Tochter der Inquisition

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Tochter der Inquisition
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Peter Orontes

Tochter der Inquisition

Historischer Roman

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_a_Cardinal,_by_Raffael,_from_Prado_in_Google_Earth-x0-y0.jpg

ISBN 978-3-8392-5068-6

Dramatis Personae (in alphabetischer Reihenfolge)

Albrecht III* • Herzog von Österreich (geb. 1349, gest. 1395), wird im Roman nur namentlich erwähnt

Ansgar, Bruder Ansgar genannt • Benediktinermönch; Botanikus im Kloster zu Garsten

Bürgel, Lamprecht • Fass- und Wagenmacher aus Steyr; Waldenser; fällt einem Mord zum Opfer

Bürgel, Anna • Witwe des Lamprecht Bürgel, Waldenserin

Engelbert, Bruder Engelbert genannt • Mönch; gehört zur Entourage des Inquisitors

Falkenstein, Falkmar von (auch Falk genannt) • Adliger aus Salerno; Freund von Wernher von Ternberg; wird von diesem gebeten, den Mord an seiner Frau aufzuklären

Falkenstein, Christine von • Ehefrau des Falkmar von Falkenstein, Ärztin aus Salerno

Fever, Els • Waldenserin; wird als rückfällige Ketzerin zu Schlägen mit der Rute verurteilt

Grasser, Hans • Hauptmann der bewaffneten Eskorte des Inquisitors

Heiss, Jobst • Stammgast beim Rabenwirt, angeklagt des Mordes an Dietrich Pützer

Heinrich (1), Bruder Heinrich genannt • Mönch; gehört zur Entourage des Inquisitors

Heinrich (2); Bruder Heinrich genannt • reisender Waldenserprediger (Prediger, Beichtiger), besucht mit seinem älteren Mitbruder Rudlin die Waldensergemeinden

Hohenlohe*, Georg von • Bischof zu Passau, wird im Roman nur namentlich erwähnt

Irmingard • Obermagd im Haushalt Wernher von Ternbergs

Jeckl • Bediensteter des Götz von Kreuzeck auf dem Teufelsturm; geistig zurückgeblieben, körperbehindert; wird auch der »irre Jeckl« genannt

Jos • Knecht auf dem Hof des Peter Seimer

Kerschberg, Heimito von • Sohn des ehemaligen Burggrafen von Steyr

Kranich, Marthe • Kräuterfrau; wird Opfer einer Vergewaltigung

Kreuzeck, Götz von • Ritter; wohnt auf dem »Teufelsturm« bei Waldneukirchen; verbirgt sein Gesicht hinter einer Ledermaske

Lamp, Ferdinand • Notar zu Steyr

Lechner, Balduin • Schweinehirt in Ternberg; Zeuge in einem Gerichtsverfahren

Ludwig, Bruder Ludwig genannt • Mönch; gehört zur Entourage des Inquisitors

Luger, Hermann • Fischer; birgt wiederholt Leichen aus der Enns

Mohr, Heiner • Bauer in Ternberg; Grundhold des Klosters zu Garsten; zählt zusammen mit seiner Familie zu den Waldensern

Neudlinger, Ludwig der • Bannrichter zu Enns (hatte den Blutbann inne, konnte das Todesurteil fällen)

Nikolaus* • Abt des Benediktinerklosters Garsten

Panhalm, Georg von • Stadtrichter zu Steyr; liegt im Streit mit dem Burggrafen Heinrich von Pogner

Penzlein, Siegbert • Büttel, Gerichtsknecht zu Steyr

Pogner, Heinrich von • vom Landesherrn eingesetzter Burggraf zu Steyr; residiert auf der Styraburg; liegt im Streit mit dem Stadtrichter Georg von Panhalm

Praitenberger, Sepp • Bauer in Ternberg, Grundhold des Klosters zu Garsten

Pützer, Dietrich • Stammgast beim Rabenwirt; wird während eines Streites mit Jobst Heiss von diesem erstochen

Rabener, Jakob • Wirt des Gasthauses »Zum Schwarzen Raben«

Rieser, Johann • Bauer in Ternberg; Grundhold des Klosters zu Garsten; befreundet mit Sepp Praitenberger

Rudlin, Bruder Rudlin genannt • reisender Waldensermeister (Prediger, Beichtiger), besucht mit seinem jüngeren Mitbruder Heinrich die Waldensergemeinden

»Rußgesicht« • aus dem Kerker geflohener Waldensermeister; wird diverser Verbrechen bezichtigt

Sassener, Eckhardt der • Verwalter auf Burg Plankenstein

Seimer, Peter • Bauer, Grundhold des Klosters zu Garsten; zählt mit seiner Familie zu den Waldensern

Schachen, Bodo • Büttel, Gerichtsknecht zu Steyr

Schachnitz, Bodo von • Prior des Benediktinerklosters Melk

Schindler, Jörg • Scharfrichter beim Blutgericht zu Juden­burg; wird vom Inquisitor nach Steyr beordert; Spezialist in Sachen »peinliche Befragung«

Söhnlein, Hans • Majordomus im Hause Wernher von Ternbergs; Vertreter Wernhers in dessen Abwesenheit

Schreyer, Gundel • Zeitler (Imker); undurchsichtiger Geselle

Schütter, Hans • Steinmetz; Neffe des Botanikus Bruder Ansgar

Steyr, Dietrich von • Stadtpfarrer von Steyr

Süßkind, Esther • Jüdin; wurde vor vielen Jahren wegen Hostienfrevels auf den Scheiterhaufen geschickt

Ternberg, Wernher von • einflussreicher Kaufmann und Magistrat in Steyr; seine Ehefrau Klara wird ermordet; bittet Falkmar von Falkenstein und dessen Frau Christine nach Steyr zu kommen; Falkmar soll in dem Mordfall ermitteln

Ternberg, Klara von • Ehefrau des Ternbergers; sie wird ermordet

Ternberg, Sofia von • leibliche Tochter der Klara von Ternberg; Stieftochter Wernhers; verschwindet spurlos

Yspern*, Ludwig III. von • Abt des Benediktinerklosters Melk

Zink, Wendel • Abdecker zu Steyr, auch »Schinder« genannt

Zwicker*, Petrus • Cölestinerpater; vom Bischof zu Passau eingesetzter Inquisitor für Steyr und Umgebung

… und viel anderes Volk aus Steyr und Umgebung

* Historische Persönlichkeiten

Prolog

Mai, Anno Domini 1388

Herzogtum Österreich, Gegend um Steyr

Der Mann keuchte vor Anstrengung. Obwohl die Nacht kühl war, perlten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Schon seit mehr als einer Stunde trieb er seinen Kahn mit harten Schlägen flussaufwärts. Im Takt der Ruderblätter, die in die dunklen Fluten der Steyr eintauchten, zischten Flüche von seinen Lippen. Auch wenn ihn das Fluchen seinem Ziel nicht eine Elle näher brachte, schien es doch Kraft in seine Arme zu schicken. Ließ doch jede einzelne Verwünschung die Blätter wütend in die Flut klatschen und Fetzen von Spritzwasser durch die Luft wirbeln, die im Mondlicht in unzählige glitzernde Tröpfchen zerstoben.

Nach einer weiteren halben Stunde ließ es der Ruderer etwas gemächlicher angehen, während sein Blick konzentriert das rechte Flussufer absuchte. Offenbar hielt er nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau.

»Na endlich, verdammt noch mal!«, knurrte er, als er einer Trauerweide ansichtig wurde, die ihre Zweige bis tief auf die Wasser­oberfläche hinunter­schickte.

Er steuerte den Kahn unter die baldachinartige Krone des Baumes, holte die Ruder ein und machte den Nachen an einem der Äste fest. Dann schwang er sich über den Bootsrand ins knietiefe Wasser und watete ans Ufer, wo er zuerst einmal innehielt und sich umsah. Das Versteck für das Boot war gut gewählt, niemand würde es unter der Weide vermuten. Das war wichtig, denn der, den er in dieser Nacht zu treffen gedachte, brauchte nicht zu wissen, welchen Weg er genommen hatte. Befriedigt nickte er, die erste Etappe war geschafft. Dann aber verriet ihm ein prüfender Blick auf die bewaldeten Steilhänge, die den Flusslauf säumten, dass der schwierigste Teil der Strecke noch bevorstand. Erneut ließ er einen Fluch vom Stapel.

Nach einer weiteren Stunde hatte er nicht nur den Steilhang, sondern auch eine mit niedrigem Strauchwerk und Gras bestandene Hochebene hinter sich gebracht. Jetzt stand er am Fuß einer Erhebung, die über eine plateauähnliche Kuppe verfügte, welche von einer niedrigen, halb verfallenen Mauer gekrönt wurde. Dahinter ragten vor der hellen Scheibe des Mondes mehrere hohe Bäume sowie die Silhouetten einiger seltsam geformter Grabmäler in den Nachthimmel. Obwohl der Mond ziemlich hell schien, dauerte es eine Weile, bis seine scharfen Augen die von Gras und Unkraut überwucherten Stufen entdeckten, die zum alten Judenfriedhof hinaufführten.

Während er nach oben stieg, spielte ein hintergründiges Lächeln um seine Mundwinkel. Er dachte daran, wie schnell derjenige reagiert hatte, den er gleich treffen würde. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihm ein anonymes Schreiben, gespickt mit bestimmten Infor­mationen, zukommen lassen und prompt einen Tag später die Antwort darauf erhalten. Man habe sehr wohl Interesse an dem Wissen, das er gegen einen bestimmten Betrag preisgeben wolle, hatte man ihm mitgeteilt und ihn aufgefordert, in dieser Nacht zum alten Judenfriedhof zu kommen, damit man über die Sache reden könne.

»Endlich«, keuchte der Mann, nachdem er das Plateau erreicht hatte. Zögernd trat er an die marode Mauer heran, die das verwilderte Areal des Friedhofs umschloss.

Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, während er die unregelmäßig verstreuten Grabmäler hinter der Mauer betrachtete, die inmitten alter Bäume und üppig wuchernder Gräser aus dem Boden wuchsen. Vom Zahn der Zeit zu zerspellten, formlosen Gebilden zernagt, ragten sie kreuz und quer empor. Vielleicht war es der Anblick dieser uralten Steine, die selbst zu sterben schienen und im Mondlicht seltsam schimmerten, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Vielleicht aber auch der Umstand, dass er sich an einem Ort befand, der fremd und unheimlich wirkte und so gar nichts mit einem christlichen Gottesacker gemein hatte. Schon allein die seltsamen Schriftzeichen auf den Steinen konnten einen das Fürchten lehren. Was nicht verwunderte. War das nicht die Schrift derer, die den Herrn ans Kreuz hatten nageln lassen, die Schrift der Gottesmörder, Brunnenvergifter und Hostienschänder, kurzum: der ewig Verfluchten, die – so sie sich nicht zum christlichen Glauben bekehrten – in der Hölle schmoren würden? Ausgerechnet diesen Treffpunkt hatte man ihm genannt.

 

Kiwitt, kiwitt. – Erschrocken sah der Mann nach oben. Der Ruf des Käuzchens, das sich als dunkler Schatten aus einer nahen Baumkrone löste und mit lautlosem Flügelschlag entschwebte, jagte erneut einen Schauer über seinen Rücken.

»Verdammt! Sei kein Hasenfuß und bring’s hinter dich«, schalt sich der Mann. Er betrat den Friedhof durch eine Bresche in der Mauer, doch er musste sich geradezu zwingen weiterzugehen, um nach der Gruft zu suchen, die man ihm als Treffpunkt genannt hatte.

Es dauerte nicht lange, bis er sie gefunden hatte. Sie befand sich in der Nähe einer Eiche, deren mächtiger Wurzelstock zum Teil aus der Erde ragte und sich bis zur Gruft erstreckte. Vorsichtig stieg der Mann eine zerborstene Steintreppe hinunter und gelangte zu einem Eingang, der nur mit einer Brettertür verschlossen war.

Zuerst zögerte er. Dann aber stieß er die Tür auf und betrat ein stockdunkles, niedriges Gewölbe. Offenbar war die Gruft leer, dennoch roch es nach Moder und Tod. Ihn schauerte, er fror. Das Dunkel, das sich vor ihm auftat, schien undurchdringlich. Er beschloss, keinen einzigen Schritt weiterzugehen, und drückte die Tür so weit auf, dass das Licht des Vollmonds zumindest den Eingangsbereich ausfüllen konnte.

Dann wartete er mit angehaltenem Atem.

»Verdammt, wo er nur bleibt«, murmelte der Mann, nachdem er eine Weile ins Dunkel gestarrt hatte. Er wandte sich um und sah die Steintreppe empor; auf den Stiegen glänzte matt das Mondlicht.

»Keine Sorge, ich bin längst da. Ich ziehe es vor, immer als Erster bei einem Treffen zugegen zu sein. – Halt! Dreh dich nicht um, wenn dir dein Leben lieb ist!«, ertönte plötzlich eine dunkle Stimme in seinem Rücken.

Bereits bei den ersten Worten wollte sich der Mann erschrocken umwenden, doch die unmissverständliche Aufforderung, es nicht zu tun, stoppte seinen Reflex gerade noch rechtzeitig.

Er spürte einen warmen Atem im Nacken.

»Oh, Herr, seid Ihr es?«, fragte er stockend und begann auf einmal zu zittern.

»Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Aber ich sehe, ich habe dich erschreckt. O, wie bedauer­lich«, erwiderte die Stimme. Sie triefte geradezu vor Hohn. »Aber sei sicher: Dein Schrecken wird noch größer werden, wenn du erfährst, was dir blüht, sollte das Wissen, über das du zu verfügen behauptest, für mich nicht zu verwerten sein. Insbesondere jenes, das von einem gewissen … Sprüchlein handelt«, – die Stimme hielt kurz inne –, »wie lautete es doch gleich?«

Die Stimme war plötzlich ins Zischen geraten. Gleichzeitig fühlte der Mann, wie sich der linke Arm des hinter ihm Stehenden um seinen Hals legte, während seine rechte Hand nach vorn schnellte und ihm ein Messer unter die Nase hielt.

Zu Tode erschrocken, schielte der Mann auf das matt glänzende Metall.

»Wie … wie das Sprüchlein lautete? … Ihr meint … jenes Verslein, … das ich in dem Brief nannte?«, röchelte er.

»Ja. Nenn es mir. Ich will es aus deinem eigenen Mund hören«, zischte die Gestalt.

»›Die … die Glöckchen aus Akkon, … wie lieblich ihr Klang … So nehmt denn ihr Schönen … den Tod in Empfang‹«, rezitierte der Mann stockend den seltsamen Spruch.

»Ja, das ist richtig. So lautete der Vers. Aber nur ganz wenige kannten ihn. Woher ist er dir bekannt? Sag es mir!«, flüsterte die Stimme.

»Ich will es Euch ja auch sagen. Aber Ihr wisst, dass meine Informationen ihren Preis haben. Außerdem habe ich noch Weiteres in Erfahrung gebracht, das Euch nützlich sein dürfte. In dem Brief, den ich Euch schrieb, stand nicht alles. Ihr werdet mich also am Leben lassen müssen«, entgegnete der Mann und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Ungeachtet der Klinge, auf die er starrte, war seine Kaltblütigkeit zurückgekehrt.

Der Mann fühlte, wie der Arm, der sich um seinen Hals gelegt hatte, zurückgezogen wurde. Doch der Stahl vor seinen Augen blinkte noch immer.

»Du lässt dich nicht so schnell ins Bockshorn jagen, das muss man dir lassen«, tönte die Stimme erneut. Dann folgte ein leises Lachen. »Wie ich schon sagte: Voraus­gesetzt, das Wissen, das du anzubieten hast, ist echt, nützt du mir tatsächlich. – In diesem Fall wäre das hier für den Anfang.« Die eine Hand schnellte wieder nach vorne. Diesmal umfasste sie einen prall gefüllten Beutel. Ein leises Klirren ertönte, als sie ihn schüttelte, und ließ das Herz des Mannes höher schlagen. Gierig griff er nach dem Beutel.

Doch sogleich schnellte die Hand wieder zurück.

»O nein. Erst die Ware, dann das Geld, mein Lieber. Wir wollen die guten Kaufmannssitten doch nicht schnöder Gier opfern, nicht wahr?«, spottete er.

Der Mann leckte sich die Lippen.

»Natürlich, Herr, Ihr habt recht. Also lasst Euch berichten.«

Kapitel 1

Montag, 01. Juni 1388 / Freitag, 19. Juni 1388

Nebelschwaden waberten über die Flussauen, als der Fischer Hermann Luger zur Enns hinunterging, um seine Reusen zu inspizieren. Er hoffte auf einen guten Fang. Den benötigte er auch, sollte er doch heute den Küchenmeister auf der Styraburg mit besonders fetten Forellen versorgen. Sie würden einen Teil des üppigen Festmahls bilden, das der Burggraf am Abend wieder einmal auszurichten gedachte.

Wie jeden Morgen stieg Luger aber erst einmal in sein Boot, das am Ufer vertäut lag, um in gewohnter Weise den mitgebrachten Imbiss zu verzehren: einen Kanten Brot, etwas gesalzenen Fisch und einen Krug Bier.

Gerade hatte er den ersten Bissen hinuntergeschlungen, als der zweite auch schon drohte, ihm im Halse stecken zu bleiben! Sein Blick war plötzlich an einer dunklen Masse hängen geblieben, die sich auf den trägen Fluten flussabwärts bewegte.

»Jesus Christus! Nicht schon wieder«, murmelte er entsetzt, während das seltsame Treibgut an ihm vorüberglitt.

Hastig löste er das Tau, mit dem das Boot am Steg befestigt war, ergriff die Ruderblätter und paddelte mit kräftigen Schlägen hinterher. Gleich darauf hatte er es eingeholt. Ohne sich lange zu besinnen, griff er nach der hakenbewehrten Stange zu seinen Füßen und zog damit nur wenige Augenblicke später eine männliche Leiche an Bord. Weil der Tote mit dem Gesicht nach unten auf die Planken zu liegen kam, vermochte Luger ihn zunächst nicht zu erkennen. Dann aber drehte er die massige Gestalt auf den Rücken – und bekreuzigte sich unwillkürlich.

»Bei allen Heiligen, der Bürgel!«, entfuhr es ihm. Entsetzt blickte er auf den Leichnam, um dessen Hals sich ein tiefer, wulstartig geränderter Schnitt zog. Irgendjemand hatte seinem Nachbarn, dem Fass- und Wagenmacher Lamprecht Bürgel, die Kehle durchgeschnitten.

Kaum eine Stunde später pochte die schwielige Hand des Enns­fischers Hermann Luger an das Tor des Stadt­richterhauses zu Steyr.

Keine drei Wochen später bewegten sich auf der Straße, die das Tal der Steyr mit dem nördlichen Ennstal verband, zwei leicht bewaffnete Reiter in Richtung Süden. Die Gerichtsknechte Bodo Schachen und Siegbert Penzlein waren, einem Befehl des Stadtrichters zu Steyr, Georg von Panhalm, folgend, auf dem Weg nach Ternberg. Auf dem dortigen Friedhof sollten sie unter der Aufsicht von Abt Nikolaus, der dem Konvent des Klosters zu Garsten vorstand, ein Grab öffnen. Es barg die Leiche eines unlängst verstorbenen Mannes, von dessen ruchloser Vergangenheit man erst jetzt erfahren hatte. Der Mann war ein Ketzer gewesen. Ketzer aber hatten in geweihter Erde nichts zu suchen. Also hatten Bodo und Siegbert die wichtige Aufgabe, die sterblichen Überreste des Elenden zu bergen, sie in eine Kiste zu verfrachten und diese nach Garsten zu überbringen, wo sie auf dem Schindanger unter reger Anteilnahme der Bevöl­kerung verbrannt werden sollten. Den Gläubigen zur Warnung und dem Herrn zum Zeugnis, dass seine Kirche sehr wohl über die wahre Lehre wachte und sich ihrer Widersacher erwehrte – wenn es sein musste, selbst über deren Tod hinaus.

»Warum der Panhalm ausgerechnet uns diese Drecks­arbeit machen lässt; einen halb verfaulten Ketzer ausgraben«, maulte Bodo und ließ vorüber­gehend die Zügel fahren, um sich die klammen Finger zu reiben.

»Das fragst du noch?«, entgegnete Siegbert und sah seinen Begleiter verdrießlich an. »Denk doch an die Sache mit dem entflohenen Waldenser. Glaubst du, dass der Stadtrichter den Ärger vergessen hat, den er mit dem Burg­grafen deswegen hatte? Ganz schön schlecht sieht der Panhalm seitdem aus. In uns sieht er nach wie vor die Schuldigen. Er is’ immer noch der Meinung, dass sich einer von uns beiden draußen vor dem Kerker hätte postieren sollen, direkt unter dem verfluchten Fenster. Dann hätte der verdammte Ketzerbas­tard gar nicht erst fliehen können, behauptet er.«

»So’n Quatsch. Die Wache versieht ihren Dienst stets im Wachraum, so steht’s in der Verordnung. Der Stadtrichter hat gewusst, dass der Kerker nicht gescheit gesichert war. Er hätte dem Seipold ordentlich in den Hintern treten müssen. Der ist schließlich der Aufseher für das Schergenhaus. Hätte er nämlich beizeiten das Gitter wieder angebracht, dann wäre nichts geschehen. So aber war das Kerkerfenster nur mit dem hölzernen Laden verschlossen. Und der war gerade mal mit einem Eisenriegel und einem Schloss gesichert. Das aufzukriegen, war ’n Kinderspiel. Ich frag mich sowieso, warum er das Gitter entfernt hat. Er hätte es ja noch dran lassen können, bis das neue fertig is’.«

»Warum, warum. Weil das alte nichts mehr taugte, du Hornochse; ’n paar von den Gitterstäben waren schon fast durchgerostet und die anderen saßen so locker in der Mauer wie die faulen Zähne im Maul meiner Schwiegermutter. Es war höchste Zeit, das Gitter zu entfernen. Der Laden hätte seinen Zweck schon erfüllt, wenn der Schmied ganze Arbeit geleistet hätte. Das Schloss war viel zu schwach«, belehrte Siegbert seinen Genossen mit Nachdruck.

Der Straße folgend, waren sie inzwischen in ein kleines Wäldchen eingedrungen, als Bodo plötzlich sein Pferd anhielt und angestrengt nach vorn starrte. Mit einer Geste bedeutete er seinem Begleiter, ebenfalls stehen zu bleiben.

»Was ist, was hast du?«, wunderte sich Siegbert.

»Da … sieh doch nur …! Da liegt jemand … Könnte ’ne Frau sein«, flüsterte Bodo aufgeregt und wies mit der Hand nach vorn.

»Wo? Ich seh nichts.«

»Hast du Kuhfladen auf den Augen? Dort, rechts vom Wege, neben dem Gebüsch!«

Seit einigen Monaten waren Siegberts Augen nicht mehr die besten; es dauerte ein wenig, bis er endlich, wenn auch nur verschwommen, die dunkle Silhouette eines Körpers wahrnahm, der etwa dreißig Schritte weiter vorn am Wegrand lag.

»Zum Teufel, du könntest recht haben«, murmelte er.

Sie gaben den Pferden die Sporen, sprengten auf die Stelle zu und sprangen aus dem Sattel.

»Bei allen Heiligen – die Ternbergerin! Sie ist tot!«, rief Bodo, der als Erster bei der Frau anlangte. Ein Schauer rann über seinen Rücken, als er den glasigen, aus der Ferne einer jenseitigen Welt kommenden Blick auf sich gerichtet sah, wie ihn fast jeder Leichnam aufwies, dessen Augen im Tod weit aufgerissen waren. Über den Oberkörper der Frau war ein grobes Sackleinen gebreitet. Ihr bleiches Gesicht wurde von langem, schwarzem Haar umrahmt, das wie dahingegossen den Boden bedeckte.

»Tatsächlich. Klara von Ternberg. Ich glaub’s nicht!«, bestätigte gleich darauf auch Siegbert. Im Gegensatz zu Bodo, der einfach nur dastand und auf die Frau herabsah, ging er neben ihr in die Hocke und legte prüfend die Finger an ihren Hals.

»Kein Zweifel, sie ist tot«, bemerkte er.

»Sag ich’s doch. Was hast du denn gedacht. Dass sie vor Müdigkeit eingeschlafen is’?«

»Spar dir deine blöden Bemerkungen«, knurrte Siegbert und hob das Sackleinen hoch. »Sieh mal, hier, man hat sie erstochen.« Siegbert deutete auf einen glatten Riss, den die Cotte der Toten auf der linken Brustseite aufwies, drum herum hatte sich ein riesiger schwarz-roter Fleck ausgebreitet. Unmittelbar über der rechten Hand, auf dem unteren Ende des Kleiderärmels, krabbelten seltsamer­weise unzählige Ameisen.

Bodo starrte betroffen auf die Frau herunter. »Hm«, brummte er. »Vor Kurzem erst die beiden Mädchen, dann der Bürgel und jetzt die Ternbergerin. Ich sag dir, der Teufel geht um im Ennstal.«

 

»Ob es der Leibhaftige war oder einer seiner menschlichen Handlanger, das herauszubekommen, obliegt dem Stadt­­­richter«, entgegnete Siegbert trocken.

»Ja, wenn ihm der Burggraf nicht wieder dazwischenfährt.«

»Den geht das Ganze nichts an. Die offizielle Juris­diktion über die Stadt und ihre Bürger obliegt dem Stadtrichter. Andererseits …«, er hielt kurz inne, um zu überlegen, »… ich glaub, diesmal könnten sie durchaus an einem Strang ziehen. Wenn sie sich auch sonst immer um die Zuständig­keiten zanken.«

»An einem Strang? Die beiden? Das glaubst du wohl selbst nicht!«

»Vergiss nicht: Hier geht’s um keinen Geringeren als Wernher von Ternberg, seines Zeichens Magistrat der Stadt Steyr und …«

»… und der hat schon lange die Nase voll von den ständigen Stänkereien des Burggrafen. Er steht eher auf der Seite des Stadtrichters«, unterbrach Bodo.

»Schon; trotzdem dürfte ihm diesmal einiges daran liegen, den Grafen mit ins Boot zu holen. Schließlich geht’s hier nicht nur um irgendein Verbrechen, sondern um den Mord an seinem Eheweib. Er wird den Täter schnellstens auf dem Richtplatz sehen wollen. Also wird er die beiden dazu bringen, die Sache gemeinsam anzugehen, und ich glaube nicht, dass sie sich ihm widersetzen werden.«

»Stimmt. Dazu ist der Ternberger zu mächtig. Schließlich is’ er stinkreich und hat verdammt gute Beziehungen zum Herzog«, räumte Bodo ein.

An ihre ursprüngliche Mission war nun nicht mehr zu denken. Der tote Ketzer würde warten müssen. Sie kamen überein, dass Bodo bei der Leiche wachte, während Siegbert so schnell wie möglich nach Steyr zurückreiten und den Stadtrichter informieren würde.