Tochter der Inquisition

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 3

Donnerstag auf Freitagnacht, 30. / 31. Juli 1388

Erschrocken fuhr Christine aus dem Schlaf. Mit angehaltenem Atem starrte sie zum Fenster hinüber. Unwill­kürlich strich sie sich mit der Hand über die Stirn; sie fühlte sich feucht und kalt an. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Du träumst, es ist nur ein böser Traum, versuchte sie sich zu beruhigen und schloss krampfhaft die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die dunkle Gestalt, die sie soeben noch neben dem Fenster zu sehen geglaubt hatte, ver­schwun­den.

Sie spürte, wie die Panik, die sich in ihr festgekrallt hatte, zu weichen begann, und atmete auf. Sie blickte zur Seite. Das Haupt auf beide Hände gebettet, lag Falk neben ihr; ruhige, gleic­h­mäßige Atemzüge verrieten, dass er tief und fest schlief.

Christine lächelte. Sie beugte sich über sein Gesicht und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Vorsichtig schlug sie die mit weißem Linnen überzogene Wolldecke zurück und stieg leise aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Fenster hinüber, öffnete einen der beiden pergamentbespannten Flügel und sah auf den Innenhof hinaus. Selbst jetzt noch, im Dunkeln, ließ sich die Größe des Ternbergschen Anwesens erahnen. Es umfasste zwei Gebäude, die jeweils aus einem Vorder- und einem Hinterhaus bestanden und durch den Hof voneinander getrennt waren. Christine und Falk waren in dem Haus untergebracht, das man das »Fondaco« nannte; ein Begriff, den der Ternberger von einer seiner Reisen nach Venedig mitgebracht hatte. Es barg neben einigen Dienstbotenkammern und einer großen Küche vor allem Kontore sowie Laden- und Geschäftsräume, die nicht von ungefähr im ersten Obergeschoss untergebracht waren: Nur so ließen sich Handelserzeugnisse und Waren vor den regelmäßig wiederkehrenden Hochwässern von Enns und Steyr schützen. Auch die Gästekammern befanden sich hier; sie lagen im zweiten Obergeschoss. Das andere Gebäude wurde vom Hausherrn selbst und einigen Dienstboten, allen voran dem Majordomus, bewohnt. Darüber hinaus beherbergte es eine große Empfangshalle sowie weitere Geschäftsräume und die Schreibstube Wernher von Ternbergs. Die Hauptfassaden beider Häuser wandten ihr stolzes Antlitz zum Stadtplatz, während die Rückseiten auf eine etwas mehr als mannshohe Mauer stießen, die sich die ganze Breitseite des Anwesens entlang erstreckte und nur wenige Schritte von der Enns entfernt errichtet worden war. Trat der Fluss über die Ufer, schützte die Mauer – wenn auch unvollkommen und nur vorübergehend – zumindest den Innenhof vor seinen Fluten. Auf den Hof selbst gelangte man durch ein breites zweiflügeliges Tor, das in eine Mauer eingelassen war, welche die auf der Stadtplatzseite gelegenen Fronten beider Gebäude miteinander verband.

Christines Blick richtete sich nach rechts, wo hinter der ennsseitig gelegenen Mauer das schwarzsilberne Band des Flusses glitzerte, und schweifte dann über den Hof, auf dem tagsüber geschäf­tiges Treiben herrschte. Jetzt lag er einsam und leer und von nächtlicher Stille erfüllt da. Christine gähnte; sie spürte, wie erneut Müdigkeit nach ihr griff, und beschloss, sich wieder aufs Lager zu begeben.

Dann aber drang ein Knacken an ihr Ohr, gefolgt von rhythmisch leisem Klatschen.

Mit einem Mal war sie wieder hellwach. Sie trat zur Seite, um selbst nicht gesehen zu werden, und blickte mit angehaltenem Atem in den Hof hinunter.

Mit schnellen Schritten querte eine dunkel gewandete Person den Hof, blieb kurz stehen und sah sich vorsichtig um, als wollte sie sich vergewissern, dass ihr auch niemand folgte. Dabei hob sie das Haupt – und sah für einen kurzen Augenblick direkt zum Fenster der Gästekammer empor.

Christine stutzte.

Sofia!

Sofia, die Tochter Klaras, die angeblich bei einer Freundin zu Gast war und erst in einer Woche heimkehren würde. Das Licht, das der Mond hergab, genügte Christine, um zweifelsfrei ihr Profil erkennen zu können. Zudem vermochte das Tuch, mit dem die junge Frau ihr Haar verhüllt hatte, nur ansatzweise, die blonde Pracht zu bändigen, die sich darunter verbarg.

Mit schnellen Schritten lief sie weiter, erreichte den Schatten des gegenüberliegenden Hauses und bewegte sich in seinem Schutz in Richtung der am Fluss gelegenen Begrenzungsmauer. Dort verschwand sie hinter einigen Büschen, die an der Mauer entlang wuchsen.

Christine ließ die angestaute Luft mit einem scharfen Zischlaut entweichen. Sie wartete darauf, dass Sofia wieder erschien. Doch das Mädchen blieb verschwunden, als habe sie der Erdboden verschluckt.

Christine blickte zu Falk hinüber. Sollte sie ihn wecken? Nein. Das hatte bis morgen Zeit. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett zurück und schlüpfte vorsichtig unter die Decke. Geraume Zeit noch floh sie der Schlaf, bevor sie endlich in einen unruhigen Schlummer glitt.

Kapitel 4

Freitag, 31. Juli 1388

Als Christine Stunden später erwachte, stellte sie über­rascht fest, dass der Platz neben ihr leer war. Offenbar hatte Falk beschlossen, sie schlafen zu lassen, während er selbst bereits unterwegs war. Sie sah zum Fenster hinüber, durch das bereits die warmen Strahlen der Sonne fielen; vom Hof unten drang verhaltener Lärm ins Zimmer.

Christine gähnte. Sie stieg langsam aus dem Bett und ging nach nebenan in die kleine Ankleidekammer, wo sie eine Schüssel voll frischen Wassers nebst einer duftenden Seifenkugel aus Venedig und einen Stapel sauberer Tücher vorfand.

Wenig später – sie war inzwischen vollständig ange­kleidet – klopfte es an ihrer Kammertür. Es war Irmingard, die oberste Hausmagd.

»Euer Gemahl ist bereits mit meinem Herrn im Stadtrichterhaus, gnädige Frau. Sie werden um die sechste Stunde zurück sein. Wenn Ihr wollt, dürft Ihr Euch derweil in der Bibliothek umsehen. Der Majordomus, Herr Söhnlein, wird sie Euch zeigen.«

Erfreut hob Christine die Brauen. Dass es im Hause Ternberg einen solchen Raum gab, war ungewöhnlich, gestand man ihn gemeinhin doch lediglich den Klöstern zu.

»Richte dem Majordomus aus, dass es mir ein Vergnügen sein wird.«

Hans Söhnlein war trotz seines Alters von knapp fünfzig Jahren noch immer ein attraktiver Mann. Von hoher Gestalt, mit dunklem, leicht gewelltem Haar und einem Paar hellblauer Augen, die sehr sanft und heiter blickten, und ausgestattet mit ebenmäßigen Gesichtszügen, die der eine oder andere vielleicht als ein wenig zu weich ansehen mochte, bot er einen Anblick, der so mancher Frau das Herz höher schlagen ließ.

»Ich danke für die Mühe, die Ihr Euch mit mir macht«, sagte Christine, nachdem sie einander begrüßt hatten, und lächelte dem Majordomus freundlich zu.

»Aber ich bitte Euch, es ist mir eine Ehre, Frau von Falkenstein.« Die samtene Stimme des Majordomus entsprach ganz seiner äußeren Erscheinung. Er verbeugte sich galant und hielt Christine die Tür zur Bibliothek auf.

Mit Erstaunen registrierte sie die Größe des Saales; er wirkte hell und freundlich, ein Umstand, welcher der mit Butzenglasscheiben ausgestatteten Fensterreihe zu verdanken war, die nach Norden lag. Auf drei Seiten war der Raum mit gewaltigen Regalen versehen, bis zur Decke vollgestopft mit Büchern. Die Mitte beherrschte ein wuchtiger Tisch, in dessen glatt polierte Fläche wertvolle Intarsien eingelassen waren. Auf der Platte selbst thronte ein mächtiger Leuchter; flankiert wurde der Tisch von einigen gut gepolsterten, mit bequemen Armlehnen versehenen Stühlen.

Bewundernd ließ Christine ihren Blick die Regale entlangwandern. Wenn es etwas gab, das sie faszinierte, dann waren es Bücher. Von Kindheit an hatten sie eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Immer wenn sie eine Bibliothek oder eine Schreibstube betrat, tat sie es mit fast ehrfürchtigem Staunen, obwohl ihr der Anblick von Regalen, gefüllt mit Hunderten von Buchrücken, sowie das Studium eng beschriebener und mit kunstvollen Bildern versehener, pergamentener Seiten von Jugend an vertraut war. Schließlich war sie als Tochter des Vicomte Arnaud de Blois aufgewachsen, eines adeligen Gelehrten, der an der Universität Paris Medizin und Jurisprudenz studiert und schließlich zum Doctor medicinae und Licentiatus iuris avanciert war. Vicomte Arnaud de Blois war ein Mann mit überragender Bildung gewesen, der sehr wohl wusste, dass Bücher Macht besaßen, ja sogar die Welt verändern konnten, sowohl zum Bösen als auch zum Guten. Schon früh hatte er die Geistesgaben seiner Tochter und das Potenzial, das in ihr steckte, erkannt und sie – entgegen aller Regeln – zunächst von klösterlichen Lehrern, die er gut bezahlte, in den sieben freien Künsten unterrichten lassen. Was Sprachen anging, beherrschte Christine außer Latein auch Italienisch und Deutsch. Nachdem sie Trivium und Quadrivium mit Bravour gemeistert hatte, war sie an die Schule von Salerno (an der sogar Frauen studieren durften) gewechselt, wo sie das Studium der Medizin absolviert hatte. Bei der Erinnerung an ihren Vater kamen Christine die Tränen; vor zwei Jahren bereits war er verstorben, das Vermögen, das er ihr hinterlassen hatte, versetzte sie jedoch in die Lage, ein verhältnismäßig unabhängiges und sorgenfreies Leben zu führen. Ein Leben, das sie seit drei Jahren mit Falk von Falkenstein teilte.

»Euer Schweigen lässt erkennen, wie beeindruckt Ihr seid«, sagte der Majordomus lächelnd und riss Christine aus ihren Gedanken.

»Ihr habt recht, Herr Majordomus, ich bitte um Vergebung. Aber Ihr seht mich in der Tat überrascht. Um diese Schätze würde so manches Kloster Herrn von Ternberg beneiden. Ich wusste gar nicht, wie sehr er der Liebe zu den Büchern huldigt«, entgegnete Christine ein wenig verlegen.

»Die Liebe zu den Büchern spiegelt seine Liebe zum Wissen wider.«

»Ja, ich weiß. Auch Klara war sehr wissbegierig. Sie dürfte sich dieser Bücher ebenfalls sehr ausgiebig bedient haben, nicht wahr?«

 

»Da habt Ihr recht. Sie hat sich sehr oft und sehr gerne hier aufgehalten«, bemerkte der Majordomus, während ein Schatten über seine Miene huschte. »Hier war übrigens ihr Lieblingsplatz.« Er schritt die Wand entlang und blieb vor einem Regal stehen, das sich in einer tiefen Nische befand; der untere Teil war mit einer Holzplatte verschlossen. »Und das hier haben wir auf ihre Anregung hin fertigen lassen«, ergänzte er. Er bückte sich kurz und überraschte Christine damit, dass er die Holzplatte nach oben klappte, bis sie mit hörbarem Klacken in eine Mechanik einrastete. Im Handumdrehen war so eine praktische Schreib­fläche entstanden. Jetzt erst nahm Christine auch den zierlichen Hocker wahr, der, hinter der Platte verborgen, von Klara offenbar immer dann her­vor­geholt worden war, wenn sie sich an die heraus­klappbare Tischplatte setzen wollte.

In diesem Moment hörten sie, wie jemand den Saal betrat. Sie wandten sich um und sahen Irmingard, die Obermagd, im Türrahmen stehen.

»Verzeiht, Herr Söhnlein, aber Ihr habt Besuch. Herr van Leyden aus Brügge ist angekommen.«

»Van Leyden? Er wollte doch erst morgen anreisen«, wunderte sich der Majordomus. »Ich bitte um Entschul­digung, Frau von Falkenstein, aber ich muss Euch nun allein lassen; die Geschäfte rufen«, fügte er, an Christine gewandt, hinzu und entfernte sich mit eiligen Schritten.

Nachdenklich betrachtete Christine die Nische, die der Majordomus als Klaras Lieblingsplatz bezeichnet hatte. Sie barg ein Regal, das über eine größere Tiefe zu verfügen schien als die anderen, sodass zu vermuten stand, dass die Bücher darin in zwei hintereinander angeordneten Reihen standen.

Christine nahm einige Bände heraus und legte sie auf die ausgezo­gene Tisch­platte. Sie fand ihre Vermutung bestätigt. Tatsächlich ließ die entstandene Lücke eine zweite Reihe von Büchern erkennen. Was ihr jedoch vor allem ins Auge stach, war ein dickes Buch, das nicht wie die anderen mit dem Buchrücken zum Betrachter im Regal stand, sondern vielmehr aufgeschlagen dalag, ganz so, als hätte jemand erst kürzlich darin gelesen und es dann zur Seite gelegt. Christine nahm es zur Hand und registrierte erstaunt, dass sie eine Ausgabe von Dante Alighieris »Divina Commedia« in italienischer Sprache in Händen hielt. Als sie umblättern wollte, fiel plötzlich ein eng beschriebenes Blatt heraus und flatterte zu Boden. Sie hob es auf und stellte überrascht fest, dass die mit schneller Hand hingeworfenen Zeilen nichts mit hehrer Dicht-, sondern mit deftiger Kochkunst zu tun hatten – es war ein schlichtes Küchenrezept, das die Herstellung eines süßen Backwerks nannte. Allerdings war es nicht auf Pergament, sondern auf Papier notiert; jenem praktischen Beschreibstoff, den man hauptsächlich aus Venedig, Genua oder anderen italienischen Städten importierte. Auch die Rückseite war beschrieben, und zwar mit einem zweizeiligen Vers. Im Gegensatz zu dem Rezept auf der Vorderseite erkannte Christine in den beiden Zeilen eindeutig die Handschrift Klaras. Die Glöckchen aus Akkon, wie lieblich ihr Klang. So nehmt denn ihr Schönen, den Tod in Empfang, las sie. Zuerst runzelte sie die Stirn, dann lächelte sie wehmütig. Sie wusste noch aus Salerno, dass Klara hin und wieder den einen oder anderen Vers geschmiedet und auf dem nächstbesten Beschreibstoff notiert hatte, um ihn nicht zu vergessen. Wahrscheinlich war dies einer davon.

Sie steckte den Zettel wieder zwischen die Seiten und legte das Buch an seinen Platz zurück. Nachdem sie die Regale einer weiteren Inaugenscheinnahme unterzogen hatte, beschloss sie, den Rest des Vormittags damit zu verbringen, in einigen Werken zu stöbern, die sich mit medizinischen Themen beschäftigten. Es würde ihr die Zeit bis zu Falks Rückkehr auf angenehme Weise verkürzen.

Kapitel 5

Der Saal, in dem der Stadtrichter seines Amtes waltete, zeichnete sich zum einen durch seine enorme Größe und zum anderen durch die wuchtigen Schränke aus, die sich an der der Wand gegenüberliegenden Fensterseite entlangreihten. Den Mittelpunkt des Raumes bildete ein beeindruckend großer Tisch, an dem sich an diesem Morgen der Stadtrichter selbst sowie Heinrich von Pogner, Burggraf zu Steyr, und Wernher von Ternberg nebst Falkmar von Falkenstein niedergelassen hatten.

»Wie ich schon sagte, der Graf und ich sind uns in der Beurteilung der Situation einig«, sagte Georg von Panhalm und sah zu Heinrich von Pogner hinüber, der an einer der Stirnseiten des Tisches saß. »Beide Male dürften wir es mit Mord aus Habgier zu tun haben. Allein, ob es gelingen wird, des oder der Täter habhaft zu werden …« Der Stadtrichter ließ den Satz unvollendet und zuckte mit den Schultern.

»Ich bin der gleichen Meinung«, bestätigte der Burg­graf und maß Falkmar von Falkenstein mit einem Blick, in dem unverhohlene Ablehnung lag. Er erhob sich aus seinem Stuhl und begann mit auf dem Rücken verschränkten Armen langsam auf und ab zu gehen.

»Es handelt sich eindeutig um Raubmord. Sowohl was Eure Gattin betrifft, verehrter Herr von Ternberg«, der Pogner nickte in Richtung Wernhers, der neben Falk an der Längsseite des Tisches saß, »als auch, was diesen Lamprecht Bürgel angeht. Sowohl Eurer Gemahlin als auch dem Bürgel wurde der Geldbeutel entwendet. Die Indizien sprechen also eine eindeutige Sprache«, bekräftigte der Graf noch einmal mit Nachdruck. Im Gegensatz zum Stadtrichter, der stets eine etwas heiser klingende, helle Stimme besaß, verfügte Heinrich von Pogner über einen mächtigen Bass, der adäquat seinem Äußeren entsprach. Groß und massig gebaut, mit bereits leicht ergrautem Bart und ebensolchem Haar, das ihm gewellt bis auf die Schultern fiel, gab er eine imposante Erscheinung ab. Das mit Goldfäden durchwirkte Barett auf dem Haupt – die neumodische Kopfbedeckung stammte offenbar aus Venedig –, den pelzbesetzten Umhang um die Schultern gelegt und angetan mit schweren Reitstiefeln, bot er exakt das respektheischende Bild, das man von einem Grafen, der auf der Styraburg residierte, erwartete.

Der Ternberger saß mit steinerner Miene da und schüttelte entschieden den Kopf, ersparte sich jedoch für den Moment jeglichen Kommentar.

Falk räusperte sich. »Gehen wir einmal davon aus, dass Eure These richtig ist und es sich auch im Falle Klara von Ternbergs lediglich um Raubmord handelt, verehrter Graf: Teilt Ihr auch die Zweifel des Herrn Stadtrichters, was das Habhaftwerden des Täters angeht?«, fragte er.

»Leider ja. Ihr wisst, dass es eine Menge Herumtreiber gibt, landesschädliches Gesindel, entwurzelte Gestalten, die es mal hierhin, mal dorthin verschlägt. Meist halten sie sich irgendwo in den Wäldern auf. Seit jener unseligen Schlacht bei Sempach vor zwei Jahren gibt es auch wieder den einen oder anderen brotlos gewordenen Kriegsknecht, der auf schnelle Weise zu Geld gelangen will. Sie tauchen auf, richten Schaden an und ziehen weiter, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wo und wie also, bitte schön, sollen wir nach dem oder den Tätern suchen? Um Weiteres zu verhindern, beziehungsweise an den oder die Mörder heranzukommen, falls sie überhaupt noch in der Gegend sind, bleibt nur eines: die Augen offen halten. Der Stadtrichter und ich sind übereingekommen, Patrouillen einzurichten, die draußen vor den Mauern nach dem Rechten sehen, und zwar insbesondere des Nachts und in den frühen Morgenstunden. Tagsüber haben wir besonders auf Fremde ein Auge. Dass wir natürlich jeder neuen Spur nachgehen werden, sollte sie auftauchen, versteht sich von selbst.«

»Ihr sagtet, es habe keinen weiteren Hinweis gegeben. Klaras Ahnung, dass ihr etwas zustoßen könnte – Herr von Ternberg hat Euch sicher davon berichtet –, seht Ihr also nicht als solchen an?«

Der Graf beschloss, auf diese Frage selbst nicht einzugehen. Stattdessen sah er zum Stadtrichter hinüber, der ein verlegenes Räuspern hören ließ.

»Nun das erscheint in der Tat auf den ersten Blick ein wenig merkwürdig«, gab von Panhalm zu. »Aber glaubt mir, es scheint nur so. Bedenkt Folgendes: Als man Frau von Ternberg fand, fehlte ihre Geldbörse. Was nicht verwundert, denn die Börse selbst besaß einigen Wert und sie war offensichtlich gut gefüllt. Daraus folgt: Frau von Ternberg wurde das Opfer eines Räubers. Der Beweggrund war eindeutig Habsucht. Das sind nun mal die Fakten. Dass sie ihren Mörder kannte, halten wir nicht für wahrscheinlich. Hätte sie im Voraus gewusst, dass sie in Gefahr schwebt, Opfer eines Raubmords zu werden, hätte sie etwas dagegen unternommen. Was also diese seltsame Ahnung angeht – man kann sie mit Sicherheit nicht auf die Umstände ihres Todes beziehen. Natürlich verstehen wir, dass Herr von Ternberg …«

»Genug, spart Euch Eure Beteuerungen. Ich kenne Eure Ansicht über den Fall mittlerweile zur Genüge«, fiel ihm der Ternberger ärgerlich ins Wort. »Ich bleibe dabei: Klara ahnte ihren Tod voraus und sie hatte offenbar handfeste Gründe dafür. Hinter all dem steckt mehr als nur ein Raub­mord. Das Ganze damit abtun zu wollen, ist zwar einfacher für Euch, steht jedoch der Wahrheitsfin­dung entgegen.« Erregt schlug Wernher mit der Faust auf den Tisch.

Der Stadtrichter zuckte zusammen und sandte einen hilfesuchenden Blick zum Grafen, der sich mittlerweile wieder gesetzt hatte. Eigentlich wusste er, dass es zwecklos war, Wernher von Ternberg zu widersprechen. Auch wenn er als Stadtrichter den offiziell höheren Rang bekleidete – er war der Vorsitzende des aus sechs Ratsherren bestehenden Rates der Stadt, dem auch der Ternberger angehörte –, war er sich darüber im Klaren, dass sein Einfluss im Gegensatz zu dem Wernhers recht bescheiden war. Unermesslich reich, ausgestattet mit einem beneidens­werten Charme, den er raffiniert einzusetzen vermochte, verfügte der Ternberger zudem über beste Verbindungen zum Landesfürsten und besaß so einfach den längeren Arm.

»Hmm«, räusperte sich der Graf und schien ebenso verlegen wie vorhin der Stadtrichter. »Aber Herr von Ternberg, wir sprachen bereits mehr­fach darüber. Was die Ahnung Eurer Gattin angeht, so etwas gibt es eben. Nennt es meinetwegen Zufall, den Anflug einer schlechten Stimmung oder wie immer Ihr wollt. So ein Gefühl muss keinen konkreten Hinter­grund haben«, versuchte er in aller Ruhe, auf den Magistrat einzuwirken. Auch wenn er mit ihm nicht einer Meinung war – dass selbst er als Vertreter des Landesfürsten höchsten Respekt vor der Person des Ternbergers bekundete, war in diesem Moment unver­kenn­bar. Falk wurde bewusst, welch zwingende Autorität von dem Kaufmann ausging und wie immens sein Einfluss sein musste.

Wernher schüttelte störrisch den Kopf. »Nein, Herr von Pogner, Ihr seid auf dem Holzweg; ich weiß es. Dieses Gespräch überzeugt mich einmal mehr davon, dass Ihr und Herr von Panhalm der Hilfe jemandes bedürft, der Euch mit seinem scharfen Verstand auf die richtige Fährte zu bringen vermag. Ich bitte Euch also, Herrn von Falkenstein in seinen Untersuchungen, die er parallel zu den Euren führen wird, rückhaltlos – ich wiederhole: rückhalt­los! – zu unterstützen. Punktum!«

Abermals schlug der Ternberger mit der Faust auf den Tisch; in seinem Gebaren lag unbestreitbar eine ge­hörige Portion Arroganz. Falk fühlte sich peinlich berührt, insbeson­dere, da er der Gegenstand der Konfrontation war.

»Noch ein Wort an Euch, Herr Stadtrichter. Ihr solltet nicht vergessen, dass Eure erneute Wahl im nächsten Jahr unter anderem auch davon abhängt, wie erfolgreich Ihr es vermögt, den Frieden der Stadt zu schützen und Schaden von ihr fernzuhalten«, setzte Wernher noch eins drauf.

Georg von Panhalm wurde bis über beide Ohren rot und biss sich auf die Lippen. Die unverblümte Äußerung führte ihm nicht nur erneut vor Augen, wie abhängig er in­zwischen vom Wohlwollen des Ternbergers geworden war, sie war zudem als unverhüllte Drohung zu werten. Zwei Mal war er bis jetzt von dem in der Stadt ansässigen Adel und den angesehensten Bürgern in das Amt des Stadtrichters gewählt worden, wobei er stets auf die Unterstützung Wernhers angewiesen gewesen war. Dies würde im nächsten Jahr am Sonntag vor St. Thomas, dem Tag der Wahl, nicht anders sein. Längst wurde die Tatsache, dass Wernher von Ternberg im Rat den Ton angab, in der Stadt nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand geäußert.

Der Stadtrichter bemerkte ein schadenfrohes Grinsen im Gesicht des Burggrafen und kniff die Lippen noch stärker zusammen. Dass er, was die Ermittlungen im Mordfall Klara von Ternbergs anging, mit ihm einig ging, bedeutete noch lange nicht, dass sie Freunde geworden waren. Es war purer Opportunismus gewesen, was beide veranlasst hatte, die größtmögliche Übereinstimmung zu suchen. Schließlich hatten sie den weitreichenden Arm des Ternbergers zu fürchten, dem man nachsagte, ein fast freundschaftliches Verhältnis zum Landesherrn zu unterhalten, was wiederum nicht von ungefähr kam, munkelte man doch, dass er diesem einst mit einer gewaltigen Summe Geldes aus einer argen Verlegenheit geholfen habe. Die Forderung Wernhers an die beiden Obrigkeitsvertreter war klar und ultimativ gewesen – ihm so schnell wie möglich den Mörder seiner Frau zu präsentieren. Nachdem allerdings mehr als zwei Wochen vergangen waren, ohne dass die gemeinsa­men Bemü­hungen nennens­­werte Fort­schritte gezeitigt hatten, war man in einem vertraulichen Gespräch überein­gekommen, gegenüber dem Ternberger die gestellte Aufgabe als nicht erfüllbar darzustellen. Das Verbrechen als Raubmord anzusehen, er­öff­nete die Möglichkeit, die Täterschaft jemandem zuzuwei­sen, dessen Identität nie würde festgestellt werden können. Es gab genug landess­chädliches Geschmeiß, das die Stra­ßen und Wege unsicher machte, und so mancher, der tot am Wegrand lag, hatte sein Dahinscheiden diesem Lumpen­pack zu verdanken. Warum also sollte es im Falle der Ternbergerin und des Bürgels anders gewesen sein, waren beide doch schließlich außerhalb der Stadt tot aufgefunden worden.

 

Stadtrichter Panhalm, im Inneren noch immer voller Wut über die Anspielung des Ternbergers, versuchte, nach außen weiterhin jovial und zuvorkommend zu wirken.

»Ihr wisst, Herr von Ternberg, dass ich immer mein Bestes getan habe für das Wohl der Stadt. Was Euch angeht, Herr von Falkenstein«, der Stadtrichter mühte sich, Falk freundlich zuzunicken, »selbstverständlich dürft Ihr mit meiner vollen Unterstützung rechnen.«

Wernher wandte sich an den Burggrafen. »Ich gehe davon aus, dass Ihr Euch dem anschließt, Herr Graf. Auch wenn ich abwesend sein sollte, wohlgemerkt. Ihr wisst: Dringende Geschäfte führen mich in den nächsten Tagen nach Wien. Dort werde ich auch den Herzog treffen; er hat mich zur Jagd geladen.«

Heinrich von Pogner nickte zustimmend. Er hatte verstanden. Nicht das leiseste Zucken in seiner Miene verriet, dass er den Ternberger in diesem Moment in die tiefsten Abgründe der Hölle wünschte.

Wernher erhob sich. Die anderen folgten seinem Beispiel.

»Nun denn, meine Herren, erlaubt, dass wir uns jetzt empfehlen«, verabschiedete sich der Ternberger und wandte sich zum Gehen.

Falk deutete eine knappe Verbeugung an, die vom Grafen ebenso knapp erwidert wurde, während Georg von Panhalm devot zur Tür eilte, um seine Gäste zumindest der Form halber höflich zu entlassen.

»Sollten wir uns vorher nicht mehr sehen – ich wünsche eine erfolgreiche Reise nach Wien, Herr von Ternberg«, sagte er und öffnete die Tür.

Wernher bedankte sich mit einem kaum merklichen Nicken seines Hauptes. Gefolgt von Falk, wollte er gerade auf den Flur hinaustreten, als er auf der Schwelle plötzlich mit einem der Büttel, welche die Wache im Stadt­richter­haus innehatten, zusammenstieß. Der Mann entschul­digte sich tausend Mal, als er erkannte, wen er da gerade angerempelt hatte.

»Tölpel, kannst du nicht aufpassen!«, rief von Panhalm erbost.

»Verzeiht, Herr Stadtrichter, aber der Bucklige vom Teufelsturm wartet unten. Er habe eine Botschaft seines Herrn an Seine Gnaden, Herrn von Pogner.«

Der Stadtrichter sah den Grafen fragend an. »Ihr habt es gehört; der Diener des Kreuzeckers will Euch eine Nachricht überbringen. Soll ich ihn vorlassen?«

Heinrich von Pogner machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das hat Zeit. Ich will noch ein paar Worte mit Euch reden.«

»Also, du hast es gehört. Sag dem Irren, er soll warten«, wandte sich der Stadtrichter missgelaunt an den Büttel. Einen Moment noch sah er dem Ternberger und Falk von Falkenstein hinterher, die inzwischen die nach unten führende Treppe erreicht hatten. Dann schloss er die Tür …

»Er hat Euch ganz schön den Marsch geblasen, nicht wahr? Euer stadtrichterlicher Stuhl gerät gehörig ins Wackeln«, bemerkte der Burggraf mit süffisantem Grinsen. Er saß am Tisch, hatte die Beine breit von sich gestreckt und hielt lässig die Arme vor der Brust verschränkt.

»Ich wüsste nicht, welchen Grund es für Euch gibt, anzunehmen, dass er nur mir den Marsch geblasen hätte. Diesmal sitzen wir im gleichen Boot, habt Ihr das ver­gessen?«, entgegnete der Stadtrichter giftig.

»Schon, aber im Gegensatz zu mir steht Ihr in Gefahr, ins Wasser zu fallen. In erster Linie seid Ihr für die Jurisdiktion in der Stadt zuständig, nicht wahr? Darauf beruft Ihr Euch doch immer.«

»Mag schon sein – andererseits: Ich denke, wenn der Ternberger mit dem Herzog zur Jagd ausreitet, dürfte er ihm gegenüber einige delikate Dinge zur Sprache bringen, was die Vernachlässigung Eurer landespflegerischen Pflicht angeht, meint Ihr nicht auch?«, entgegnete von Panhalm und sah sein Gegenüber mit spöttischem Blick an.

Das süffisante Grinsen des Burggrafen wich einem nachdenklich lauernden Blick – um sich gleich darauf in ein Lächeln zu verwandeln, das versöhnlich wirken sollte.

»Kommt, Panhalm, lasst uns nicht streiten. Ihr habt recht, wir sitzen im gleichen Boot. Und wir sind beide daran intere­ssiert, uns nicht von diesem dahergelaufenen Falkensteiner in die Suppe spucken zu lassen. Stellt Euch vor, der Mann findet tat­sächlich etwas heraus, was uns entgangen ist – Eure und meine Reputation wären endgültig beim Teufel.«

»Wie wollt Ihr das verhindern? Indem Ihr ihm Steine in den Weg legt? Das würde Euch und mir schlecht bekommen. Der Ternberger ist zu mächtig geworden, als dass man sich seinem Willen widersetzen könnte.«

»Dem Falkensteiner Steine in den Weg legen? Nein, fällt mir nicht ein. Im Gegenteil; er soll ruhig ermitteln. Wir werden mit ihm zusammen­arbeiten, und zwar eng. Und wisst Ihr, warum?« Der Graf beugte sich weit vor und sah den Stadtrichter über den Tisch hinweg mit einem verschwö­rerischen Blick an. »Um ihm über die Schulter zu sehen, versteht Ihr? So behalten wir die Kontrolle. Sollten seine Ermittlungen tatsächlich etwas ergeben, was … sagen wir … nicht unseren Vorstellungen entspricht, haben wir immer noch die Möglichkeit«, er zögerte kurz, »nun ja, entsprechend einzu­greifen.«

Der Stadtrichter kaute auf seiner Unterlippe herum und maß den Burggrafen mit einem abschätzenden Blick.

»Die Idee ist so schlecht nicht«, stimmte er schließlich zu. »Allein, sie erfordert, dass wir uns gegenseitig über alles infor­mieren, um uns abzustimmen.«

Der Graf nickte. »Ihr sagt es. Das aber dürfte das geringste Problem sein – meint Ihr nicht auch?«

Ein verständnisinniges Grinsen besiegelte die Verein­barung der beiden Obrigkeitsvertreter. Von der Feind­schaft, die zwischen ihnen bestand, war – zumindest in diesem Augenblick – nichts mehr zu spüren.