Kommissar "Anders" & das Haus der weißen Katze

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„Und von Döner nicht, oder?“, grinste Jerry, legte den Laptop auf die Rücksitzbank und stieg mit Malik ins Auto. „Dann iss halt mal einen Chickenburger, oder `nen Fischmac!“

„Ich mag keinen Fisch! Ich mag gar nichts, von dem Zeug“, sagte Malik trotzig und Jerry verschränkte die Arme, vor seiner Brust.

„Weißt du was, jetzt reicht`s mir endgültig! Du sagst, ich wäre ein Kotzbrocken und dass du ständig meine Launen ertragen müsstest! Und du? Du nörgelst ständig herum, magst dies nicht und isst das nicht und ständig dein, das darf ich nicht essen, wegen meiner Religion und so weiter! Ich, muss und soll, ständig auf dich Rücksicht nehmen! Dabei führst du dich doch hier auf, wie die größte Diva! Und erst, wenn du deinen Ramadan hast! Dann bist du kaum zu ertragen, weißt du das?!“, schnauzte er Malik an.

„Ach ja? Na dann, entschuldige bitte vielmals, dass ich meine Religion wenigstens halbwegs zelebriere! Du glaubst doch eh, an gar nichts! Aber bitte schön, dann werde ich beim nächsten Ramadan halt Nachtdienst machen!“, keifte Malik zurück.

„Oh, super Idee! Dann muss ich dich da wenigstens nicht mehr ertragen, scheiß Perser!“, schrie Jerry und startete den Wagen.

„Ok, scheiß Deutscher! Bitte schön, abgemacht! Und jetzt?“

„Fahren wir zur Dönerbude!“

*

Als Jerry am Abend in seine Wohnung kam, goss er zunächst einmal den verkümmerten Gummibaum und schloss anschließend Niklas` Laptop wieder an. Stundenlang versuchte er vergebens das Passwort zu knacken und gab schließlich frustriert auf. „Wo steckst du nur?“, murmelte er übermüdet und ging ins Bett.

Am nächsten Tag nahm er Niklas` Laptop mit ins Büro und versuchte weiterhin verzweifelt, sehr zu Maliks Unmut, das Ding zum Laufen zu bringen.

„Das bringt doch nichts“, sagte der schließlich und Jerry blickte auf.

„Ich probiere es wenigstens, während du immer nur rummeckerst!“, keifte er über den Schreibtisch.

„Jetzt hör mal, ich hab mit Peter geredet und der hat auch gesagt, dass wir im Grunde genommen nichts unternehmen können. Dein Freund kann sich sonstwo rumtreiben! Aber wenn es dich beruhigt, ich habe mal bei seiner Familie angerufen und die haben mir gesagt, dass er sich noch letzte Woche bei ihnen gemeldet hätte“, sagte Malik beruhigend und Jerry fuhr hoch.

„Wie bitte? Und das sagst du mir erst jetzt? Wann?“

„Heute Morgen!“

„Nein! Wann, hat er sich gemeldet?“, hakte Jerry aufgebracht nach.

„Letzten Dienstag, also genau vor einer Woche, und da klang er ziemlich gesund und munter und hätte seiner Mutter gesagt, dass er jemanden kennengelernt hätte und so weiter. Kann doch sein, dass dein Kumpel einfach mal ein paar Tage Auszeit nimmt und sich mit der Tussi prächtig amüsiert!“

„Nie und nimmer! Niklas hätte sich bei mir gemeldet!“, beharrte Jerry weiterhin auf seine Meinung und Malik lehnte sich kopfschüttelnd zurück.

„Jerry, ich sag das nicht gerne, aber es reicht! Ja, ich bin dein direkter Vorgesetzter und ich sage, jetzt ist Schluss! Wir haben noch andere Sachen zu erledigen und nachzugehen! Echte Fälle, kapiert? Und du wirst jetzt gleich, damit loslegen! Die Sache mit der Joggerin, zum Beispiel!“

„Das machst du doch nur, um mir eins auszuwischen! Und weißt du was? Du kannst mich mal, ich nehme ab morgen, meinen Urlaub!“, brüllte Jerry ihm ins Gesicht, stand abrupt auf und verließ die Tür hinter sich zuknallend, das Büro.

„So eine verdammte Scheiße“, schimpfte er noch vor sich hin, als er den Parkplatz überquerte und vor Wut kochend direkt nach Hause fuhr.

Als erstes machte er sich ein Bier auf, dann warf er sich auf die Couch und starrte zunächst nur minutenlang sein Handy an. Er wischte über das Display und klickte auf Playstore, um sich die gleiche Flirt-App, die Niklas benutzt hatte, herunterzuladen und durchsuchte eine Zeitlang die verschiedenen Seiten, der weiblichen Nutzer.

„Bingo“, knurrte er schließlich und machte einen Schluck von seinem dritten Bier. Da war sie, er hatte sie endlich gefunden. Lissy!

Dieses Luder hatte ihren Account noch nicht mal gelöscht und schien weiterhin munter nach einem passenden Dating-Partner zu suchen! Jerry musste also nur noch Kontakt mit ihr aufnehmen und das tat er auch augenblicklich.

„Und auf sowas, stehst du?“, murmelte er vor sich hin, als er sich die restlichen Fotos, die Lissy gepostet hatte, ansah. Eines zeigte sie in sehr knappen Dessous im Heu, ein anderes ließ von hinten erkennen, dass sie keine Unterwäsche, oder nur einen Tanga unter dem Mini-Dirndl trug und er betrachtete mit Abscheu ihre prallen, fast fetten, Arschbacken. Irgendwie erinnerten ihn diese Bilder an diese früheren, schlechtgemachten `Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd´ Pornofilmchen aus den Siebzigern und er musste zwangsläufig schmunzeln. Kurzerhand machte er ein Selfie von sich und schickte es an die angegebene Mailadresse. Jetzt konnte er nur noch abwarten, er trank sein Bier aus und legte sich schlafen.

Die Jagd beginnt

Zwei Tage vergingen, ohne dass sich Lissy bei ihm meldete. Jerry hatte sich ein Scheinprofil ausgedacht, natürlich unter falschem Namen, Eberhard Bruckner nannte er sich, Künstler, und er hatte immer wieder gezielt, nur sie angeschrieben. Er hatte noch mehrere Fotos von sich ins Netz gestellt, eines zeigte ihn sogar oben ohne, im Bad, nach dem Duschen, nur mit einem Handtuch um die schmale Hüfte geschlungen und einem verführerischen Lächeln auf den, für einen Mann doch sehr sinnlichen Lippen und einem Dreitagebart. Das Foto zeigte seinen durchtrainierten, noch feucht glänzenden Körper in all seiner Pracht und das Handtuch saß tief, sehr tief und gewährte eine gute Aussicht auf seine V-förmige Bauchmuskulatur, mit dazugehörigem Sixpack und gutem Blick auf die kleine tätowierte Schlange, die abwärtskriechend, unter dem Stoff verschwand. Dafür hatte er von dutzenden anderen Frauen begeisterte Likes geerntet und auch einige eindeutige Angebote für ein Treffen erhalten. Bald schon hatte er sich den Spitznamen `schöner Eberhard´ eingehandelt und irgendwie gefiel ihm das. Sehr, sogar.

„Wenn`st da a mal nicht anbeißt“, murmelte er vor sich hin und machte es sich auf dem abgewetzten Sofa bequem.

Wieder einmal ging er schmunzelnd seine eingegangenen Mails durch, dann durchzuckte es ihn siedend heiß, als er endlich die richtige Absenderin erkannte. Sie war es, ohne Zweifel. Die scharfe Lissy aus Niederbayern! Und sie hatte ihn geliked!

`Heißes Foto´, stand da, mit Daumen hoch!

„Hast jetzt doch angebissen! Da schau an, gell Lissy, da kannst halt einfach nicht wiederstehen“, raunte er ein Wenig selbstgefällig und machte einen Schluck von seinem Kaffee.

Jetzt nur nichts überstürzen und kühlen Kopf bewahren! Sollte er sofort antworten? Oder sollte er erst noch abwarten und sie ein bisschen schmoren lassen? „Ach, was soll`s“, murmelte er und schrieb: `Freue mich, dass du geantwortet hast, finde deine Bilder voll geil, würde gerne mehr über dich erfahren, von: Schöner Eberhard´.

Es dauerte nicht lange und er las: `Bist ja ganz schön eingebildet, bisschen selbstverliebt, hm? Nenne dich jetzt nur noch, Narziss!´.

Jerry lachte kurz auf und schrieb zurück: `Wer hat, der hat´.

`Des heißt bei uns, wer ko, der ko, kapiert? Oder bist a Preiß?´.

`Naa, a Münchner!´

`Mei, noch schlimmer, a Oberbayer! Ihr Münchner seid`s eh immer selbstverliebt´.

`Ja mei, wir san halt die Besten!´

`Die größten Angeber, seids!´

Jerry musste erneut lachen und er musste sich eingestehen, dass ihm das chatten mit ihr durchaus gefiel. Vielleicht tat er ihr ja auch unrecht und sie war in Wirklichkeit einfach nur ein recht nettes Mädchen, mit vorlautem Mundwerk?

Dennoch, die Fotos von ihr, sprachen Bände… Nein, die war wahrscheinlich a richtige Matz, wie man in Bayern so schön sagte. Und eindeutig auf Männerfang. Das sagte ihm sein Gespür, das er sich in den letzten Jahren angeeignet hatte und darin hatte er sich bisher noch nie getäuscht. Mit der stimmte irgendetwas nicht… Und wo steckte Niklas? Was war aus ihm geworden? Wenn er sich mit dieser Lissy getroffen hatte, dann würde er sich doch bei ihm melden, oder?

Was sollte er jetzt machen? Er konnte ja wohl schlecht einfach nach Niklas fragen, denn dann würde sie ja gleich misstrauisch werden und vielleicht sogar den Kontakt zu ihm ganz abbrechen. Nein, er musste ganz vorsichtig und geduldig vorgehen, erst einmal den Köder auslegen und abwarten.

Er chattete noch eine Weile mit ihr über völlig belangloses Zeug, dann verabschiedete er sich für heute und machte sich etwas zu essen.

Lieber langsam angehen, sie soll ruhig ein wenig zappeln und vor allem neugierig auf ihn werden. Und heiß! Ja, dafür würde er schon sorgen, dass die kleine Lissy richtig heiß auf ihn werden würde. Und dann würde er ein Date mit ihr klarmachen.

 

Wie Niklas…

Kacke!

War in Wirklichkeit sie die Jägerin, die hier die Köder auslegte? Und in deren Falle er soeben getappt war, so wie Niklas und vielleicht noch andere vor dem?

Jerry legte die Gabel weg, schob den Teller von sich und nahm erneut sein Smartphone. Und jetzt? Wenn doch Malik nur nicht so ein verbohrter Vollpfosten wäre! Sollte er ihn anrufen? Ihm eine Nachricht schreiben? Ja, was denn? Hey, ich hab die scharfe Lissy gefunden und werd` ein Date mit ihr klarmachen, mit der stimmt was nicht, die macht ihre Männer kalt? Der würde ihm nur wieder die Hölle heiß machen! Nein, er würde sich erst melden, wenn er wirkliche Beweise dafür hätte.

Und außerdem, der Arsch hätte sich ja auch schon mal melden können! Sicher war er immer noch beleidigt, oh Mann, was für eine Zicke, dachte Jerry seufzend und legte das Handy wieder weg.

Da kam ihm eine Idee. Vielleicht wusste ja Loisl was? Warum war er nicht eher darauf gekommen, ärgerte er sich über sich selbst, schnappte seine schwarze Lederjacke und machte sich auf den Weg.

*

Den Weg, hätte er sich sparen können, nichts, niemand, wusste etwas über Niklas` verbleib. Weder Loisl, der Wirt ihrer Stammkneipe, noch einer der anderen Gäste, konnten ihm etwas dazu sagen. Da hatte ja sogar er mehr darüber gewusst.

Es half alles nichts, die einzige heiße Spur war und blieb immer noch Lissy. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ihren Köder anzunehmen und sich in ihre Falle zu begeben. Er musste es tun, so wie er es einst versprochen hatte. Nie wieder, würde einfach so ein Freund aus seinem Leben verschwinden, ohne dass jemand dagegen etwas unternahm. So wie bei Valerie.

Jerry meldete sich erst am nächsten Nachmittag wieder bei Lissy, mit einem ganz unverfänglichen `Hallo´.

Fünf Minuten später kam die Antwort: `Servus, Narziss, hab dich schon vermisst´.

`Hatte was zu tun, auch Künstler müssen hin und wieder arbeiten´.

`Ach, echt? Was für eine Art Künstler bist du eigentlich?´

`Na Lebenskünstler, was sonst´.

`Haha!´

`Wenn du mehr über mich erfahren möchtest, wie wäre es, mit einem Real-Date? Würde dich echt gerne kennenlernen´, schrieb er als Antwort und wartete gespannt auf Lissys Reaktion, doch sie antwortete nicht mehr.

Am nächsten Tag öffnete er die Flirt-App und versuchte es erneut.

`Narziss an Lissy, was ist los mit dir, sind dir die coolen Sprüche ausgegangen, oder hast du einfach nur Schiss?´, versuchte er sie herauszufordern, ohne Erfolg.

„Verdammter Mist“, murmelte er frustriert, als sie sich bis zum Abend hin immer noch nicht gemeldet hatte und warf das Handy auf den Tisch. Ok, dann eben anders.

Jerry lehnte sich zurück und dachte noch einmal intensiv über sein Gespräch mit Niklas nach. Was hatte der noch gleich gesagt? Lissy Baierl, Raum Passau, ein alter Bauernhof als Pension. Pension! Warum war er nicht gleich darauf gekommen?! Er musste nur die Adresse herausbekommen und wenn sie Fremdenzimmer vermietete, würde sie sicher auch Werbung dafür machen!

Wieder nahm er sein Smartphone in die Hand und gab ein: Pension Baierl, Niederbayern.

Nichts, kein Treffer.

Vielleicht über das Fremdenverkehrsamt? Er versuchte es in Passau und den umliegenden Ortschaften, erfolglos.

„Wo versteckst du dich, du Miststück“, murmelte er und schnaufte tief durch. Erneut schrieb er sie über die Plattform an, wieder und wieder, entschuldigte sich sogar bei ihr und beteuerte ihr sein tiefes Bedauern darüber, dass sie sich nicht mehr bei ihm meldete, doch Lissy blieb stumm. Kurzer Hand fasste er einen Entschluss, gleich morgen würde er sich in seinen alten Mustang setzen und sie suchen! Schließlich hatte er Urlaub und warum sollte er das Nützliche nicht mit dem Angenehmen verbinden? Passau und die Gegend drumherum war sehr schön, er würde sich die Drei-Flüsse-Stadt ansehen, einige Tage einfach nur ausspannen und dabei die umliegenden kleineren Ortschaften erkunden. Wäre doch gelacht, wenn er Lissy nicht finden würde!

***

Malik starrte seufzend auf den leeren Schreibtischsitz, ihm gegenüber und nahm sein Handy. Eine Woche war Jerry nun schon fort, ohne sich bei ihm zu melden. Ok, dann würde er es eben tun, einer musste ja der Klügere sein und nachgeben!

Und so schrieb er: `Hi, Alter, wie geht’s dem Gummibaum?´

`Dem Gummibaum geht’s gut und mir übrigens auch!´, kam die prompte Antwort und Malik schmunzelte.

`Freut mich, zu hören´.

`Warum fragst`n dann nach der Drecksstaude und nicht nach mir!´.

`Ok, wie geht’s dir und was machst du?´ Malik schüttelte amüsiert den Kopf.

`Danke der Nachfrage, mir geht’s prächtig, mache Urlaub �� ´, schrieb Jerry zurück und Malik lachte kurz auf.

`Wo?´

Es dauerte einen Moment, so als ob Jerry erst überlegen würde, dann kam die Antwort: `Passau!´

Malik sog die Luft ein und stieß sie geräuschvoll wieder aus. „So ein Blödmann“, grummelte er leise und schrieb: `Du bist so ein Depp! Machst einen auf Alleingang und vergeudest deinen Urlaub dafür!´

`Vielen Dank auch! Musste es ja alleine machen, weil mein Vorgesetzter zu boniert war! Ciao und leck mich!´

`Du mich auch!´, schrieb Malik wütend zurück und machte das Handy aus. Was erlaubte der sich eigentlich? Bitte schön, sollte er doch, war ja sein Urlaub, den er für diesen Quatsch opferte! Was ging ihn das an? Nichts, rein gar nichts! Wenn Jerry so kindisch war, dann war ihm echt nicht zu helfen!

Als Malik kurz vor Feierabend seinen Rechner herunterfuhr, fiel sein Blick auf Jerrys Schreibtisch und, auf den Laptop. Gehörte der nicht diesem Niklas?

Mit einem tiefen Seufzen erhob sich Malik, trat um den Tisch herum und strich mit den Fingerspitzen über das schwarze Plastikgehäuse. Sollte er der Sache vielleicht doch nachgehen? Für Jerry? Dem schien es wirklich am Herzen zu liegen und naja, vielleicht hatte er ja doch recht. Vielleicht, war ja doch etwas an dieser Geschichte dran…

Malik nickte wie zu sich selbst, nahm den Laptop und machte sich auf den Weg zur Spurensicherung. Er konnte das Ding ja mal ihrem IT- Spezialisten zur Sichtung geben, vielleicht fand der ja was heraus, zumindest konnte Jerry ihm dann nichts mehr vorwerfen! Boniert, er! Ph!

Danach fuhr er nach Hause, duschte und zog sich für das gemeinsame Abendessen mit seinen Eltern um. Er war jetzt fast dreißig und lebte noch immer bei ihnen, ging es plötzlich durch seinen Kopf. Verwöhnter Prinz!

Eigentlich hatte er sich nie daran gestört, er lebte gerne hier und musste sich eingestehen, dass er es auch immer genossen hatte, sich von seiner Mutter verwöhnen zu lassen. Ja, er führte ein angenehmes Leben. Sein Vater hatte ein gutgehendes Geschäft für exklusive Möbel und Teppiche, direkt hier in München und es hatte ihnen nie an irgendetwas gemangelt. Sie waren vielleicht keine Millionäre, aber Geld war nie ein Thema in seiner Familie gewesen und dass er und seine Schwestern in einer schicken Villa ihre Kindheit verbracht hatten, war fast schon so etwas wie eine Selbstverständlichkeit für ihn.

Wie war wohl Jerry aufgewachsen und wieso lebte der nun in so einer heruntergekommenen Wohnung? An seinem Gehalt konnte es doch nicht liegen, ok, bei der Polizei verdiente man nicht gerade übermäßig gut, auch nicht bei der Kriminalpolizei, aber so zu hausen, musste man wirklich nicht. Und diese alten, gebrauchten, wie vom Sperrmüll scheinenden Möbel…

Unwillkürlich musste er plötzlich lächeln, als er an das einzig schöne in dieser Bude dachte und er sah das Foto wieder vor seinem geistigen Auge auftauchen. So eine wunderschöne Frau. Wer war sie und in welcher Beziehung stand Jerry zu ihr, dass er so ein Geheimnis um sie machte?

Romy, ob das wirklich ihr Name war?

Wahrscheinlich würde er das nie erfahren. Und doch ging ihm dieses zauberhafte Wesen nicht aus dem Kopf und in dieser Nacht träumte er sogar von ihr.

***

Jerry schlenderte durch die barocke Altstadt von Passau, genau wie ein gewöhnlicher Tourist und genoss die warme Herbstsonne auf seinem Rücken. Er hatte sich bereits die Veste Oberhaus angesehen, eine mittelalterliche Festung, die über der Stadt thronte und war nun auf dem Weg zum Stephansdom, mit seinen charakteristischen Zwiebeltürmen.

Danach würde er sich in ein nettes Café setzen und einfach mal einen Cappuccino oder einen Eiskaffee genießen. Oder vielleicht sogar beides. Wie lange hatte er dies nicht mehr getan, einfach nur genießen und ein Wenig träumen.

Die Stadt gefiel ihm sehr, sie war so anders als München, oder gar, Hamburg. Hier lief alles noch ein bisschen ruhiger ab, stressfreier und er konnte sich sogar vorstellen, wie es wäre, hier zu leben. Ein Leben, fernab von seinem Leben, das er bislang führte.

Dieses verhasste Leben.

Seit er von Romy Abschied genommen hatte, existierte er eigentlich nur noch. Und wahrscheinlich hatte Malik sogar recht gehabt, mit seiner Behauptung, dass ihm alles egal wäre und er an nichts glauben würde.

Warum nur, warum, war ihm alles so entglitten? Seine Eltern, die sich damals mehr und mehr von ihm distanziert hatten, oder hatte er es getan? War er vielleicht sogar schuld, an deren zerrüttete Ehe?

Jerry atmete tief durch und nippte an seinem Cappuccino. Er saß in einem der kleinen Straßencafés und beobachtete die Leute, um sich herum. Die kleine Familie, die ihr Baby wohl mit dem ersten Eis fütterten, einen alten Mann, der seine Zeitung las, zwei lachende Frauen, die sich wohl hier auf einen Tratsch getroffen hatten. Alles so wundervoll gewöhnlich…

Warum hatte er das nie gekonnt, einfach nur gewöhnlich sein, so wie alle anderen auch? Warum, musste er so anders sein? Anders, wie sein verdammter Name! Nomen est omen? Er wusste nur, dass irgendetwas entschieden schiefgelaufen war, bei ihm und das von Anfang an.

Schwer seufzend winkte den Kellner heran, bezahlte seine Rechnung und machte sich auf den Weg zu seinem Hotel.

Nach dem Abendessen setzte er sich noch an die Hotelbar und begann mit dem Barkeeper ein lockeres Gespräch. Dabei fragte er den wie ein ganz normaler Tourist über die Umgebung von Passau aus, über etwaige hübsche kleinere Ortschaften oder Sehenswürdigkeiten, wie alte, alleinstehende Bauernhöfe. Er erzählte dem freundlichen jungen Mann, dass er gerne Wandern gehen würde und besonders die abgeschiedenen Gegenden erkunden würde. Dafür bräuchte er natürlich auch eine Übernachtungsmöglichkeit und wäre über jeden Tipp hierzu dankbar.

Der Barkeeper gab ihm bereitwillig Auskunft und nannte ihm auch einige wirklich sehenswerte alte Gehöfte, die fast alle Fremdenzimmer anboten, da sich hier in der Gegend schließlich auch mehrere Kurorte und Bäder befinden würden. Dazu legte er auch noch gleich ein paar Broschüren und Flyer von verschiedenen Hotels und Pensionen, der hier ansässigen Heilbäder vor Jerry auf den Tresen und der bedankte sich freundlich dafür. Das war zwar nicht das, wonach er in Wirklichkeit suchte, aber er gab dem Barkeeper dennoch ein großzügiges Trinkgeld und ging jeden einzelnen Flyer, der auch nur halbwegs in Betracht kam, akribisch in seinem Zimmer durch.

Nur ein einziger Bauernhof warb darin mit seiner `romantischen´ Abgeschiedenheit, Natur pur, eben und einzigartigen Wanderwegen, entlang dem Inn. Ok, den würde er sich auf jeden Fall näher ansehen und wer weiß, vielleicht konnte er ja sogar etwas über andere alleinstehende Höfe in Erfahrung bringen? Natürlich wagte er kaum zu hoffen, dass er dabei auch etwas über eine Lissy Baierl herausbekommen würde, aber immerhin!

 

Zuversichtlich buchte er sogleich ein Zimmer in dem entsprechenden Bauernhof und kündigte sich auch gleich für den morgigen Tag an.

Gleich nach dem Frühstück checkte er aus, machte danach noch einmal einen Abstecher in die Innenstadt, um sich wenigstens ein Paar wetterfeste Wanderschuhe, Kleidung und einen Rucksack zu kaufen und fuhr dann in die Richtung los, die ihm sein Navi anzeigte.

Bald hatte er die Stadt hinter sich gelassen, fuhr über, immer schmaler und abgelegener werdende Landstraßen und Wege, die oftmals eigentlich mehr ausgebauten Feldwegen glichen, als Straßen und schließlich tauchte vor ihm ein einsamer Hof auf.

Wirklich, die reinste Einöde! Wie konnte man hier nur auf Dauer leben? Ok, es war wirklich die Idylle pur, buntgescheckte Kühe grasten oder lagen wiederkäuend auf den weitläufigen Weiden, einige Schweine suhlten sich glücklich grunzend im Schlamm eines Pferches und als Jerry den Wagen direkt vor das alte, aber neurenovierte Bauernhaus lenkte, musste er aufpassen um nicht ein paar freilaufende Hühner plattzumachen.

Er stieg erst einmal aus, schlug die Autotüre zu und sah sich um. Das Haupthaus war wohl erst vor kürzerem neu gestrichen worden und leuchtete in der nachmittäglichen Oktobersonne in einem freundlichen Weiß, mit gelb abgesetzten Fensterumrahmungen und den für diese Gegend typischen Verzierungen und Malereien, die dazu noch jedes einzelne Fenster krönten. Hübsch und bunt, genau wie die herrlichen, kaskadengleichen Geranien, die über die große Balkonbrüstung herabwallten und Jerry fragte sich mal wieder, wie man so eine Blütenpracht wohl hinbekam. Er hatte überhaupt keinen grünen Daumen und jede, noch so als unempfindlich angepriesene Pflanze, war innerhalb kürzester Zeit bei ihm eingegangen. Alle, bis auf den hässlichen Gummibaum, der sich als unerwartet zäh entpuppt hatte. Ok, der hatte zwar auch schon ziemlich viele Federn, oder wohl eher Blätter, gelassen, aber er lebte noch! Immerhin. Vielleicht sollte er ihn mal düngen? Zumindest würde er den armen Kerl mal umtopfen, sobald er wieder zu Hause wäre, nahm Jerry sich ganz fest vor und auch regelmäßigere Wassergaben wären wohl nicht schlecht.

Wieso schenkte jemand überhaupt einem anderen Kerl Grünzeug? Auch noch so ein grässliches Ding? Malik musste echt Geschmacksverirrung haben!

Jerry hing gerade noch schmunzelnd seinen Gedanken nach, als auch schon eine adrette Mittvierzigerin aus dem Haus trat und freundlich lächelnd auf ihn zukam. Irgendwie hatte er alles andere hier erwartet, musste er sich bei ihrem Anblick eingestehen und das Bild einer abgearbeiteten, verhutzelten alten Bäuerin tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Rasch wischte er den Gedanken beiseite und setzte ebenfalls sein nettestes Lächeln auf.

Also Lissy, war das definitiv nicht!

„Grias Gott! Ich bin die Frau Mahler und heiße Sie recht herzlich auf unserem schönen Hof willkommen! San Sie der Herr Anders, aus München?“, fragte die offensichtliche Eigentümerin auch schon und schüttelte ihm recht kräftig die Hand. Jerry bejahte es durch ein kurzes Nicken, denn viel weiter kam er gar nicht. „Sie müssen wissen, dass i den Hof erst vor kurzem von meinen Eltern übernommen hab und wir noch nicht lange Fremdenzimmer anbieten. Ja, wissen`s, des geht ja auch auf Dauer gar net so weiter, mit der Landwirtschaft, da muss ma sich scho a zweites Standbein schaffen und die alten Leut, also meine Eltern, die schaffen des auch gar nicht mehr! Wir werden wohl nach und nach, auch die Milchwirtschaft einstellen, des rentiert sich ja gar net mehr! Höchstens noch a paar von dem Fleckvieh werden wir behalten und a paar Säu, für den Hausgebrauch und weil`s halt dazu gehört, für die Touristen, gell?“, prasselte es auf ihn ein und er nahm verdutzt den Kopf zurück.

„Fleckvieh?“, warf er irritiert dazwischen und sie nickte abwinkend.

„Die Küh halt! Ja, die Rindviecher machen scho a Heidenarbeit, wissen`s?“

„Ach! Ähm, ja, sicher, das denk ich mir“, antwortete Jerry und versuchte seine Hand zurückzuziehen, die Frau Mahler noch immer festhielt und nun auch noch mit der anderen mütterlich tätschelte.

„Ja, also, wollen`s länger bleiben? San`s zum Wandern hier, oder nur um a mal a bissel auszuspannen? Gä, des ist scho stressig, des Leben in München! Ich hab ja in Regensburg studiert und des hat ma scho gereicht! So ein Trubel und die Hektik! Da geht’s bei uns scho ruhiger zu, des werden`s scho sehen! Dann gehen wir doch erst a mal rein, würd ich sagen! Haben`s viel Gepäck?“

Endlich ließ sie ihn los und Jerry trat unwillkürlich einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sie beide zu bringen. Du liebe Zeit! Und das nannte die `ruhiger´?

Jerry schenkte ihr dennoch ein charmantes Lächeln, holte seine Reisetasche und den Rucksack aus dem Kofferraum und wollte schon vor gehen, doch Frau Mahler dachte gar nicht daran.

„Ja is denn des die Möglichkeit! A Ford Mustang! Mei, genau so einen, hab ich mir immer gewünscht, wissen`s? Als ich noch jung war, da hab ich so geschwärmt, für die alten Ami Autos! Ja, mei, so a schöner Wagen! Würden`s mich da a mal mitnehmen?“, legte sie erneut los und Jerrys Augen weiteten sich vor Schreck.

„Ähm…“

„Mei, san Sie verheiratet? Ich hab a Dochter, wissen`s? Des is a ganz nette und dat so gut zu Ihnen passen! Die steht auch auf alte Amischlitten! Wenn die des wüsste! Ja mei, die dat ausflippen, die Hanni, so heißt sie, ja, meine Hanni, des sag ich Ihnen! So, jetzt geh`n ma aber a mal rein“, redete Frau Mahler weiter und Jerry wurde es jetzt wirklich himmelangst.

Wie, verheiratet? Wollte die ihn echt verkuppeln? Wenn doch nur Malik hier wäre! Aber der hätte sich wahrscheinlich schon weggeschmissen, vor Lachen.

Beinahe sehnsüchtig vermisste er plötzlich seinen Partner. So schlecht, war die Zusammenarbeit mit Malik gar nicht, musste er sich nun eingestehen und Malik hätte wenigstens gewusst, wie er mit so einer redseligen Person umgehen musste. Der redete ja selber immer viel, viel zu viel, beinahe ununterbrochen, konnte der einen vollquatschen! Jerry dagegen war immer schon recht wortkarg gewesen und regelrecht zurückhaltend, besonders bei Leuten, die ihm fremd waren. Aber Malik? Nein, der konnte sofort auf jeden offen zu gehen. Bewundernswert, dachte Jerry vorsichtig durchschnaufend und folgte der Frau nach.

Das Haus war sehr gemütlich eingerichtet, in einer Art Altdeutscher, bayrisch rustikalen Weise, allerdings waren alle Möbel sehr neu, zumindest die in Jerrys Zimmer, in das er sich sofort geflüchtet hatte, nachdem Frau Mahler ihm den Schlüssel dafür ausgehändigt hatte.

Wow, was für eine Quasseltante! So eine würde echt gut zu Malik passen, ob die Tochter wohl auch so viel quatschte? Er könnte seinem Partner ja mal deren Nummer geben, dachte er ein wenig gehässig. Immerhin wollte der ja auch Romys Nummer haben, ha, wenn der wüsste…

Malik auf Freiersfüßen, dieser Gedanke ließ Jerry amüsiert auflachen und er warf sich auf das mit rot-weißen Karomuster bezogene Bett. Wenn diese Hanni nach ihrer Mutter kam, dann würde selbst Malik nicht mehr zu Wort kommen!

Naja, sehr lange, würde er hier sicher nicht bleiben! Brrr, schon der Gedanke daran, mehrere Tage mit so einer Frau verbringen zu müssen, ließ ihn schaudern. Wie musste das dann erst sein, wenn man mit der verheiratet war? Tag ein, Tag aus, dieses Gequatsche, stundenlang, einfach unerträglich! Nein, das war nichts für ihn! Überhaupt, hatte er nie einen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Wen, denn auch? Wer, würde ihn schon wollen, so verkorkst, wie er war!

Sie alle, hatten doch nur Romy gewollt, die wunderschöne, bezaubernde, Romy! Selbst Malik…

Jerry schloss die Augen und dachte darüber nach, wie er nun weiter vorgehen sollte. Er würde morgen erstmal die nähere Umgebung erkunden, vielleicht wusste ja die redselige Frau Mahler irgendetwas über Lissy? Einen Versuch war es allemal wert, da müsste er wahrscheinlich nicht mal seinen Charme spielen lassen, wenn er denn einen besäße. Seufzend setzte er sich auf, erhob sich und räumte zumindest seine Toilettenartikel in das kleine Badezimmer. Dann beschloss er, noch einmal nach unten zu gehen und seine Hauswirtin nach einem Gasthaus zu fragen, in dem er noch eine Kleinigkeit zu essen bekommen konnte.