieder, an der er gerade steht und erneut beginnen seine Tränen zu fließen.

Es dauert schon etwas, bis Beata und Guda einen vernünftigen Bericht aus dem Kleinen bekommen haben. Am Ende sitzt die Halbzwergin neben Frieder. Eng umschlungen fließen beiden wahre Tränenströme aus den Augen.

Beata hat ihre ersten Tränen schnell unterdrückt. Die Wut und das Entsetzen und die Unverständnis über diese unglaubliche Tat haben Überhand bekommen. Sie kann nicht mehr weinen. Jetzt nicht. Der wilde Zwiespalt der Gefühle zerreißt sie fast. Jetzt heißt es handeln.

„Genug der Trauer fürs Erste.“, herrscht sie die Beiden am Boden an. „Guda, du wirst mit Frieder auf den Hof laufen und mit dem Pferd kommst du zur Weide hinaus, wo ich dich erwarten werde. Wir haben Eile.

Frieder, du kümmerst dich um die Jungs und die kleine Methildis. Sie wird es noch nicht verstehen, doch für meine Brüder wird es schwer werden.“

Überrascht blicken vier Augen voll Tränen Beata von unten herauf an?

„Eile?“, schnieft Guda und wischt die Tränen weg.

„Ja, Eile. Du weißt: Wen des Todes Hand berührt,“

„alsbald starr wie Eis gefriert.“, vollendet Guda die alte Weisheit. „Ja, du hast Recht. Wir haben Eile. Auf Frieder, laufen wir schnell auf den Hof.“ Sie hilft dem Halbling auf die Füße und gemeinsam traben sie den Weg wieder zurück. Während sie die Straße verlassen und die wenigen Schritte auf Magdas Gut auf kürzestem Weg querfeldein hinter sich bringen, eilt Beata weiter zur Weide hin. Die ganze Zeit schon überlegt sie, was der Grund für diese Meucheltat wohl sein möge. Gut, ihre Mutter war ein harter Verhandlungspartner und so manchem Grafen, Bauern oder Händler hat sie mehr abverlangt, als diese zu zahlen bereit gewesen waren. Doch das war kein Grund dafür. Normal übliches Handelsgebahren. Mit ihren Nachbarn hat sie sich immer gut verstanden. Stets hilfsbereit und nachsichtig, wenn Geliehenes nicht, wie vereinbart, beglichen wurde. Diese Menschen hatten erst recht keinen Grund, sie umzubringen. Mit Zwergen und Halblingen war das Verhältnis noch um ein vielfaches besser. Nein, es gab keinen Grund, für niemanden, ihr nach dem Leben zu trachten. Und doch hat Frieder einen jungen Mann im Waldstreifen an der Weide gesehen, der wohl den Schuss abgegeben haben muss. Von allein kommt kein Pfeil geflogen. Wer war dies wohl und mit welchem Grund? Sie wird das heraus bekommen. Sie wird nicht eher ruhen.

Inzwischen ist die Weide erreicht und, wie zuvor durch die Mutter, wird mit einem Sprung der Zaun überwunden. Neben der sonst unversehrten Toten angelangt kniet sie nieder und streichelt ihr traurig durch das Haar. Der Blutfluss ist versiegt, ist aber auch noch nicht verkrustet. Beate bricht den Pfeil am längeren Schaftende ab und zieht die Spitze auf der anderen Halsseite heraus. Sie dreht ihre Mutter um und blickt ihr traurig, mit leicht verschleierten Augen in das lächelnde Antlitz. Kein Gedanke geht ihr dabei durch den Kopf, nur unbeschreiblich viele Gefühle. Sie weiß nicht wie lange es gedauert hat, doch plötzlich steht Guda mit dem Pferd neben ihr. Sie hat deren Kommen nicht bemerkt.

„Ich habe darauf verzichtet, einen Wagen anzuspannen. Wir werden sie dem Pferd so auf den Rücken legen.“

Mit beiden Händen fährt sich Beata über das Gesicht, bevor sie zu Guda aufschaut. „Ja. Es ist gut.“

Gemeinsam heben sie den Leichnam hoch und legen ihn quer über das Ross. Guda geht vor, führt das Pferd an der Leine. Beata folgt ihr. Am Waldstück blicken sie hinein, ob sich ein Hinweis finden möchte. Vergebens. Wer sucht auch schon über sich nach etwas, das am Boden erwartet wird? Schweigend gehen sie langsam zurück.

* * * * *

Am Hof angekommen werden sie schon von den Jungs erwartet. Odo hat Methildis auf dem Arm. Tränen fließen ihm die Wangen herab und auch seine Brüder heulen hemmungslos. Methildis streckt die Arme nach ihrer Mutter aus, die sie nie mehr nehmen wird. „Mama!“, ruft sie und Odo drückt sie an sich, wobei er ihren Kopf abwendet. „Mama lebt nicht mehr, Metti.“, versucht er mit brüchiger Stimme zu erklären. Rudwin, Magnus und Markward haben sich mit Frieder bei der Hand genommen und folgen mit ihren Blicken dem Pferd, wie es im Stall verschwindet, wo Beata und Guda die Leiche herab holen. Die Kinder sind bis zum Tor gefolgt, wo sie verharren und beobachten. Auf einem Tisch im hinteren Eck legen die Frauen die Tote ab, bedecken sie mit einem großen Tuch. Beim Verlassen schließen sie die Tür hinter sich, damit kein wildes Tier dem Körper Schaden zufüge. Mit ausgebreiteten Armen drängen sie die Jüngeren ins Haus. Man versammelt sich um den Tisch.

Beata meint, augenblicklich von der Trauer ablenken zu müssen und fragt: „Kann sich einer von euch Jungs vorstellen, wer einen Grund hätte, Mutter das Leben zu nehmen?“

Schweigendes Kopfschütteln.

„Kennt einer von euch solch einen Pfeil?“ Dabei kramt Beata die zwei Hälften aus dem in ihr Gewand eingenähten Beutel und legt diese auf den Tisch.

Erneutes Kopfschütteln. Es wäre auch zu einfach gewesen, denkt sich Beata.

Guda bricht das kurze Schweigen. „Wie soll es nun weiter gehen?“.

Eigentlich war die Frage für Beata bestimmt, doch Odo antwortet. „Wie soll es schon weiter gehen? Wir werden den Hof weiter führen. Wir müssen ja unser Brot erarbeiten. Morgen werden wir Mutter neben Vater begraben, so wie sie es wollte. Dann wird wie immer das Vieh versorgt, die Felder bestellt und was alles so zu tun ist. Grad so, wie sie es vor ihrem Fortgehen bestimmt hat. Ihr wisst, was alles zu tun ist, hat so gesagt. Das werden wir tun.“ Der Große sieht sich nun in der Rolle des Familienoberhauptes und will dieser auch gerecht werden, auch wenn nicht nur die Stimme zittert. Magda hatte einmal gesagt, dass sie neben Karl auf dem Gut begraben werden will. Diesem Wunsch will Odo nachkommen.

„Ich weiß, ihr seid keine Kinder mehr, Odo. Doch bist du dir sicher, dass ihr dies auch allein bewältigen könnt? Glaubst du, ihr könntet ohne Mutter einen Zechpreller in die Schranken verweisen? Kannst du kämpfen und dich wehren, wenn dich des Händlers Knechte verprügeln wollen? Nimmt dich ein Graf als Händler für voll, wenn er von dir Vieh kaufen will oder wird er nicht eher suchen, dich zu betrügen und den Preis zu drücken? Wer von euch kann kochen?“

Beata legt kurzerhand den Finger in die schlimmsten Wunden. Kämpfen wie Mutter kann keiner. Magda hat versäumt, ihre Söhne diese Kunst zu lehren. Viehkäufer sind grundsätzlich Betrüger und zahlen immer am liebsten weniger als die Hälfte. Odo weiß das und muss eingestehen, dem doch nicht gewachsen zu sein. Kochen ist dabei noch das kleinste Problem.

„Aber was sollen wir machen? Wirst du zu uns ziehen und uns helfen? Methildis muss auch versorgt werden. Mutter hat gesagt, du hilfst uns immer.“

„Ich werde euch immer helfen, da hat Mutter nicht gelogen, doch wird meine Hilfe nicht immer so aussehen, wie ihr sie euch wünscht. Und mit der Beerdigung wartet ihr bitte, bis ich wieder zurück bin. Ich werde morgen, wie geplant, mit Guda weiter ziehen und Eringus aufsuchen. Ich will heraus finden, wer unsre Mutter getötet hat. Ich habe den Pfeil und Frieder hat den Täter gesehen. Die nächsten paar Tage bleibt die Schänke und Herberge geschlossen. Ihr kümmert euch um Feld und Vieh und Methildis wird von Frieder betreut. In dieser Zeit wird sicher nichts geschehen. Bis dahin weiß ich, wie es weiter gehen wird.“

Im Grunde ist Odo froh, dass seine große Schwester doch die Führung der Familie übernommen hat. Es ist schwer ohne Anleitung selbständig zu werden.

Frieder ist dankbar, dass Beata ihm eine Aufgabe gegeben hat, die er übernehmen kann. Mehr als die Betreuung des kleinen Mädchens schafft er nicht mehr. Doch das was er kann, will er mit ganzer Hingabe erfüllen.

* * * * *

„Achtet darauf, dass Mutter unversehrt bleibt.“, ist Beatas letzte Anweisung am Morgen bevor sich die beiden Frauen auf den Weg zum Drachen machen. Noch lange haben die zwei in der Nacht zusammen geredet. Nun sieht auch Guda einen Sinn darin, den Drachen als Freund zu haben. Mit einem letzten Winken sind sie den Blicken der Jungs entschwunden. Die kleine Methildis winkt noch ein wenig länger, während Frieder sie fest an der Hand hält.

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