Hull Storys

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Hull Storys
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Inhalt

Impressum 3

Hull Storys 4

1. 5

2. 10

3. 14

4. 18

5. 20

6. 28

7. 36

8. 41

9. 49

10. 53

11. 61

12. 66

13. 69

14. 77

15. 80

16. 86

17. 97

18. 102

19. 105

20. 109

21. 111

22. 115

23. 120

24. 125

25. 130

26. 137

27. 143

28. 146

29. 150

30. 158

31. 162

32. 168

33. 172

34. 177

35. 180

36. 183

37. 187

38. 191

39. 197

40. 205

41. 211

42. 217

43. 222

44. 226

45. 230

46. 237

47. 246

48. 250

49. 255

50. 260

51. 269

52. 274

53. 280

54. 284

55. 291

56. 295

57. 301

58. 306

59. 308

60. 314

Hull-Storys, Beschreibung des Ortes 317

Hull-Storys: Die beteiligten Personen 321

Hull-Storys 325

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-019-8

ISBN e-book: 978-3-99131-020-4

Lektorat: Mag. Angelika Mählich

Umschlagfoto: Smilla, Aktywnyplan | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Hull Storys

Zum Gebrauch des Buches:

Die Personen, die Handlung, die Handlungsorte, Namen und Dialoge der „Hull Storys“ sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen, Orten und Begebenheiten wären zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Eine Beschreibung der Orte finden Sie in „Hull Storys“ ab Seite 319.

Eine Auflistung der beteiligten Personen in „Hull Storys“ finden Sie ab Seite 323. Die Personenauflistung, gegliedert nach Familienzugehörigkeit, oder nach Ortszugehörigkeit oder nach Branchenzugehörigkeit kann helfen, die vielseitigen Personenbeziehungen der Geschichte schneller zu verstehen.

Die Erklärungen einiger im Buch verwendeter Begriffe, insbesondere der Anglizismen, finden Sie in „Hull Storys“ ab Seite 327.

Die Verwendung der Anglizismen ist der Annahme geschuldet, dass in der fiktiven Landschaft der Geschichte die deutsche Sprache nicht existent sein kann.

1.

Er betrat das in der Sonne glitzernde Direktionsgebäude der „Bellman-Cargo-Shipping“ (BCS), nahm den Fahrstuhl in das achte Obergeschoß. Lisa Bonelli, Assistentin der Direktion, lächelte, als er den Vorraum betrat. Er schaute sie entspannt an, nahm seine Kapitänsmütze vom Kopf, klemmte sie unter den linken Ellenbogen und meldete sich als Robert Finnly, Kapitän zur See.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Bonelli.

„Herr Direktor Bellmann hat mich um 15.00 Uhr zu einem Gespräch in sein Arbeitszimmer gebeten!“

Bonelli schaute demonstrativ auf eine Uhr, es war Punkt 15 Uhr. Sie zog skeptisch die Augenbrauen hoch, nahm den Telefonhörer und fragte: „Darf Mr. Finnly eintreten?“

Zu Robert gewandt sagte sie: „Bitte sehr, die Doppeltüre links!“ Dabei bewegte sie lässig ihre rechte Hand in Richtung der Doppeltüre.

Robert dachte: „Hübsches Mädchen, aber für diesen Job zu jung, zu unerfahren.“ Er öffnete ohne anzuklopfen die Türe des Direktorzimmers und trat gemessenen Schrittes ein.

Leonhard Bellmann, 72 Jahre, hinter einem gewaltigen Mahagonischreibtisch sitzend, nahm eine kapitale Zigarre aus dem Mund, legte sie in eine Aschenschale und schaute den für seine Reederei arbeitenden Kapitän an. Nach einer gedehnten Schweigepause sagte er: „Bitte nehmen Sie Platz, Kapitän!“

An der rechten Seite des Schreibtisches saß Sean Blocker, Arbeitsdirektor der BCS.

Bellman eröffnete das Gespräch: „Sie wollen uns verlassen – darf ich fragen, welche Bewegründe Sie dazu veranlassen?“

„Eigentlich nein, Mr. Bellman, aber wir arbeiten seit einigen Jahren erfolgreich zusammen und ich will Ihnen meine Gründe nicht vorenthalten. Fünfzehn Jahre Kapitän auf einem Trampfrachter sind für mich genug. Die Arbeit ist gleichförmig geworden und ich will mein Leben verändern!“

„Donnerwetter, Finnly, Sie sind unser erfolgreichster „Tramper“! Was wollen Sie: Wollen Sie eine andere Aufgabe in unserer Reederei? Sind Sie mit unserer Reederei nicht zufrieden?“

„Ich bin 45, in vielen Stunden alleine auf der Brücke ist mir klar geworden, dass ich nur ein Leben habe. Ich beende die große Seefahrt, um etwas Neues zu beginnen! Meine Heimat ist Hull und hier versuche ich ein abwechslungsreicheres Leben für mich zu gestalten!“

„Haha, hört, hört, der junge Herr macht auf Privatier? Also, ist das Ihr letztes Wort?“

 

„Absolut, Mr. Bellman!“

Bellman spürte, dass der Entschluss seines Kapitäns nicht umkehrbar war. Er wusste auch, dass Finnly viel Geld verdient hatte und sich diesen Ausbruch aus der jetzigen Berufssituation wahrscheinlich leisten konnte.

„Haben Sie einen Vorschlag, wie wir mit Ihrem Schiff weiter verfahren können, Mr. Finnly?“

„Ja, natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, Mr. Bellman!“

Sean Blocker meldete sich: „Meine Herren, es geht um die personelle Neubesetzung der „BCS-Beluga 3“. Als Vertreter der Belegschaft habe ich Vorschläge zu machen!“

„Sachte, sachte, Mr. Blocker. Wir wollen uns Finnlys Gedanken anhören“, warf Bellman ein.

Robert argumentierte: „George Bennon, unser Erster Offizier auf der Beluga 3, fährt bereits fünf Jahre unter meinem Kommando. Jeder in diesem Raum kennt seine Qualitäten und deshalb ist er erster Anwärter auf den Kapitänsposten!“

Blocker schaute Robert hasserfüllt an. In seinem Gefolge als Gewerkschaftsboss befanden sich Kapitäne, die von der Linie auf den Tramp wechseln wollten. Die musste er positionieren, wenn er nicht an Achtung verlieren wollte. Blocker suchte nach Totschlagargumenten: „Bennon ist zweifellos ein Top-Seemann – aber als Frachtmanager?“

Bellman schaute Robert fragend an.

„Das Frachtmanagement hat Bennon in den letzten zwei Jahren unter meiner Betreuung weitgehend selbstständig gemacht. Schauen Sie sich die Frachtraten und die Margen dieser Zeit an und Sie müssen anerkennen, dass Sie in Bennon einen Mann haben, dem kein anderer das Wasser reichen kann!“, argumentierte Robert.

Bedächtig zündete Bellman erneut seine Zigarre an. „Wir machen es so Mr. Blocker, Bennan wird Kapitän und aus Ihrer Riege rückt jemand auf einen Offiziersposten. Vielen Dank meine Herren!“

Robert erhob sich: „Eine Frage: Heute ist der 29. April, morgen will ich mit Beginn der dritten Tageswache das Kommando an Bennon übergeben, ist das o. k.?“

Bellman nickte: „O. k!“

Robert verließ das Direktorbüro. Auf der gegenüberliegenden Seite des Vorraumes schaute er durch eine riesige Glaswand nach Westen auf die Stadt Hull. Das Hafengelände, der East-Channel, St. Andrew Cathedral, der Rundbau des Story-Ville, die weiße Abbruchkante des „Hull Karstplateau“: Alles erstrahlte im von Südwesten einfallenden Sonnenlicht. Robert empfand ein heftiges Glücksgefühl: „Meine Stadt!“ An Bonelli gewandt fragte er nach der Personalabteilung. Bonelli beobachtete ihn aufmerksam. Sie wollte aus seinen Gesichtszügen lesen, wie das Gespräch im Direktionszimmer verlaufen sein mochte. Robert hatte jedoch sein Pokerface aufgesetzt: ruhiger Blick, alle Gesichtsmuskeln entspannt. Enttäuscht flötete Bonelli: „drittes Obergeschoß.“

Bei BCS wussten alle, dass Finnly geschmissen hatte. Niemand konnte das verstehen, da Finnly in allen Jahren der Top-Tramper gewesen war. Außerdem, war er mit 45 Jahren nicht zu jung, eine solche Karriere einfach zu beenden?

Im dritten Obergeschoß traf er nach einigem Herumfragen die Personalchefin Liz Looberg und bat sie, die Auflösung seines Dienstleistungsvertrages mit BCS und die Tantiemenabrechnung an die Adresse:

„Hull-Island, Westchapel, Boganson-Cottage“

zu senden.

Looberg nickte bestätigend, lächelte und wünschte ihm Glück und Gesundheit. Dankbar nahm Robert zur Kenntnis, dass die Wünsche der erfahrenen Kollegin ehrlich gemeint wirkten.

Die Beluga 3 lag an Pier 6, ca. fünfhundert Meter von der Bellman-Reederei entfernt. Robert entschloss sich, durch die Hafenanlagen zu Fuß zu seinem Schiff zurückzugehen. Gegen 16.30 Uhr traf er George Bennon in der Schiffsmesse. Er bat George in seine Kapitänsunterkunft und berichtete vom Verlauf des Gesprächs mit Bellman und Blocker. George wirkte erleichtert und bedankte sich knapp, aber herzlich, bei seinem Kapitän.

Robert ließ die anwesende Mannschaft in die Messe beordern. Er teilte die neueste Entwicklung mit, bedankte sich bei allen und kündigte an, dass morgen, am 30. April, mit Beginn der dritten Tagwache, das Kommando an den neuen Kapitän, George Bennon, übergeben werde, und er dann das Schiff verlasse.

Der Maat (Vorarbeiter der Mannschaft) bedankte sich im Namen der Mannschaft. Er fand einige kernige Worte der Anerkennung für Kapitän Finnly und stellte unter fröhlichem Gejohle der Kameraden die Frage: „Kapitän Finnly, ist eine Abschiedsparty vorgesehen?“

Robert antwortete: „Männer, feiert nicht den Abschied von mir, sondern den Neuanfang mit Käpten Bennon. Ich übertrage euch hiermit das Kommando über die Gestaltung der Feierlichkeiten des Kommandowechsels und sponsere das mit 600 Dollar!“ Anerkennendes Gegröle! Jetzt war es 18.00 Uhr. Es entstand heftige Betriebsamkeit und zwei Stunden später glänzte die Beluga 3 festlich erleuchtet und geschmückt. Die Entwicklung dieser Festlichkeit machte schnell die Runde und nahm noch nie in Hull gesehene Dimensionen an. Die Seeleute der umliegenden Schiffe strömten in Richtung Liegeplatz der Beluga 3, brachten Getränke und Speisen mit, ein riesiger Grill wurde auf der Pier angefeuert, auf dem wie aus dem Nichts zwei Lämmer bräunten. In Windeseile sprach sich das Ereignis auch in der Stadt herum und gegen 22.00 Uhr erschienen etliche Liebesdienerinnen aus der Stadt auf dem Festgelände. Bereits um 19.00 Uhr telefonierte Robert mit der Polizei in Hull und kündigte ein Spektakel an, das nicht mehr abzuwenden sei. Er bat die Verantwortlichen, das Ereignis wohlwollend zu beobachten und zu beschützen.

Gegen 23.00 Uhr brüllte der Beluga-Maat durch ein Mikro, dass jetzt die Bordband der Beluga-Musik zum Tanz spiele, da inzwischen die schönsten Frauen der Stadt anwesend seien.

Die B3 lag mit der Steuerbordseite an der Pier. Hinter dem niedrigen Schanzkleid, etwa in der Mitte des Schiffes, hatten die B3-Männer Musikverstärker aufgebaut und Instrumente platziert.

Der Maat drängte Robert, seine Bassgitarre einzustöpseln und mitzuspielen.

Darauf hin bat Robert George Bennon, das Ganze im Auge zu behalten, und nahm in der zusammengestoppelten Musikformation Platz mit seiner Bassgitarre. Mit Drums, Bass, Gitarre, Banjo, Akkordeon präsentierten die Männer das, was sie in etlichen Freiwachen auf See einstudiert hatten. Die Stimmung stieg, die Getränke gingen zur Neige. George Bennon sprach den Polizeisergeant an und bat um Hilfe. Die Polizei solle bitte Getränke in der Stadt holen und cash bezahlen. Er drückte dem Sergeant 200 Dollar und eine Bestellliste in die Hand.

Der Sergeant wusste nicht, wie ihm geschah: „Wieso wir, die Polizei?“

Bennon argumentierte: „Meine Leute haben keine Fahrzeuge und dürften auch nicht mehr fahren. Ihr wisst, wo man Getränke kaufen kann. Euch überlassen die Händler gegen Cash auch um diese Zeit noch Getränke, weil ihr es als,notwendig‘ erklärt!“ Der Sergeant nickte, ergriff Dollars und Warenzettel, gab Befehle und fünfunddreißig Minuten später war der Nachschub unter riesigem Beifall an der B3.

Robert fand die Idee genial, bei seinen Hobbymusikern mitzuspielen, er wurde nicht weiter zum Alkoholgenuss genötigt und es bestand für ihn die Aussicht, seinen ersten Tag in „Freiheit“ mit einem klaren Kopf zu beginnen. Gegen 4.00 Uhr kroch er weitgehend nüchtern in seine Koje.

2.

Um 9.00 Uhr am folgenden Tag, dem 30.04, tätigte Robert mit seinem Smartphone einige Telefonate:

Mit Barnie O’Brian, dem Hafenmeister in Westchapel-Harbour, klärte er seine Abholung per Boot gegen 13.00 Uhr.

Conchita Hernandez erreichte er nach etlichen Versuchen zu Hause bei ihrer Tochter Mercedes in Westchapel. Die alte Dame war lange Jahre Haushälterin im Boganson Cottage und seine Ersatzmutter gewesen und jetzt fragte Robert, ob sie das Haus heute noch provisorisch bewohnbar machen könne? Sie fiel aus allen Wolken angesichts dieser Entwicklung, freute sich gleichzeitig über das Wunder der „Rückkehr eines verlorenen Sohnes“!

Ja, sie werde das gemeinsam mit ihrer Tochter hinbekommen!

Seiner Cousine Susan van Daelen, Geschäftsführerin der „DF Shipyard, Hull“ (van Daelen&Finnly Werft, Hull), verkündete er die Rückkehr und das Ende seiner großen Seefahrt. Susan war so überrascht, dass sie zunächst nichts sagen konnte. Die Stimmung zwischen den beiden Finnlys war nie die beste gewesen.

Schließlich sagte Susan in anklagendem Ton: „Du weißt, dass Grandpa und Grandma nicht mehr da sind!“

Ja, Robert wusste es. An den Beerdigungstagen war er mit der B3 auf hoher See gewesen und hatte nicht anwesend sein können, hatte das seinen Verwandten aber nicht mitgeteilt.

Susan weiter: „Am 10. Mai findet in unserem Kontor die Testamentseröffnung statt. Da du in Hull bist, wirst du eine schriftliche Einladung erhalten. Wo wirst du wohnen?“

„Im Boganson-Cottage!“, erklärte Robert.

Susan merkte an: „es wäre sinnvoll, wenn wir uns vorher sehen und uns abstimmen könnten!“

„Ja, das sollten wir machen. Ich werde mich in den nächsten Tagen melden!“, versprach Robert.

13.20 Uhr erschien Big Boulder, Fischer aus Westchapel mit einem Hafen-Dinghy. Während Big Roberts persönliche Sachen, die schon auf der Pier standen, in das Dinghy lud, verabschiedete Robert sich von jedem Crewmitglied per Handschlag. Er schaute in müde, traurige Augen, es wurde nichts mehr gesprochen. Dann fuhr Big das Dinghy aus dem Hafen hinein in den St. Andrew Golf, bog ab nach Westen, Richtung Westchapel.

Die Fahrt dauerte eine gute Stunde. Big, knapp zwei Meter groß und 110 Kilogramm schwer, war ein Freund aus Roberts Jugendzeit.

Er schaute Robert an, grinste wie ein Honigkuchenpferd, fragte: „Hast du Scheiße gebaut?“

„Nein, ich habe keinen Bock mehr auf dicke Hochseeschiffe und das langweilige Herumfahren zwischen immer denselben Häfen!“, erklärte Robert.

„Aha, und was machst du jetzt?“

„Weiß noch nicht.“

„Bleibst du in Chapel?“

„Vorerst ja.“

Sie bogen nach Süden in die Bucht von Westchapel und passierten die Hafeneinfahrt. Robert genoss das Bild seiner Heimat aus Kindertagen:

Die fast halbrunde Pier, belegt mit Fischerkuttern und einigen Dinghys.

Voraus, die „Chapel“ stand etwas erhöht, mit fünf aufwärts gehenden Treppenstufen.

Rechts davon, das historische Rathaus von Westchapel.

Links davon, das „Chapel-Inn“, der einzige Pub in Westchapel.

Auf der rechten, westlichen Seite der Hafenbucht der Fähranleger, dahinter der Store von Raffaela Conte, weiter rechts die kleine Reparaturwerft, ein Genossenschaftsbetrieb der Fischer, oben auf dem Inselkopf, 185 Meter über dem Meeresspiegel, der Leuchtturm „Hull West Fire“.

Auf der linken, östlichen Seite der Hafenbucht: das erste Haus, direkt am St. Andrew Golf, das „Boganson-Cottage“.

Weiter im Halbrund Richtung Pub, Cottages mit Bootsliegeplätzen vor den Häusern.

Zwischen dem Bogen der Pier und den Häuserlinien ein geräumiger Platz, gepflastert mit Natursteinen, darauf zwei Reihen mit mächtigen Platanen.

Das Dinghy schwenkte nach links zum Anleger vor Boganson-Cottage. Der Bootsschuppen rechts neben dem Haus stand offen. Robert nahm dort den Schiebekarren heraus und darauf luden sie sein Gepäck. Robert verabschiedete Big, bedankte sich und schob den Karren zum Haus.

Conchita kam Robert entgegen, als er zum Hauseingang ging. Sie umarmte, umklammerte ihn unterhalb seiner Arme, legte ihr Gesicht an seine Schulter und weinte. Robert bekam weiche Knie. Seit er sich erinnern konnte war Conchita seine Ersatzmutter gewesen, bis zu seinem zwölften Lebensjahr.

Seine Mutter, Liv Boganson, und sein Vater, Harald Finnly, bereisten mit einer einfachen Segeljacht die Welt, waren selten und dann nur für kurze Zeit zu Hause und als ihr Sohn Robert fünf Jahre alt war, kehrten sie nicht mehr zurück, galten seitdem als vermisst.

Seine Grandma, Hella Boganson, starb früh an Krebs, bevor Robert geboren war.

Sein Grandpa, Knuth Boganson, arbeitete selbstständig als Warentransporteur für Anlieferungen zu den Empfängerdressen in Hull-City und Hull-County mit Boot und auch mit Lieferwagen. Er war wenig zu Hause. Conchita Hernandez, eine Nachbarin mit drei eigenen Kindern, führte als Boganson-Haushälterin und Ersatzmutter für Robert den Haushalt.

Mercedes, Conchitas verheiratete Tochter, trat im Hausflur den beiden entgegen und bedeutete Robert mit Gesten, er möge Nachsicht mit ihrer Mutter haben. Die beiden lächelten, verstanden sich. Robert und Mercedes führten Conchita zurück ins Haus und beruhigten sie.

 

Mercedes erklärte: „Wir haben in den Räumen die Staubschutztücher entfernt, dein Bett ist frisch bezogen. Die Badezimmer unten und oben sind vorbereitet, Wasser, Strom und Gas sind eingeschaltet. Den Kühlschrank in der Küche haben wir nach deinem Anruf eingeschaltet und bestückt. Jetzt lassen wir dich alleine, damit du in Ruhe ankommen kannst. Wenn du etwas benötigst, gib uns Bescheid!“

„Und noch etwas, morgen, am Feiertag, laden wir dich zu uns zum Mittagessen ein, so gegen 13.00 Uhr. Ist das o. k.?“

Robert bedankte sich herzlich, küsste beide Frauen auf die Wangen: „Ja, ich werde gerne zu euch kommen!“

Inzwischen war es früher Abend. Robert empfand eine schwere Müdigkeit. Er besichtigte alle Räume des Boganson-Hauses. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit empfand er beim Anblick des gepflegten Zustandes. In den langen Jahren seiner Abwesenheit hatte die Familie Hernandez ohne seinen konkreten Auftrag das Anwesen betreut. Es beschlich ihn ein Schamgefühl.

Auf der Beluga 3 hatte Robert morgens im Kreise seiner Offiziere gefrühstückt und seit dem nichts gegessen. Dennoch empfand er keinen Hunger und beschloss zu schlafen.

Durch die Lamellen der geschlossenen Fensterläden im Obergeschoß, in seinem Schlafzimmer, drang diffuses Tageslicht. Auf dem Bett lag ein frischer, gefalteter Schlafanzug. Robert legte seine Kleider sorgfältig ab und betrat das Badezimmer. Er ließ kaltes Wasser aus dem Hahn in das Becken laufen und trank ein paar Schlucke davon aus der Hand. Dann legte er sich in sein Bett und schlief augenblicklich ein.

3.

Ein Geräusch weckte ihn im Zustand der Orientierungslosigkeit. Als er sich dessen bewusst war, dass er nicht auf einem Schiff schlief, schaute er auf die Uhr. Es war 0.15 Uhr am Morgen des 1. Mai.

Er öffnete einen Fensterladen und hielt Ausschau in die mondhelle Nacht. Aus dem Pub, dem Chapel-Inn, erklang Musik …, ja, es war die Feiernacht zum 1. Mai mit Musik und Tanz in den Pubs.

Robert vernahm moderne Popmusik! Traditionell spielte man in Hull-County zu solchen Festen folkloristische Musik mit Gitarre, Fiddel, Flöten und Bodhrán (Armtrommel). Robert schloss den Fensterladen und setzte seinen Schlaf fort.

Erfrischt erwachte er im frühen Morgen, pflegte sich und schaute in den Kühlschrank. Es gab einen gemischten Calamarisalat, Brot, Oliven, Ziegenkäse, Butter und einige Flaschen Bier, nämlich das „Luna“ aus der City-Brauerei. Der Calamarisalat mochte wohl für den Abend gedacht sein, aber Robert aß ihn genüsslich mit Brot und schwarzem Tee zum Frühstück.

In den frühen Morgenstunden hatte Nieselregen eingesetzt. Der 1. Mai begann trübe, mit Temperaturen um 20 °C. Robert checkte E-Mails, es gab nichts Neues.

Er freute sich auf den Besuch der Familie Hernandez. Sicher gab es aktuelle Informationen zu Westchapel und zum Hull-County. Aus dem Bootsschuppen, in dem er zu seiner Überraschung den alten Citroën HY Lieferwagen (das berühmte Wellblechauto aus den 60er- und 70er-Jahren) seines Grandpa fand, holte er seine von der Beluga mitgebrachte Ausrüstung, brachte sie ins Haus und ordnete alles sorgfältig ein. Als Kleidung für den heutigen Tag wählte er einen dunkelgrauen Leinenanzug, ein hellblaues Hemd und leichte, braune Lederhalbschuhe. Äußerlich wollte Robert nicht weiterhin eine Kapitänsfigur abgeben.

Um die Mittagszeit ging er hinüber zum Cottage der Familie Hernandez. Wahrscheinlich erwarteten sie ihn schon in gespannter Neugier. Kaum hatte Robert den Türklopfer betätigt, öffnete sich spontan die Haustüre. Ein etwa zehn Jahre alter Junge lächelte ihn an und sagte: „Hi, ich bin Jaime! Bist du der Kapitän Finnly?“

Robert nickte und sagte: „Hi Jaime, ja, ich bin Robert Finnly. Du bist wohl ein Sohn von Mercedes?“

„Ja, und von meinem Vater Jorge! Wir heißen „Martinez“!“

Mercedes trat in die Diele, begrüßte Robert und bat ihn in den Wohnraum. Die gesamte Familie war versammelt: Grandma Conchita, Jorge Martinez, Vater von Jaime und Maria, der jüngeren Schwester von Jaime und Mutter Mercedes. Robert setzte sich zu ihnen an den Tisch und nahm den angebotenen Kaffee.

Zu Robert gewandt fragte Jaime: „Hier sagen sie, dass du ein Trampkapitän bist. Was ist ein Trampkapitän?“

„Das will ich dir gerne erklären, Jaime, aber seit heute bin ich nicht mehr Kapitän, und ich bitte euch, mich Robert zu nennen!“

„Also Jaime, es gibt etwas vereinfacht gesagt, zwei Typen von Frachtschiffen, z. B. solche, die immer dieselbe Route fahren, die fast immer spezialisiert sind für den Transport einer Ware, z. B. nur Container oder nur Autos oder nur Erdöl oder nur Getreide … Diese Schiffe haben keine eigenen Ladevorrichtungen. Sie werden von der Pier aus be- und entladen. Diesen Schiffstyp, zu dem auch Fähren gehören, nennt man Linienschiffe.

Dann gibt es Schiffe, die von Hafen zu Hafen fahren und dort Ladung verschiedenster Art aufnehmen und auch abladen. Sie haben eigene Ladevorrichtungen an Bord, meist Turmdrehkräne auf der Backbordseite. Die Schiffe werden als Trampschiffe bezeichnet. Eine Besonderheit ist es, wenn der Kapitän gemeinsam mit seinem Lademeister von See aus klärt, wo welche Ladung für welchen Hafen aufgenommen werden soll oder kann. Der Kapitän klärt das direkt mit den Hafenspeditionen. Durch diese Methode kann eine bestmögliche Laderaumauslastung erreicht werden. Auch gibt es bessere Preise für das Transportieren kleiner Frachtgutmengen. Solche Kapitäne sind richtige Trampkapitäne. Sie heißen offiziell nicht so, aber die Bezeichnung Trampkapitän hat sich eingebürgert!“

Jaime rief: „Oh Dad, so ein Kapitän möchte ich auch werden!“

Jorge erwiderte grinsend: „Mein lieber Sohn, dann musst du in der Schule mehr Gas geben!“

In der Zwischenzeit wurde das Essen aufgetragen. Es gab gedünstetes Lammfleisch in einer Knoblauchsauce, grüne Bohnen und Süßkartoffeln, ein Festessen, das anlässlich des Feiertages mittags eingenommen wurde. Als Dessert gab es hauchdünne Tortillas, darin eingewickelt selbst gemachtes Vanilleeis, mit einem Klecks süßer Schlagsahne. Jaime berichtete stolz, dass seine Grandma diese Süßspeise mache.

Draußen nieselte es aus dichtem Nebel, drinnen bei Martinez war es richtig gemütlich. Der Kaminofen, mit Holz befeuert, gab eine wohlige Strahlungswärme ab. Zum Abschluss gab es Espresso und für die Erwachsenen dazu einen Tequila.

Robert erkundigte sich nach den beruflichen Tätigkeiten der Martinez-Eltern.

Jorge arbeitete im Hafen von Hull-City auf einem Portalkran. Um dort hinzugelangen, fuhr er täglich mit der Fähre „Hull-West“ von Westchapel nach Westcorner und von dort mit einem Wasserbus in den Hafen zu seinem Arbeitsplatz. So machten es einige Frauen und Männer aus Westchapel.

Mercedes arbeitete als Verkaufsleiterin im Store als rechte Hand der Eigentümerin Raffaela Conte.

In Westchapel gab es zwar eine Kindertagesstätte, aber keine Schule. Die Kinder benutzten deshalb, wie früher auch Robert, die Fähre auf dem Weg zu den Schulen in Hull-City.

Robert berichtete von seinem Leben als Schiffskonstrukteur in der „van Daelen & Finnly Schiffswerft“ und als Kapitän. Dabei vermied er es, die Umstände dieser Entwicklungen zu berichten. Die Frage nach seinen Zukunftsplänen konnte er nicht schlüssig beantworten und darüber wunderte sich die Hernandez/Martinez-Familie. Er versprach, die Familie über seinen weiteren Werdegang zu informieren.

Conchita fragte er: „Bist du bereit, und auch in der körperlichen Verfassung, mir den Haushalt zu führen? Das betrifft die Reinigung der von mir benutzten Räume und meine Wäsche, jedoch keinen Einkauf und keine Zubereitung von Essen.“

Conchita blitzte ihn erfreut an: „Ja, Robert, das mache ich gerne. Ich freue mich!“

Zu Jorge gewandt sagte Robert: „Ich will eurer Mutter 400 Dollar im Monat zahlen. Ist das o. k.?“

Jorge wusste, dass seine Schwiegermutter dies ablehnen würde. Er war aber der Meinung, dass Roberts Vorschlag richtig war.

Ohne Zögern sagte er: „Ja, Robert, das ist o. k.!“

Robert bedankte sich für den schönen Tag bei der Familie und verabschiedete sich.