Buch lesen: «Eringus, der Drache vom Kinzigtal», Seite 3

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Magda ist die ganze Zeit, bei diesen Gedanken langsamer werdend, vor sich hin getrottet und der Mönch achtet nicht darauf, dass das Mädchen hinter ihm zurück bleibt. Nun merkt Magda, dass der Bruder recht weit vor ihr ist. Jetzt könnte er sie nicht mehr greifen, wenn sie fort liefe. Doch auch Servatius fällt eben dieser Umstand auf. Er dreht sich gerade zu ihr um. Das ist die Gelegenheit; jetzt oder nie. Fluchs wendet sich Magda zu ihrer Linken und läuft den Abhang hinauf.

„Bleib stehen, Kind. Lauf nicht weg. Hast du mir nicht zugehört? Weißt du nicht, wo wir hier sind? Das ist gefährlich!“

Die Rufe des Mönchs halten Magda nicht auf. Nein, sie hat nicht zugehört und was der Schwätzer alles erzählt hat, hat sie sowieso nicht interessiert. Dummes Zeug von einem Christus, Gottes Sohn und Himmelszeichen und was sonst alles. Sie will nicht ins Kloster und deshalb musste sie jetzt flüchten und ihren eigenen Weg suchen. Alles war sicher besser, als ins Kloster zu gehen. Immer weiter und so schnell sie nur kann, läuft sie auf dem mit altem Laub und Nadeln bedeckten Boden hinauf. Schlägt sich durch dichtes Unterholz zwischen den Bäumen hindurch. Sie springt über umgestürzte Baumriesen, die ihre teils noch mit Erde ummantelten Wurzeln in die Luft strecken. Hinter einer besonders großen Wurzel versteckt sie sich. Schwer atmend kauert sie sich in ihr Versteck, umgeben moosbedeckten Stämmen und Stümpfen und Felsbrocken, und lauscht, ob ihr der Mönch folgen würde. Schließlich war er ihrem Herren im Wort dafür, sie zum Kloster zu bringen. Aber sie hört nichts.

Bruder Servatius hat auch gar keine Lust, ihr hinterdrein zu rennen. Er würde sich nicht in diese Gefahr begeben. Da sei Gott vor. Er sieht noch kurz Magda hinterher und wartet, ob sie vielleicht doch, wegen seiner Rufe zurück käme. Als dies nicht geschieht, dreht er sich wieder um und geht seines Weges. Sein Weg war noch weit und bei nächster Gelegenheit würde er dem Grafen eine Botschaft zukommen lassen. Wer weiß, wann sich diese Gelegenheit ergeben wird?

Als Magda meinte, genug gewartet zu haben, erhebt sie sich wieder hinter dem Felsen und sieht sich um. Auf die Strasse zurück will sie jetzt erst einmal nicht. Vielleicht, wenn sie noch höher ginge, würde sie von oben erkennen, wo sie hingehen könnte. Vielleicht war der Rauch aus irgendeinem Ofen über den Bäumen zu sehen. Wenn Sie zurück wollte, müsste sie mit der Sonne im Rücken gehen, denn bisher waren sie fast immer der Sonne entgegen gelaufen. Irgendwo dahinten wäre dann wohl ihr Zuhause. Dabei kommen ihr Tränen in die Augen. Jetzt ist sie allein. Ganz allein. Jetzt hat sie auch kein Zuhause mehr. Dort durfte sie nicht hin, wollte sie nicht vom Herren schlimm bestraft werden. Sie findet keine Lösung, doch im Wald will sie nicht bleiben. Wenn es dunkel würde und sie schliefe, käme vielleicht ein Wolf oder gar ein Bär und fräße sie. Sie hatte gehört, dass der Graf schon seit längerem hinter einem großen Bären her jage, ihn aber noch nicht erlegen konnte. Sie musste etwas finden, wo sie sicher war. Also aufwärts.

Es ist sehr beschwerlich, denn sie findet keinen Weg. Oft schon hat sie sich getäuscht und eine Terrasse am Berg für einen Weg gehalten. In diesem Teil des Waldes lief wohl nie ein Mensch. Und auch größeres Wild hatte sich hier keinen Pfad gebahnt. Es fehlen die verbissenen und geschälten Jungbäume. Zuweilen ist der Hang so steil oder unwegsam, dass sie ein gutes Stück zurück muss, um ihr Glück an einer anderen Stelle zu versuchen. Sie klettert über alte umgefallene Bäume oder kriecht darunter durch. Oftmals nimmt sie dabei eine Spinne oder einen Käfer in ihren Haaren mit. Auch das eine oder andere Bächlein oder Rinnsal gilt es zu überqueren. Immer wieder dreht sie sich auf der nächsten kleinen Lichtung um. Doch es ist ihr immer noch nicht hoch genug. Nichts ist über den Wipfeln der Bäume zu sehen und der Blick ins Tal wird durch die Bäume unter ihr immer noch verwehrt. Verbissen kämpft sich Magda vorwärts. Der Magen knurrt gewaltig. Außer ein paar mageren Kräutern hat sie bisher nichts gefunden. Es ist noch nicht die Zeit, dass die Natur ihren Tisch reich gedeckt hat. Wilde Beeren oder Pilze gibt es noch nicht. Magda denkt nun doch schon ein wenig anders über ihre Zukunft im Wald. Es würde eine hungrige Zeit werden. Und wenn sie sich vielleicht etwas jagen würde? Aber wem würde das gehören? War sie dann auch ein böser Räuber? Aber jagen kann sie ja nicht, hat sie nie gelernt. Sie versteht nichts von Fallen bauen. Pfeil und Bogen oder einen Spieß hat sie nicht und könnte auch damit nicht umgehen. Ein Messer hat sie auch nicht, womit vielleicht ein Fisch auszunehmen wäre. „Oh Magen, hör auf zu knurren.“ Die letzte Speise hat sie gestern vom Mönch bekommen. Einen kleinen Kanten altes Brot und etwas Brei. Das war aber auch gestern schon gleich wieder verdaut worden.

In diesem Moment öffnet sich der Wald zu einer größeren Lichtung. Vor ihr steigt der Fels wieder einmal steil an und Magda sucht, wo sie weiter kann. Da beschleicht sie das Gefühl, als sei sie nicht mehr alleine. Sie ist sich nicht sicher, aber waren da eben nicht Stimmen zu hören? Wie angewurzelt bleibt sie stehen und lauscht. Angespannt und bereit, hinter den nächsten Busch ins Versteck zu springen.

Nein, da hört man gar nichts. Hätte Magda mehr Erfahrung gehabt, hätte sie gewusst: Einen vollkommen stillen Wald gibt es nur, wenn die Tiere Gefahr spüren. Dann verharrt alles in Erwartung, was gleich geschähe. So auch hier. Kein Vöglein erhebt seine Stimme. Der Wind hält inne und schweigt; scheinbar. Kein Rascheln des Mäusleins im Gesträuch.

Es gibt keine Worte, um die plötzlich aus dem Boden hervorbrechenden Töne zu beschreiben. Nie hat Magda jemals solch fürchterlich schrilles, grelles, langgezogen leidvolles Quietschen gehört. Erschrocken presst sie die Hände auf die Ohren, was aber nur wenig hilft. Durch die Hände hindurch drängt die Kakophonie. Hinzu bringt ein so dumpfes starkes Brummen, welches das Quietschen begleitet, den Boden derart zum vibrieren, dass sich die Schwingungen auf ihren Körper übertragen. Bei jedem Atemzug zittert die Luft in ihren Lungen. Nicht eine Minute länger würde sie diesen Lärm ertragen, ohne Wahnsinnig zu werden. Panik steigt in Magda auf.

Und dann ist alles wieder still.

Magda nimmt die Hände von den Ohren und atmet tief durch, ohne dass ihre Lungen zittern. Noch halb benommen blickt sie sich um. Aber es gibt immer noch nichts zu sehen. Auch zu ihren Füßen ist nichts außer dem Gras, das hier wächst und den Büschen und Bäumen um sie.

„Ich hab dir doch gesagt, du hast hier nichts zu suchen. Was fällt dir ein? Du machst noch alles kaputt. Verschwinde!“ Die Stimme hallt sehr merkwürdig. Und wer da ruft, ist sehr böse.

Wieder kommen die Töne, vielmehr jetzt das Rufen, scheinbar aus dem Boden. Magda fällt fast vom Schlag getroffen vorn über. Was ist das? Welch bösen Geister hausen hier? Sie will doch gar nichts kaputt machen.

„Ich will euch nichts Böses. Verschont mich, ihr Geister!“, ruft sie. „Ihr Götter beschützt mich!“ Als wäre der Teufel hinter ihr her, rennt Magda wieder den Hang hinab. Natürlich stürzt sie dabei immer wieder, weil ihre Füße nicht so schnell laufen können, wie sie möchte. Nur schnell weg. Egal welche Trolle oder Geister hier hausen. Freundlich sind die bestimmt nicht. Zu Tode erschrocken flieht Magda, ohne darauf zu achten, dass sie inzwischen auf einem fest getretenen Weg rennt. Schließlich stürzt sie ein letztes Mal und bleibt völlig erschöpft bäuchlings neben dem Weg liegen.

Nur langsam kommt Magda wieder zu Atem. In ihr drin ist alles noch völlig aufgewühlt. Sie zittert am ganzen Körper. Teils aus Angst, teils aber auch aus Erschöpfung. Sie ist nicht in der Lage, sich zu erheben. Da hört sie ein Fuhrwerk sich nähern. Die Achsen quietschen rhythmisch. Vom Hügel herab kommt das Gespann. Es ist ein ganz kleiner Wagen, gezogen von einem ganz kleinen Schaf. Und auf dem Kutschbock sitzt ein ganz kleiner Mann. Wirklich ganz klein. Wenn er steht, ist er wohl um die zwei oder zweieinhalb Fuß groß. Höchstens, schätzt Magda. Sie liegt, immer noch völlig entkräftet, auf dem Boden und hat sich nur auf die Seite gedreht.

„Brrr!“. Der kleine Mann hat das Fuhrwerk gestoppt und blickt zu ihr. „Kann ich euch helfen, Maid?“

Magda richtet sich etwas auf und stützt sich nun auf den Unterarm. „Nein, vielen Dank, Herr.“, sagt sie artig. Mehr geht nicht. Sie kann nicht begreifen, dass dieser kleine Mann mit dem kleinen Schaf und dem kleinen Fuhrwerk mit ihr spricht. Sie nimmt überhaupt nicht richtig wahr, was gerade passiert.

Dem kleinen Mann ist ihre Antwort genug. Mit einem Schnalzen bringt er das Schaf wieder in Bewegung. „Ich entbiete euch meinen Gruß“, ruft er noch. Das Fuhrwerk rollt gemütlich weiter und verschwindet hinter dem nächsten Busch.

Magda schüttelt den Kopf, als könne sie damit ihre wirren Gedanken wieder in Ordnung bringen. Dann setzt sie sich auf. Sie ist wie benommen. Sie glaubt, sie stünde neben sich und sähe auf sich herab. Die Angst vom Berg ist verschwunden, verdrängt von dem Bild des kleinen Mannes. Magda hat schon kleine Menschen gesehen; bei den fahrenden Leuten. Doch die waren irgendwie missgestaltet. Krumme Beine, zu kurze Arme, zu große Köpfe und so. Meist machten sie Späße auf dem Jahrmarkt. Aber dieser kleine Mensch war ….

Wie ein Mensch eben war. Alles ganz normal, nur sehr sehr klein. Wo war sie hier? Träumte sie? Was war geschehen? Es bleibt ihr nicht viel Zeit, darüber nach zu denken. Als sie sich erhebt und wieder auf den Weg treten will, hört sie vor sich Hufgetrappel und ehe sie es sich versieht, kommt ihr ein anderer kleiner Mann, mit wehender grüner Zipfelmütze, auf einem kleinen Ziegenbock reitend, entgegen galoppiert. Er hält sich an den Hörnern des Bockes fest

„Aus dem Weg, du dummes Ding. Dass einem die Großen immer im Weg rum stehen müssen! Es ist doch kaum zu glauben. Steh nicht dumm rum, sonst nimmt dich der Bock auf die Hörner.“ Und schon ist der kleine Reiter vorbei.

Das ist dann doch zu viel für Magda, die Panik ist wieder da. Sie rennt los, laut hysterisch schreiend, ohne Sinn und Verstand, einfach nur weg. Aus diesem Wald muss sie raus. Sei rennt und rennt, bis ihr vor Erschöpfung schwarz vor Augen wird und sie ohnmächtig zusammen bricht.

Nach der Ohnmacht ist Magda nicht erwacht. Ihr Körper hatte es vorgezogen, nahtlos in einen sehr tiefen und langen Schlaf zu fallen. Der ist aber auch bitter nötig. Viel zu viel hatte die so junge Frau zu ertragen. Diese vielen erschreckenden Erlebnisse. So viel Unbekanntes. Das muss erst verarbeitet werden und das macht der Körper am Besten im Schlaf. Man darf auch nicht vergessen, dass sie schwanger ist und auch das Ungeborene der Ruhe bedurfte. Keiner kann heute noch sagen, wie lange Magda tatsächlich geschlafen hat.

Als sie dann erwacht, fühlt sie sich ausgeruht und ruhig. Tief im Innern aber ist noch lange nicht alles in Ordnung und sicher hätte es nur eines kleinen Auslösers bedurft und Magda hätte erneut eine Ohnmacht erlitten. Aber es geschieht nichts. Eine Amsel über ihr singt und am Sonnenstand erkennt sie, dass es wohl noch früh am Morgen ist. Die Sonne ist zwar schon aufgegangen, aber sie hat noch nicht die Wipfel der Bäume überstiegen. Die Wiese, auf der sie liegt, ist vom Morgentau noch feucht. Auch ihre Kleider sind deshalb klamm und sie freut sich darauf, in der Sonne zu trocknen. Hunger und Durst hat sie. Für den Durst plätschert in der Nähe ein kleines Rinnsal. Gierig trinkt sie aus dem Bächlein. Auch wenn das Wasser sehr kalt ist. Nur mit dem Essen ist das immer noch so eine Sache. Löwenzahn ist das Einzige, von dem sie weiß, dass es ihr bekommt, das sie findet. Und ein paar Käfer, die sie kennt, kann sie erhaschen. Schweren Herzen überwindet sie sich, Krabbelviecher zu verspeisen. Hauptsache, der Hunger ist erst einmal gestillt und der Magen beschäftigt; auch wenn er massiv revoltiert.

Sie blickt sich um. Wozu eigentlich? Sie weiß schon lange nicht mehr, wo sie ist. Sie ist weit von zu Hause (wieder steigen ihr Tränen in die Augen) und sie kennt die Gegend nicht. Ach, wie sie ihre kleine Siedlung doch so sehr vermisst. Was nun? Wohin gehen? Natürlich nicht mehr auf den Berg. Keine zehn Pferde würden sie da hinauf schaffen. Aber, ….?

Wo ist eigentlich der Berg? Ist es der ihr gegenüber? Oder ist es der weiter hinten zur Rechten? Oder ist es nur die kleine Anhöhe hinter ihr? Es gibt keine Orientierung für sie. Seit dem kleinen Ziegenbockreiter ist alles Folgende in Dunkel gehüllt. Sie hat keine Erinnerung, dass sie die große Strasse überquert und auf der anderen Seite, ein wenig westlich gewandt, wieder eine kleine Anhöhe erklommen hat.

Magda versucht, mit ihrem bescheidenen Wissen, ihr Weiterkommen zu überdenken. Wasser war sehr wichtig, das weiß sie. Und alle Siedlungen die sie kennt oder von denen sie weiß, liegen an einem Wasser. Sei es Fluss oder See. Gut! Wasser ist hier neben ihr. Zwar klein und nicht geeignet, viele Leute und deren Tiere zu versorgen, aber immerhin. Wie immer ist ein großer Umblick nicht möglich. Sie kann also nirgends eine Lichtung sehen, auf der vielleicht Menschen leben würden. Selbst das hätte ihr aber nichts genutzt, denn, und das ist ihr auch klar, es könnte auch eine Wüstung sein. Dort hatten vielleicht früher einmal Menschen gelebt. Weil der Acker aber keinen Ertrag mehr brachte, waren sie weiter gezogen. Außer Disteln und Brennnesseln hätte sie dort nicht viel vorgefunden. Mit viel Glück vielleicht ein halb verfallenes Dach, unter dem sie sich hätte verbergen können. Kleines Wasser läuft in großes Wasser, hatte ihr die Großmutter erklärt. Also muss sie jetzt nur dem kleinen Bach folgen, bis er in einen größeren Bach oder Fluss mündet. Dort sollte sich wohl eine Siedlung in der Nähe finden lassen.

Nachdem sie ihre Notdurft erledigt und sich im Bach gereinigt hat, beginnt sie ihre, nun endlich, selbst geplante Wanderung auf der Suche nach einer Bleibe. Sie folgt dem Bachlauf abwärts, so gut sie kann. Oft genug, muss sie, wieder einmal, dem Wald und den Sträuchern ausweichen. Aber immer behält sie den Bach im Blick; oder zumindest im Ohr. Es ist nicht einfach; wirklich nicht.

So ist Magda nun schon einige Zeit gewandert. Gerade eben hat sie eine kleine Rast gemacht. Aus dem Bach hat sie etwas getrunken. Voraus kann sie schon erkennen, dass sich dort wohl eine dichte Hecke gebildet hat, die sie wohl umgehen muss, denn der Bach läuft zwischen den Büschen hindurch. Nur nicht zu früh vom Bach abweichen. Soll sie nun rechts herum laufen oder links? Es möchte sein, der Bach nimmt eine Wendung und sie findet ihn hinter der Hecke nicht mehr. Aber die Entscheidung wird ihr abgenommen.

Noch während sie darüber nachdenkt, hört sie die Stimme ihrer Tante: “Magda, wo hast du so lange gesteckt? Die Schweine und Gänse wollen versorgt werden. Meinst du, das ginge von alleine?“

Sie hasst nicht nur die Stimme ihrer Tante. Doch wo ist sie? Magda blickt sich um. Es kann nicht sein, dass sie so nahe ihres Zuhauses ist. Nein, niemand zu sehen. Sicher nur eine Einbildung. Kein Wunder nach den letzten Erlebnissen. Und Magda geht weiter.

„Ich habe es satt, dich durchfüttern zu müssen.“ Das ist ihr Onkel. Ist der auch hier? Halt, wieso auch? Ihre Tante ist doch auch nicht hier, Aber der Onkel? Ganz deutlich hat sie seine Stimme gehört. „Nichts machst du ordentlich. Willst du wohl endlich herkommen, wenn ich dich rufe? Du sollst dich nicht so weit im Wald herum treiben.“

„Magda, wo bist du? Ich kann dich nicht finden. Komm zurück!“ Das ist Hilda, die kleine Tochter ihres Onkels, die sie so sehr liebt. Es zerreißt ihr fast das Herz. Aber nein, das kann doch nicht sein. Magda dreht sich im Kreis, kann aber noch immer niemanden erblicken. Wo kommen die Stimmen her? Das ist doch nicht möglich. Sie verspürt den Drang, nach Hause zu gehen. Dort ist es doch viel schöner, als hier. Sie kann es nicht begreifen. Sie hört die Stimmen, klar und deutlich. Aber sie kann niemanden sehen. Wie kann das nur möglich sein. Wie?

Schon lange ist sie keinen Schritt mehr gegangen. Die Stimmen haben sie aufgehalten. Aber sie will doch weiter. Sie will doch eine Siedlung finden, neue Menschen, die sie aufnehmen, weil sie zu Hause nicht mehr sein darf. Aber jetzt rufen sie die Stimmen nach Hause zurück. Das ist doch nicht vernünftig. Oder doch? Hat sie sich geirrt? Haben Onkel und Tante sie doch lieb? Warum hört sie ihre Großmutter nicht?

Nein, so gerne sie auch wieder nach Hause ginge, aber es ist ihr doch verboten. Der Herr selbst hat sie fortgeschickt. Will man sie nach Hause locken, damit sie bestraft werden kann? Wie gemein. Sogar die kleine Hilda missbrauchen sie, um mich zu kriegen, denkt Magda.

Sie merkt nicht, dass sie bereits die Stimmen ernst nimmt. Sie spürt nicht, dass sie die Realität nicht mehr wahr nimmt. Ihre Umgebung verschwimmt vor ihren Augen. Der Bach, die Hecke – nichts mehr sieht sie so, wie es ist. Eine Scheinwelt baut sich in ihr auf. Jetzt sieht sie auch ihre Lieben und auch die weniger oder gar nicht Geliebten. Sie sieht Großmutter, die die kleine Hilda auf dem Schoß hat. Beide schauen so unendlich traurig drein. Sie sieht jetzt auch Tante und Onkel. Sie stehen nicht weit vor ihr und schauen gar nicht freundlich.

Dann sieht sie Hermann, des Grafen Sohn und Vater ihres Kindes. „Na, du Lügnerin! Trau dich nur her. Man wird dich lehren, die Wahrheit zu sprechen. Der Stock freut sich schon, auf deinem Rücken zu tanzen. Komm nur, komm nur.“, hört sie ihn rufen. Und zu allem Überfluss taucht übermächtig hinter allen der Graf auf, riesig groß, und er schreit nach ihr. „Magda, ich kriege dich! Wo du dich auch versteckst! Du entkommst mir nicht! Wage es nicht, weiter zu gehen!“

Aus dem Wunsch, weg zu gehen, ist ein Zwang zur Flucht geworden. Dort vorne, hinter der Hecke, da sind sie alle. Da warten sie alle, um ihr Böses zu tun. Nein, ihr kriegt mich nicht. Ihr habt mich nicht lieb. „Nein!“ schreit Magda, „Ich will nicht. Lasst mich.“, bricht es aus ihr heraus.

Magda dreht sich um und rennt. Sie rennt und rennt und rennt. Sie kann nicht mehr denken. Des Zaubers, dem sie gerade erliegt, kann sie sich nicht erwehren. Denn ja, dies ist ein Zauber. Alle Menschen, die sie gesehen und gehört hat, sind überhaupt nicht gegenwärtig. Es gibt sie hier nicht. Im Moment verschwendet keiner von ihnen auch nur einen Gedanken an sie. Vielleicht ausgenommen Großmutter und Hilda. Ein Abwehrzauber zwingt sie dazu, sofort und so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Ihm nicht näher zu kommen.

Sonst wirkt der Zauber nicht so stark. Er ist ausreichend, jeden, der nicht willkommen ist, zu vertreiben. Doch bei Magda, die schon so schreckliches kurz zuvor erlebte, wirkt der Zauber so viel stärker. Schon wieder rennt sie, ohne auf irgendetwas zu achten, durch den Wald. Jedes Tier, das sie bei ihrer Flucht aufscheucht, erschreckte sie noch mehr. Doch diesmal rettet sie keine schützende Ohnmacht.

Völlig verwirrt und unendlich erschöpft kämpft sich Magda weiter durch den dunklen Wald. Mit den Armen drängt sie kleine Äste aus dem Weg. Doch sie erwischt nicht alle und manches mal erhält sie dann einen Schlag gleich einer Peitsche ins Gesicht. Kein Lichtstrahl des inzwischen voll aufgegangenen Mondes erreicht durch das dichte Blätterdach den Boden. Schwer atmend lehnt sie sich an den Baumstamm, dessen Wurzeln sie eben fast zu Fall gebracht hatten, und sieht sich um. Bei der Dunkelheit eine vollkommen unnötige Bemühung. Sie sieht nichts.

Aber ihre Angst treibt Magda vorwärts. Sie hat zwar keine Ahnung, in welche Richtung, geschweige denn wie weit, doch immer weiter stolpert sie dem unbekannten Ziel entgegen. Plötzlich steht Magda vor einem sehr großen hellen Felsen, der sich deutlich aus dem Dunkel abhebt. Fast wäre sie daran gestoßen, denn trotz seiner hellen Farbe hat sie ihn erst gar nicht gesehen. Rechts und links von sich ertastet Magda weitere Felsen der gleichen Farbe. Er fühlt sich merkwürdig an. Er ist nicht glatt, sondern irgendwie - schuppig. Ja, genau. Einen schuppigen Felsen kennt sei nicht. Sonderbar. Zurück gehen will sie nicht, weiter gehen kann sie nicht. Kraftlos sinkt sie mit dem Rücken zum Felsen zu Boden. Und noch in dieser Bewegung verlangt der Körper sein Recht nach Ruhe. Magda ist tief eingeschlafen.

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