Buch lesen: «Eringus - Freddoris magische Eiszeit», Seite 5

Schriftart:

Unwahr gesagt?

Das Ausbleiben des gefürchteten Winters erregt allseits Erstaunen. Eigentlich kann man die paar Tage nicht einen Winter nennen. Auch wenn es zeitweilig ungemein kalt wurde. Da hat man schon ganz anderes erlebt. Der Frühling hat mit Macht Wochen vor der üblichen Zeit begonnen. Viele stellen sich die Frage: Was mach ich nun mit den reichlichen Vorräten?

Da gibt es vor allem einen, der ein sehr langes Gesicht macht; Laurentz, der Abt in St. Wolfgang. Immer wenn er an die Massen der eingelagerten Ernteerträge denkt, so wie jetzt, wird ihm speiübel. Nicht nur, dass er viel dafür bezahlen musste, die freien Bauern und Grafen hatten ihn ganz gewaltig geschröpft oder haben garnichts verkauft, weil sie durch die Zwerge von der Weissagung wussten. Jetzt droht auch noch bei dieser Wärme alles zu verrotten. Den Brüdern gelingt es nur noch unter größter Anstrengung, die Nahrungsmittel zu erhalten. Wie lange würde man den Erhalt noch leisten können? Anstelle der Messen sind schon Gebetsgesänge getreten, damit die Brüder ihre Arbeit im Lager nicht unterbrechen müssen. Wann würde er den Auftrag erteilen müssen, alles zu verwerten, um wenigstens einen Teil davon noch länger lagern und verwenden zu können? Wie zum Hohn lacht ihm durch das Fenster, an dem er steht, die Sonne ins Gesicht.

Verflixte Prophezeiung in ebensolcher verflixten und verbotenen Schrift. Irgendwann kann er seinen Fehler nicht mehr verheimlichen und der Bischof wird Rechenschaft von ihm verlangen. Gut, er könnte, nein, er würde Bruder Urban die Schuld geben, weil er ihn falsch beraten hat. Die Verantwortung aber würde er ihm nicht auflasten können. Die trägt er, Abt Laurentz, allein. Wie lange würde er dann noch Abt sein? Wahrscheinlich keinen Tag mehr. Die verbotene Schrift ist schon Grund genug, das Kloster auf der Stelle zu schließen.

Langsam wendet er der verbrecherischen Sonne den Rücken und sich dem Bruder Urban zu, der schon eine ganze Weile still und geduldig hinter ihm steht und wartet.

Der Abt mustert die verschmutzte Kutte des Bruders, der direkt aus dem Getreidelager gekommen ist. Früher war er noch wütend gewesen und hat Urban mit den schlimmsten Strafen gedroht, was dieser demütig hat über sich ergehen lassen. Nun ist nur noch Resignation das dominierende Gefühl.

„Wie sieht es aus, Bruder Urban? Was könnt ihr mir berichten?“

„Es tut mir wirklich aufrichtig leid, Bruder Abt. Leider nur das gleiche wie gestern. Wir haben die Fenster des Tags mit dicken Tüchern verhängt, um die Sonnenwärme nicht herein zu lassen und nehmen sie für die Kühle der Nacht wieder weg. In längstens drei Wochen muss das Korn gemahlen und Gemüse und Obst verwertet werden.“

„Wo war der Fehler? Warum war die klare Prophezeiung doch miss zu verstehen?“

„Ich weiß es nicht, Bruder Abt. Ich weiß es sogar zweimal nicht, denn die Zwerge hatten ja eine übereinstimmende Vorhersage.“

„Das ist es ja, weswegen ich bereit war, der Prophezeiung zu glauben. Habt ihr schon Nachricht von den Zwergen? Sicherlich haben die nicht so schwerwiegende Probleme in ihrem kühlen Berg wie wir.“

„Bis jetzt nicht, Bruder Abt. Doch ich erwarte Wilbalt Eisenbieger heute Abend. Ich hoffe, er wird nochmals sein Buch mitbringen, dass wir darin Nachforschungen anstellen können. Unsere Schrift habt ihr in Verwahrung. Vielleicht, dass ich darin etwas fände?“, versucht Urban sein Glück.

Laurentz sieht nachdenklich den Bruder an, wendet sich dann tatsächlich um und gibt, wenn auch widerwillig, die Schriftrolle aus einer Truhe heraus.

„Geht dort an das Pult und studiert die Schrift. Die Rolle wird diesen Raum nur noch als Asche verlassen. Gebt euch Mühe. Ich brauche eine Lösung. Dringend!“

* * * * *

Abt Laurentz hat recht. Bei den Zwergen ist das Problem, trotz deutlich größerer Menge, bei weitem nicht so dramatisch. Durch die Kanäle in der Festung ist alles gut gelüftet und ständig kühl und dunkel gelagert. Doch trotz dieser hervorragend zu nennenden Umstände ist auch hier ein Ende der vertretbaren Lagerzeit langsam in Sicht. Verständlicher Weise ist das aber im Moment nicht König Sigurds Hauptproblem. Vor Kurzem ist sein Sohn gekommen und hat die schlimme Nachricht vom Verschwinden der Schwester überbracht. Schon seit Tagen haben sie in Kleyberch gesucht und gerufen, geklopft und gehorcht. Nicht bei Tag und nicht bei Nacht haben die Verbliebenen geruht. Vergebens. Weder Carissima noch Anschild ist auffindbar. Sie sind spurlos verschwunden. Den Kleyberch verlassen haben sie nicht. Das ist sicher, denn das Tor war immer noch von innen verschlossen vorgefunden worden.

„Verfluchtes Kleyberch. Erst gibt es uns die Zwerge zurück, dann das alte Wissen. Und nun nimmt es mir mein Kind. Was ist mit dieser Festung los? Welches Geheimnis birgt sie noch?“

„Ich habe keine Ahnung, Vater.“, antwortet Gernhelm. „Der Berg sieht ganz normal aus. Nichts an ihm ist besonders. Er streckt seine Hände offen vor als wolle er sagen, da gibt es nichts. Dazu schüttelt er seinen Kopf. Die vorderen Haarsträhnen sind rund um den Schädel nach hinten gezogen und verbinden sich dann mit dem Zopf, der zwischen den Schultern endet. Der fast schwarze Bart reicht bis zur Brust.

„Natürlich nicht von außen.“, schimpft der König. „Das Besondere ist in ihm. Verstehst du? Innen drin. Das war schon von Anfang an klar. Wieso können 144 Zwerge in einem Berg über 800 Jahre schlafen und bekommen einen gedeckten Tisch zum Frühstück geliefert.“

„145, Vater.“

„Was?“

„Es waren 145 Zwerge mit Anschild.“

„Ach ja, klar. Und der ist doch auch gleich der nächste Wunderpunkt. Wo kommt der Kerl her? Wer ist er und was ist er? Keiner kennt ihn. Auf einmal wird er einem Krieger in die Hand gedrückt und dann geht alles schlafen. Gute Nacht, Verstand. Ich komm da nicht mehr mit.“

Darauf hat der Sohn nichts zu erwidern.

Wie ein gereiztes Tier dreht Sigurd im Thronsaal seine Kreise, stets um Gernhelm herum. Dieser hat schon aufgegeben, sich ständig mit zu drehen.

„Was denkst du, mein Junge. Was sollen wir tun? Schick ich Zwerge hin, den Berg auseinander zu nehmen?“

„Ich denke nicht. Ich glaube, und das ist das richtige Wort, ich glaube wir müssen uns in Geduld üben.“

„Das ist doch nicht dein Ernst.“

„Warte bitte, Vater. All das, was du eben so beklagt hast, haben wir von Anfang an als Gabbros Wunder gepriesen. Dankgottesdienste haben wir gefeiert. Warum soll das nun nicht der Wille Gabbros sein? Ich kann nicht sagen, was das für uns zu bedeuten hat; was dort gerade geschieht. Aber ich bin sicher, die beiden leben. Am Ende schlafen sie, wie zuvor alle anderen auch.“

„Ach was. Und in 800 Jahren kommen sie dann wieder raus und gründen ein neues Zwergengeschlecht. Pah, du redest Blödsinn.“

Gernhelm öffnet den Mund, um weitere Alternativen darzulegen. Doch er kommt nicht dazu. Hinter sich hört er, wie die Tür geöffnet wird.

„Wie hätte Melisande gesagt: Du redest Blödsinn, Sigurd.“

Hemma, Königin der Zwerge ist ebenfalls im Thronsaal erschienen. Ihr Mann beschreibt sie gern als an den rechten Stellen herrlich gerundet. Tatsächlich ist eigentlich alles an ihr rund und voluminös. Rundes Gesicht mit Pausbacken und einem niedlichen Grübchen im Kinn. Die vollen braunen Haare mit dem Hauch eines rötlichen Tones sind in runder Frisur, die nur wenig über die Ohren reichen. Der Pony ist passend abgerundet. Auch sie hat inzwischen von dem Verschwinden ihrer Tochter gehört. Erstaunlich gefasst hat sie die Nachricht aufgenommen.

„Ich hatte, wie soll ich sagen, so eine Ahnung.“, meint sie mit ihrer leisen Stimme.

„Oha, meine Frau hat Ahnung.“, bemerkt König Sigurd zynisch.

„Nun reiß dich aber mal am Riemen, Mann.“ Hemma ist böse und wird lauter. „Unser Sohn argumentiert vernünftig, doch dir ist die Vernunft abhanden gekommen.“

„Was ist daran vernünftig, alles Gabbro anzuhängen?“

„Was ist daran vernünftig, dieses spurlose Verschwinden logisch erklären zu wollen? Wenn alles verschlossen war, als die Gruppe dort erwachte und keine Wand eine sichtbare Veränderung aufweist, wie festgestellt wurde, wie willst du das logisch erklären? Das kriegt nicht einmal Eringus hin. Oder hast du eine rechte Lösung?“

Noch immer kreist Sigurd im Thronsaal, vor Erregung fast berstend. Aber er kann nichts darauf erwidern und das macht ihn noch angespannter. Er hält es nicht mehr aus.

„Irgendwas muss man aber doch machen. Irgendwas. Was sagt deine Ahnung, Weib?“

„Nichts!“, lautet die ernüchternde Antwort. „Was soll eine Ahnung, ein Gefühl auch schon sagen. Aber ich habe auch das Gefühl, dass alles gut wird und ich mich nicht aufregen muss. Ich weiß nicht, warum.“ Hemma versucht, mit ruhiger Sprache ihren überdrehten Mann wieder zu beruhigen.

Der König ist stehen geblieben. Die Ruhe seiner Frau ist entwaffnend. „Das kann ich nicht, Hemma, das kann ich nicht. Schenk mir dieses Gefühl, dem du so vertraust.“, bittet er verzweifelt

„Versuch es mit einem Gebet. Oder geh zu Eringus und frag nach seiner Meinung.“

* * * * *

„Ich finde nichts. Ich finde einfach nichts.“, murmelt er vor sich hin.

Bruder Urban ist ernsthaft geneigt, die verbotene Schrift in die Ecke zu werfen. Trotz intensivster Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, genaueres über die Prophezeiung zu finden. Die Texte davor und danach beziehen sich auf andere Aussagen. Die ganze Rolle hat er gelesen und gelesen, überdacht und gelesen. Nichts. Kurzzeitig war er geneigt, einen späteren Text als mögliche Erklärung zu deuten. >Erst wenn eines zu Ende kommt, wird das Neue beginnen.<, hieß es da. Doch das konnte sich durchaus auch auf eine Stelle dazwischen beziehen. Es war nicht unlogisch. Andererseits, wenn man so wollte, konnte es auch bedeuten dass der Winter zurückkommen würde.

Diese Überlegung hat er aber dann doch wieder verworfen. Selbst wenn er den Abt von seiner Auslegung überzeugen könnte, wäre dies nur ein Aufschub des Problems. Und was, wäre die Vermutung falsch? Andererseits hätte die Wahrheit dieser Aussage dann eine fürchterliche Wirkung. Saatgut - erfroren, Obstblüte – erfroren. Keine Vegetation, kein Gott weiß was noch alles. Oh Gott, warum musste er diese Prophezeiung entdecken?

„Ich finde nichts, Bruder Abt. Es ist nur diese kurze Zeile vorhanden. Kurz vor dem Ende der Schrift steht noch diese Zeile hier. Wenn ihr mal schauen wollt?“

Fast schon hoffnungsfroh tritt Laurentz mit etwas beschleunigtem Schritt an das Pult und besieht sich den kurzen Text. Enttäuscht meint er dann: „Solch ein allgemeiner Schwachsinn sagt doch nichts aus. Das kann hierhin passen oder hierhin.“ Dabei deutet er auf verschiedene Stellen in der Rolle.

„Oder es passt überall hin.“, wagt Urban den Einwand.

„Selbstverständlich passt das überall. Deswegen kann man nicht sagen, dass es auch für unseren Text gilt.“ Das auch hat er besonders betont.

„So bleibt nur die Hoffnung, dass den Zwergen größere Weisheit geschenkt wurde.“

* * * * *

Fast überfallartig empfängt Urban den Zwerg Wilbalt.

„Hast du etwas gefunden? Steht bei euch Näheres über den Beginn?“

„Aber rein kommen darf ich doch noch oder?“, versucht der Zwerg zu scherzen.

„Entschuldige. Ja, natürlich. Doch versteh meine Lage. Bruder Abt drängt auf Klärung. Das Erntegut droht zu verrotten. Entweder es wird jetzt bald wieder Winter oder …“ Den Rest der Möglichkeit lässt Urban unerwähnt.

„Beruhige dich, mein Lieber. Wenn es gar zu schlimm wird, flüchtest du zu uns Zwergen.“

„Da wird mich der Abt doch zu allererst suchen.“, jammert der Mönch.

„Ganz bestimmt sogar. Doch wird er dich nicht bekommen. So einfach ist das. Natürlich haben wir keinen Fehler gemacht, wir haben immer darauf hingewiesen, dass es so passieren könnte, wenn man der Schrift Glauben schenken will. König Sigurd hat zugestimmt und wird mir nun deswegen nicht den Kopf abreißen. Andererseits ist meine Weissagung von dem großen Gilbret Steinschleifer. All seine Prophezeiungen sind getreulich eingetroffen. Ich glaube nicht, dass wir falsch liegen.“

„Du Glücklicher.“

„Das wird schon. Doch nun zu deiner Frage, mit der du mich empfangen hast. Die Antwort lautet: Ja und Nein.“

Merkwürdig bekannt kommt Urban dies vor. Fragend blickt er den Zwergen an.

„Nein, weil zu dieser Weissagung keine weitere Aussage getroffen ist. Sie steht ohne Weiteres da. Das Ja aber bedeutet, dass ich eine zweite Vorhersage gefunden habe. Sie muss nicht unbedingt zu dem von uns erwarteten kalten Winter gehören, wäre aber möglich.“

„Was besagt sie?“, will Urban gespannt wissen.

„Sie stammt aus dem Buch der ungelösten Sprüche. Sie lautet:

Das Kind schläft lang und kurz danach

wird der Großkönig im langen Winter wach“

Voller Spannung sieht Wilbalt Urban an.

„Na, was sagst du?“

„Nichts.“ Der Mönch kann den Gedankengängen seines Gegenübers nicht folgen.

„Also für mich bedeutet das viel. So viel, dass ich es meinem König nur ganz vorsichtig sagen kann.“

„Wieso?“

„Verstehst du nicht? Wenn der lange Winter da ist, kommt ein neuer Großkönig und König Sigurd ist entmachtet. Welchem König behagt das schon? Hinzu kommt, dass ich glaube, den neuen Großkönig zu kennen.“

„Das ist wahrlich schlimm, für den König und auch für dich. Und was hat das mit dem Winter jetzt zu tun?“

„Wenn der Winter nochmal zurück kommt haben wir doch einen langen Winter, oder?“

„Ja, wenn.“, konstatiert Urban enttäuscht.

Das war wohl nichts.

Ein großer Verlust

Die Dämmerung beginnt, als ein Handelszug mit fünf schweren Ochsenwagen vor Magdas Herberge halt macht. Durch die offene Tür hat die Hausherrin dies bemerkt.

„Jungs, Arbeit und Lohn kommt auf uns zu.“, ruft Magda, die kleine Methildis auf dem Arm. Auf der Stelle erscheint Odo, ihr ältester 18jähriger Sohn, und übernimmt seine kleine Schwester, diese in die Kammer zu bringen. „Gute Nacht, mein Schatz, für dich wird es sowieso jetzt Zeit zu schlafen.“ Dabei küsst sie ihr Jüngstes auf die Stirn unter den von Natur aus lockigen Haaren. Rudwin, der 20 Atemzüge jünger ist als Odo und Magnus und Markward, das zweite Zwillingspärchen, bleiben bei ihrer Mutter stehen und harren der Dinge, die da kommen. Markward, der jüngste Junge, weil wenige Augenblicke nach Magnus geboren, hat Magdas Kampfstock mit gebracht und ihn ihr gereicht.

Auf sie zu kommt ein kräftiger, etwa 40jähriger Mann, vornehm, fast fürstlich gekleidet. Das dunkle Haar wird langsam grau, doch Brauen und Backenbart zeigen noch kein graues Härchen. Die blaugrünen Augen blicken streng und befehlsgewohnt. Die großen Hände an den starken Armen sind zupacken gewohnt. Im Moment hält die Rechte einen Wanderstock mit dickem Knauf. Unter der Tunika ist kein Bauch zu erkennen. Mit langen Beinen in dicken schwarzen Hosen erreicht der Mann eine Größe von gut fünf und einen halben Fuß. Sein Blick schweift durch die Gaststube. Mit Verwunderung nimmt er zur Kenntnis, dass hier Tische und Bänke in drei verschiedenen Größen vorhanden sind. Im Hintergrund findet sich der große Schanktisch, auf dem große Fässer ruhen. Verschieden große Trinkgefäße warten daneben darauf, gefüllt zu werden. Dickbauchige Kannen beinhalten sicherlich leckeren Wein. Daneben führt eine Tür in dahinter liegende weitere Räume und auch auf der linken Seite sind drei Türen. Wahrscheinlich sind dort die Schlafkammern für die Gäste.

Mit kratzig dunkler Stimme herrscht er Magda an: „Ich brauche eine Kammer für mich für diese Nacht und ein ordentliches Mahl. Meine Leute können im Stall schlafen und, falls vorhanden, könnt ihr ihnen einen Kanten altes Fladenbrot geben. Die brauchen nicht viel und kosten mehr, als sie leisten. Wasser können sie sich aus dem Brunnen holen.“ Bei diesen Worten baut er sich vor Magda breit auf und stützt dabei seine Hände auf den dicken Stockknauf.

Ungerührt von diesem Ton erwidert Magda freundlich. „Auch Euch wünsche ich einen guten Abend, Herr.“ Dann wird ihre Sprache zunehmend bestimmter: „Wie ihr mit eurem Gesinde umgeht, überlass ich getrost euch, doch mir und meinen Söhnen gegenüber benehmt euch gefälligst freundlich und respektvoll. Andernfalls könnt ihr euch umdrehen und gleich wieder diese Herberge verlassen. Es wird sich dann keine Kammer für euch finden.“

Im Gesicht des Händlers rührt sich kein Muskel. Ausgiebig mustert er die Frau und ihre Söhne. Rechts außen steht Markward, links außen Magnus, die 15jährigen Zwillinge. Gleich neben der Mutter haben links Odo und rechts Rudwin, die 18jährigen, Position bezogen. Dass die vier Brüder sind, ist mehr als deutlich und wer die Jungs nicht kennt kann die Zwillingspärchen nur sehr schwer auseinander halten. Alle vier haben fast schwarze naturgelockte Haare, braune Augen und wirken kräftig, aber nicht sonderlich muskulös. Odo hat eine Ecke an einem Schneidezahn verloren. Damit unterscheidet er sich von seinem „jüngeren“ Bruder. Magnus hat eine Narbe an der Nasenspitze, was ihn vom „kleinen“ Markward abweichend erkennbar macht. Alle haben betont die Arme vor der Brust verschränkt und blicken mehr oder weniger bestimmt ihren Gegenüber an.

Und lange bleibt des Händlers Blick auf Magdas Stock hängen. „Dann bin ich hier also richtig, in Magdas Schänke und Herberge, wie mir scheint. Wikerus hat euch trefflich geschildert. Er versprach mir, hier die besten Biere zwischen Franconovurd und Uulthaha zu finden. Ich soll euch von ihm grüßen. Er meinte, mit euch sei nicht gut Kirschen essen. Und vor eurem Stock solle ich mich in Acht nehmen.“

„Ah, Wikerus, der alte Betrüger. Er war nicht der Erste und wird wahrlich nicht der Letzte gewesen sein, der meinen Stock für Zechprellerei zu spüren bekommt. Fortan kassier ich zuvorderst, eh ich bedien.“ Magda erinnert sich gut an den Händler, der versuchte, ohne zu zahlen ihr Haus zu verlassen. „Wie geht es ihm? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Euch hingegen sah ich noch nie auf der Straße. Wie nennt ihr euch?“

„Ich bin Pessolt aus Moguntia. Wikerus ist zu alt für dieses Gewerbe. Er hat mir sein Handelsgeschäft verkauft und genießt nun das Leben auf dem Hof seines Sohnes. Ich bringe nun die Waren an den Mann, so er denn genügend zahlen kann. Nun, wie ist es mit Schlafplatz und Nachtmahl? Oder wollt ihr etwas kaufen?“

„Eine Kammer hätte ich hier zur Linken von euch, wo ihr bequem ruhen könnt. Als Speise habe ich heute einen Eintopf mit Fleisch vom Wildschwein oder gut geräucherten Schweinebauch, den ich mit frischen Eiern braten kann, wenn’s beliebt. Was die Biere angeht, so will ich wohl meinen, das Allerbeste bieten zu können. Ich habe Mönchsbier aus St. Wolfgang und Zwergenbier aus Steinenaue in den Fässern. Was habt ihr denn anzubieten, das ihr mir verkaufen wollt?“

„So nehm ich wohl vom Eintopf, Frau Magda, und die Kammer. Übers. Geschäft reden wir später.“ Der Händler blickt sich um und nimmt an einem Tisch Platz. Zuvor greift er unter seine Tunika und holt einen ledernen Beutel heraus, dem er ein paar Kupferstücke entnimmt. Diese legt er mit den Worten: „Dies mag wohl auch noch für einen guten Schluck Bier reichen.“ auf den Tisch.

„Und der junge Herr hier?“

Magda blickt nun den jungen Mann an, der gleich hinter dem Händler den Raum betreten und bis eben ruhig im Hintergrund gewartet hat.

Der Händler wendet sich um und meint: „Das Bürschchen gehört nicht zu mir. Er ist nur heute Morgen hinzu gestoßen. Er geht seinen eigenen Geschäften nach, nehme ich an.“

Das Bürschchen ist ein schmächtiger Jüngling von höchstens 19 Jahren, kaum fünf Fuß groß und deutlich weniger gut gekleidet, als der Händler. Die Gewandung scheint ein wenig zu weit. Das etwas dunkelrote Haar ist leicht wellig und recht kurz geschnitten. Gesicht und Hände wirken sehr fein, grobe Arbeit muss dem Jungen wohl fremd sein. Die Stimme kippt beim Reden immer wieder um, als sei er noch im Stimmbruch.

„So ist es.“, bestätigt der junge Mann. „Es ist sicherer, mit einem Händler zu reisen, denn alleine. Ich bin Kuno, Frau Magda. Ich wäre mit einem Schlafplatz in der Scheune und einem Stück Bauch zufrieden. Reicht euch dies?“

Kuno hält ihr ein großes Kupferstück hin und blickt sie irgendwie schüchtern an.

Pass auf dich auf, Jüngelchen, denkt sich Magda. Wenn du Handeln willst, musst du bestimmter auftreten. Hoffentlich wird dein Lehrgeld dich nicht teuer zu stehen kommen.

„Das reicht, junger Herr. Was wollt ihr trinken?“

„Wasser, Frau Magda. Mir reicht Wasser.“

Mit scheuem Blick tritt Kuno an des Händlers Tisch, setzt sich aber erst, nachdem dieser zustimmend nickte.

Nach dem Kupferstück des Jungen nimmt Magda nun auch des Händlers Zahlung an sich und drückt es Odo in die Hand, worauf dieser sofort damit aus dem Raum läuft, um es sicher zu verwahren. Magnus und Markward laufen los, das Essen zu bereiten und Rudwin kümmert sich um die Getränke.

„Wer ist denn jener kleine alte Mann?“, will Pessolt wissen und zeigt auf Frieder, der in einem gepolsterten tiefen Stuhl sitzend leise vor sich hin schnarcht.

Magda lächelt bei dem Anblick. „Dies ist Frieder Knöterich, der Halbling aus Lindenbach. Er lebt hier bei mir und verbringt seinen Lebensabend mit schweren philosophischen Fragen, bei denen er in der Regel gerne einschläft. Ich gönne ihm die Ruhe. Man nennt ihn auch Ob, weil er gerne seine Fragen mit dem Wörtchen Ob beginnt.“

„So, so, philosophische Fragen. Wikerus hat mir berichtet, dass bei euch sonderliches Völkchen ein und aus geht. Das sieht man auch an den Tischen und Bänken hier. So sieht also ein Halbling aus. Welcher Art sind diese Fragen denn?“

„Oh, diese sind wirklich äußerst tiefschürfend.“, antwortet Magda mit verschmitztem Lächeln. „Ich glaube, im Moment plagt ihn die Frage, ob die Götter die Sonne auspusten wie eine Kerze, wenn sie untergegangen ist.“

Laut lacht der Händler los. „Ach, doch so ungemein tiefgründige Fragen!“, ruft er. „Und, findet er auch eine Antwort?“

„Natürlich findet er auch eine Antwort!“, kommt es bestimmt aus der Tiefe des Stuhls heraus. Frieder ist bei der Nennung seines Namens durch Magda und dem Gelächter des Händlers aus seinem Schlummer erwacht. Er ist es gewohnt, dass die Gäste über ihn und seine Fragen lachen, denn gerne erfindet er derartige Fragen zur Belustigung der Reisenden. Die Zeit, da er tatsächlich solchen umnebelten Gedanken nach hing, ist Dank Magda schon sehr lange vorbei. Durch einen Sturz auf den Kopf im Kindesalter hatte sich sein Geist verwirrt und erst nachdem Magda ihn ernst genommen und auf ihn eingegangen war, hatte sich dieser Zustand zusehends gebessert. Langsam und vorsichtig, wie es die alten Knochen verlangen, krabbelt er aus dem Stuhl und baut sich zu voller Größe (bei nicht einmal drei Fuß wohl doch eher Kleinheit) vor dem Händler auf. Er blickt zu ihm hinauf und ergänzt:

„Magda ist die klügste Frau der ganzen Welt. Sie gibt mir immer die rechte Antwort.“ Dabei hat er gewichtig die Hände in die Seiten gestemmt. Rudwin muss mit dem Bier und dem Wasser um Ob herum gehen, um es auf den Tisch zu stellen.

Noch immer lacht Pessolt und auch der Jüngling lächelt verhalten.

„Nun, werter Frieder, was hat euch eure kluge Magda denn auf diese Frage für eine Antwort gegeben?“ Der Händler lacht noch immer.

„Euch hätte sie sicherlich geraten, selbst hinzugehen, ans Ende der Welt, und nachzusehen. Mir hat sie geantwortet, dass die Sonne nicht ausgepustet wird. Wenn ich eine Kerze nehme und mit einem Brett darüber hinweg gehe, sehe ich ihr Licht nicht mehr, obwohl sie immer noch brennt.“

„Eine wahrlich kluge Antwort, einer klugen Frau würdig.“, prustet der Händler und auch der Bursche lacht leise und hell.

„Nicht wahr?“, meint Frieder. „So ist sie, meine Magda. Doch jetzt entschuldigt mich, mich quält die Frage, ob die Sonne dann nicht die Erde von unten anbrät des Nachts.“ Damit wendet er sich wieder dem Stuhl zu, klettert hinauf und macht es sich wieder bequem. Der Anschein des tiefen angestrengten Nachdenkens weicht schon bald wieder dem leisen Schnarchen.

Pessolt aber kann sich kaum noch auf der Bank halten vor Lachen. „Köstlich, Frau Magda, wirklich köstlich. Selten so gelacht. Habt ihr dies öfters?“

„Nur wenn Gäste da sind.“, antwortet sie lächelnd. „Ah, da kommt ja auch schon euer Mahl.“ Mit einer leicht angedeuteten Verbeugung und dem Wunsch: „Lasst es euch munden, die Herren.“ zieht sich Magda zurück.

Nachdem der Händler noch einen Nachschlag vom Eintopf und den Brotrest des jungen Mannes verspeist hat, wo hingegen jener seine Last mit der eigentlich normalen Portion Eier und Bauch hatte, tragen Magnus und Markward den Tisch ab. Pessolt bittet Magda mit einem Wink heran zu treten.

„Bitte, noch einen Humpen. Was gibt es Neues hier im Land? Ihr als Wirtin kennt doch sicher allerlei, was so rundherum geschieht.“

„Das Letzte, was für euch von Interesse sein könnte, ist der Tod der Mutter König Sigurds.“

„Davon hab ich schon gehört. So bin ich denn also wohl bereitet, mit den edlen Leuten hier zu sprechen und niemandem zu nahe zu treten oder gar zu brüskieren.“

Pessolt unterbricht, denn Rudwin bringt den nächsten Humpen. Dann fährt er fort: „Haltet mich nicht für neugierig, Frau Magda. Auch mich drängen Fragen, allerdings nicht so dramatische wie jene des Halblings.“

„So fragt denn, Pessolt. Ich werde sehen, ob ich antworten mag.“, erlaubt sie.

„Wikerus hat mir erzählt, ihr hättet euer Gut einem alten Grafen aus den Rippen geleiert. Er hat auch erzählt, dass ihr dies nur erhalten hättet, weil ihr einen Drachen euren Freund nennen könnt. Es soll damals sogar Tote gegeben haben. Ich kann mir dies so gar nicht vorstellen. Ein Drache! Das gibt es doch nicht.“

„Möge Wikerus sein dummes Maul halten oder die rechte Wahrheit sprechen. Es geht euch zwar nichts an, doch bevor auch ihr noch weiteren Blödsinn hinzu erfindet und über mich verbreitet, will ich euch berichten, was sich wirklich zugetragen hat. Ihr erlaubt?“ Magda ist erbost über dieses dumme Gewäsch. Sie zieht sich einen Hocker herbei. Der Jüngling blickt zuerst sie mit großen Augen an und dann tief in das vor ihm stehende Wasser.

„So höret denn: Ich bin die Tochter eines armen Unfreien, aufgewachsen bei meinem Onkel. Des Grafen Sohn, den Namen werde ich euch nicht preis geben, verging sich an mir und ich ward schwanger. Dann beging ich den Fehler und gab ihn bei seinem Vater, meinem Richter, als den Täter an, worauf dieser mich zur Strafe für eine Lüge, wie er anfänglich meinte, ins Kloster nach Uulthaha schickte. Ein Mönch sollte mich bringen, doch ich entfloh ihm. Auf meiner Flucht traf ich auf den Herren dieses Tals, Eringus, den Drachen. Ja, den gibt es wirklich, doch hat er es nicht nötig, sich jedem zu präsentieren.

Ich gebe zu, es ist wahrlich kein Vergnügen, einem derart riesigen Drachen gegenüber zu stehen. Sein Maul ist so gewaltig, dass es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde, euch junger Herr, mit einem Happs zu verspeisen. Doch mir gegenüber war er friedlich, denn ich sollte ihm einen Dienst erweisen.

Jener Drache brachte mich zuerst zu den Halblingen, bei denen ich sehr viel lernte. Seit damals begleitet mich Frieder fast überall hin. Danach durfte ich in der Zwergenfestung Steinenaue leben und weiter lernen. Dort lernte ich auch die Kampfkunst, mit der schon so mancher Bär oder betrügerischer Gast Bekanntschaft machte.

Als dann die Zeit kam, musste ich meinen Dienst erfüllen, welcher mich zu eben jenem Grafen wieder zurück führte, der mich seinerzeit ins Kloster schickte. Durch Umstände, die überhaupt nichts mit meiner Person zu tun hatten, hat der Sohn sein Vergehen mir gegenüber inzwischen zugegeben und seine Mutter ward sogar der Untreue und anderer Gräueltaten an ihrem Mann überführt worden. Der Graf gab mir als Wiedergutmachung für die Notzucht diesen Grund zu eigen, hieß der Gräfin ersten Mittäter zu steinigen und auch sein Weib, die Gräfin selbst, sollte sterben. Er wollte sie auf den Scheiterhaufen stellen, doch ihr gelang zuvor die Flucht. Der Meier, ihr Mitverschworener, versuchte noch während des Prozess zu fliehen und rannte bewaffnet auf mich zu. Ich konnte ihn, sicher für ihn sehr schmerzlich, aufhalten und den Wachen übergeben. Doch, wie gesagt, all jene Geschehnisse habe ich nicht zu verantworten. Es war jener Graf, der alles ans Tageslicht brachte und die Urteile wurden von einem anderen Grafen gesprochen. Grad so, wie es unser Recht verlangt. Ich habe niemals einen Menschen getötet und werde es wohl auch, wie ich hoffe, nie tun müssen. Nur mein Vieh stirbt von meiner Hand. Dass der Graf mich derart reich beschenken würde, hätte ich nie gedacht. Kein Verlangen kam über meine Lippen. Und all das geschah, bevor dann der Drache in die weiteren Ereignisse eingriff.“

„Eine wirklich erstaunliche Geschichte. Ich geb euch recht, Frau Magda. Bei nächster Gelegenheit rate ich Wikerus, den Mund zu halten. Und Gleiches werde auch ich tun. All zu leicht mag einer dies missverstehen, der es nicht aus eurem Munde hört. Umso eher, wenn etwas falsch gesagt wird. Seid bedankt für eure Offenheit.“

„Ich denke, es war nötig, dies klar zu stellen. Ich bedaure auch, nie eine Gelegenheit zur Aussprache mit der Gräfin gehabt zu haben. In den wenigen Augenblicken, da ich sie sah, bekam ich den Eindruck, sie mache mich für all ihr Unglück verantwortlich. Dabei hätte ich nie ein Wort über die Notzucht gesagt, wenn der Graf mich nicht derart gedrängt hätte. Sie muss so voller Bitternis sein, dass es über ein menschliches Maß hinaus geht.“

9,49 €