Hull Storys

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4.

Durch den Nieselregen ging Robert schnell zurück in sein Cottage. Er musste sich mit seiner Zukunft beschäftigen, er benötigte ein Konzept. Zu kommenden Ereignissen musste er Positionen beziehen und Entscheidungen treffen können.

Robert setzte sich an den Wohnraumtisch. Zunächst hielt er fest, was er in Zukunft vermeiden wollte:

 keine Tätigkeit als fest angestellter Mitarbeiter

 keine Dauertätigkeiten in geschlossenen Räumen

 keine große Seefahrt

 keine Bindung an eine Frau durch Heirat

Dann notierte er Optionen für seine Zukunft:

 auf Honorarbasis als Bassist in Pubs und Varietés arbeiten

 als Hafenkapitän in Hull-City und Hull-County in Gelegenheits- oder Teilzeitform arbeiten

 Die Beziehung zu einer bürgerlichen Frau suchen

Robert war sich darüber im Klaren, dass die Erbfrage in der Finnly-Familie einen Einfluss auf ihn haben würde. Seinen verstorbenen Grandpa Jonathan Finnly schätzte er so ein, dass der in seinem Testament Roberts Erbe an dem beträchtlichen Familienvermögen mit Auflagen verband. Zum Beispiel: „Mitarbeit in der DF-Werft“. Das würde wahrscheinlich bedeuten:

 Feste Mitarbeit in der DF-Werft

 Tätigkeit in Büros und Konstruktionsräumen

 Repräsentationstätigkeit in der Firmenleitung

Dagegen sprach, dass er 18 Jahre nicht mehr konstruiert hatte und sich aufwändig einarbeiten müsste. Seine Cousine Susan und deren Mann Dick würden nicht begeistert sein, denn die Positionen, die Robert einnehmen könnte, z. B. in der Konstruktion, waren mit Sicherheit hochwertig besetzt.

Nein, er wollte ein einfaches, bescheidenes Leben führen. An einer Vermögensanhäufung war er nicht interessiert. In den Jahren als Trampkapitän hatte er viel Geld gemacht und wenig Gelegenheit gehabt, Geld auszugeben. Eine knappe Million Dollar waren angelegt in Schiffs- und Hafenbeteiligungen. Die Rendite, so der Stand gegenwärtig, reichte für einen einfachen Lebensstil.

Das Boganson-Cottage gehörte ihm und war nicht belastet. Es lag allerdings auf einer Insel, isoliert von städtischem Leben. Gut, wenn er ein eigenes Dinghy besäße, ließe sich damit das Problem der Isolierung mindern. Boganson-Cottage mit seiner traumhaft schönen Lage konnte ein liebenswerter Platz zum Leben sein. Zu den mit ihm etwa gleichaltrigen Menschen in Westchapel bestanden noch Kontakte, die sich vielleicht wieder beleben ließen. Robert zog in Erwägung, das Finnly-Erbe einfach abzulehnen. Das würde allerdings bedeuten, dass er niemals den Inhalt des Testamentes seines Grandpa erfahren würde. War das von Bedeutung?

5.

Der folgende Tag begann mit strahlend sonnigem Wetter. Von Südosten fiel das Sonnenlicht flach auf den St. Andrew Sund und Lichtreflexe blitzten auf den Wasseroberflächen.

Von der Terrasse an der westlichen Giebelseite des Boganson-Cottage sah man links den 500-Seelen-Ort Westchapel, darüber auf dem Inselkopf den Leuchtturm. Über dem Ort, weiter links. wurde die Sicht nach Süden durch einen sanft geschwungenen Hügelrücken, mit der Bezeichnung „Windegde“ (Windkante), begrenzt. Im Westen leuchtete im Morgenlicht durch den sich auflösenden Dunst das weiße Juragestein der etwa acht Kilometer entfernten Westhighlands, davor die Westbay. Rechter Hand nördlich lag der Sund, hier an seiner engsten Stelle mit einer Breite von etwa 1000 m, an der die Fähre zwischen Westchapel und Westcorner in Hull-City verkehrte. Die Stadt am gegenüberliegenden Sundufer bildete im Dunst schemenhaft eine Linie.

Heute beabsichtigte Robert einige Einrichtungen und ihm noch bekannte Personen zu besuchen. Als Erstes den Store, in dem sich auch ein Büro der „Hull-City & Hull-County-Bank“ (HCB) und ein Postoffice befanden. Auf dem Weg zum Store erreichte Robert das Bürogebäude des Hafenmeisters, Barny O’Brian, das auch den Land-Stützpunkt der Fähre beherbergte.

Robert wollte Barny danken für seine Abholung am Pier 6 in Hull-Harbour. Im Büro traf er Barny und den Kapitän der Fähre, Donald McCancie. Die beiden saßen gemütlich bei einem Plausch.

Robert begrüßte sie: „Hi Barny, hi Don!“

Grinsend stellte er die Frage in den Raum: „Du hier, Don? Geht die Fähre alleine, ohne Kapitän?“

Barny und Don grinsten: „Seit vorigem Jahr haben wir einen zweiten Kapitän. Es ist Lena Malinowski, die kennst du nicht. Vor etwa acht Jahren ist sie hier bei uns „angeschwemmt“ worden!“, sagte Don lachend.

„Hm, gratuliere, dann hast du es jetzt ja ganz gut mit einer Vertretung, Don. Und was gibt es sonst Neues?“

„Unsere Fähre hat eine neue Maschine und eine Ruderanlage mit Stick-Steuerung bekommen!“, berichtete Don stolz.

„Wow, woher habt ihr denn die Kohle, um das zu finanzieren?“

Barny holte genüsslich aus: „Das ist eine Superstory, Rob! Hull-City wollte die Fähre nicht weiterfinanzieren. Hull-County ist, wie du vielleicht weißt, ewig klamm. Raffaela Conte, die Store-Chefin, sitzt seit vier Jahren im County Council. Da hat sie einen cleveren Deal eingefädelt. Es wurde ein Fährverein gegründet, der beide Fähren, Hull-West und Hull-East, für je einen Dollar kaufte. Das Fährpersonal ging über in den Fährverein und wird vom Verein bezahlt. Dann drückte Raff in beiden Councils durch, die Fähren zur zollfreien Zone zu erklären, und jetzt konnten während der Fahrt steuerfrei Tabak und Spirituosen verkauft werden. Seitdem ist der Fährverein ein gesundes Unternehmen. Mit dem steuerfreien Verkauf auf den Fähren begann auch ein leichter Tourismus nach Hull-Island.“

Robert staunte: „Raffaela scheint eine Kanone zu sein! Ich gehe jetzt rüber zu ihr, um sie persönlich kennen zu lernen.“

Die beiden nickten.

Robert betrat den Store. Die Verkaufsleiterin, Mercedes Martinez, begrüßte ihn freundlich so, als sei er ein Familienmitglied.

„Ist die Chefin im Hause und kann ich sie sprechen?“, fragte Robert.

„Ja, sie ist oben im Büro. Ich melde dich bei ihr an!“

Robert war Raffaela Conte ab und zu begegnet in der Zeit, als er in der Werft seines Grandpa Jonathan arbeitete und seinen Grandpa Knuth Boganson in Westchapel besuchte. Jetzt. Nach so langer Zeit, hatte er kein Bild mehr von ihr.

Er betrat ihr Büro im Obergeschoß. Raffaela Conte, etwa Mitte fünfzig, ging ihm entgegen und reichte ihm lächelnd die Hand. Sie wirkte enorm präsent: kastanienbraunes, halblanges, dichtes Haar, große tiefbraune, weit auseinanderstehende Augen, energische Mundpartie, natürlicher dunkler Teint. Sie trug ein figurbetontes Jackenkostüm aus Tweed in sanften Erdtonfarben.

Raffaela begrüßte Robert mit angenehm klingender Altstimme. Er war von ihr beeindruckt.

Er stellte sich ihr vor als Robert Finnly, Enkelsohn des Knuth Boganson.

„Nach langer Abwesenheit bin ich zurück in Westchapel. Ich möchte mich Ihnen vorstellen zum gegenseitigen Kennenlernen!“, sagte Robert.

Raffaela lächelte erfreut und bat ihn, an einer kleinen Sitzgruppe Platz zu nehmen.

Sie setzte sich dazu: „Kaffee oder Tee?“, fragte sie und erwähnte, dass sie schon einiges über ihn erfahren habe.

„Erzählen Sie etwas über sich!“, bat sie. „Was haben Sie vor in Zukunft, können wir Sie in irgendeiner Form unterstützen?“

Robert lehnte dankend Getränke ab und sagte: „Mein Grandpa Jonathan Finnly ist vor einigen Monaten verstorben. In Kürze findet die Testamentseröffnung statt, bei der die Erbfolge des Finnly-Vermögens geregelt wird. Ich muss schauen, welche Konsequenzen das für mich hat!“

Raffaela Conte nickte verstehend.

Robert fuhr fort: „Ich besuche Sie auch, Madam, um etwas über die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung im County zu erfahren. Von Barny und Don hörte ich soeben einige spannende Neuigkeiten.“

Raffaela Conte lächelte: „Ja, in den letzten Jahren hat sich einiges getan. Wie Sie vielleicht schon gehört haben, arbeite ich im County Council als Abgeordnete und hier in Westchapel gibt es einen soliden Schulterschluss mit Joshua O’Bready, dem Bürgermeister und Reverend!“

„Wissen Sie, das gleichzeitig Angenehme, aber auch Problematische an der hiesigen Situation ist die isolierte Lage von City und County. Der Fischfang und die Fischverarbeitung sind hier aufgrund der globalisierten Wirtschaftsentwicklung nicht mehr bedeutend. Es liegt aber auch daran, dass City und County das südliche Küstengebiet von Hull-Island mit der Breite von zwölf Seemeilen zu einem Naturschutzgebiet erklärt haben, in dem das Fischen streng verboten ist. Ein reduzierter regionaler Fischfang ist aber für unsere eigene Fischversorgung nach wie vor unverzichtbar. Die noch aktiven Fischer in City und County konnten wir in einer Fischereigenossenschaft zusammenfassen mit dem erklärten Ziel der regionalen Fischversorgung!“

„Das trockene, warme Klima und der geringe Teil an landwirtschaftlich nutzbarer Fläche machen uns von Nahrungsmittelimporten abhängig. Das ist für uns gefährlich, wenn die Weltwirtschaft einmal ins Stottern gerät!“

„Das Positive an unserer geografischen Lage sind das milde Klima und die fantastische Inselwelt in einer weitgehend ursprünglichen Natur. Das bietet die Entwicklungsmöglichkeit eines sanften Tourismus. Die Menschen hier stehen dem allerdings noch mit Skepsis gegenüber!“

„Bei uns auf Hull-Island, so mein Eindruck, sind die Menschen weder arm noch reich, aber überwiegend zufrieden!“ „Seit Jahren versuche ich den Anteil an regional produzierten Nahrungsmitteln zu erhöhen. Das Ziel ist eine autarke Versorgung. Hull-Island hat das im County beste Klima zur Nahrungsmittelproduktion und es sind noch bedeutende Flächen frei zur landwirtschaftlichen Nutzung. Wir haben schon beachtliche Fortschritte gemacht. Es gibt hier einige Agrarbetriebe, die wir in einer Agrargenossenschaft vereinen konnten. Die in der Genossenschaft erzeugten Nahrungsmittel vertreiben wir in angeschlossenen Stores in City und County. Einen Lieferservice, der abgelegene Siedlungen und ältere Menschen versorgt, konnten wir mit ehrenamtlich tätigen Mitarbeitern ins Leben rufen!“

 

„Diese Art des Wirtschaftens bietet den Menschen Sicherheit, beschert ihnen jedoch keine Reichtümer. Trotzdem scheint das System hier im County eine gute Akzeptanz zu haben!“

Beeindruckt meinte Robert: „Diese Entwicklungen vermitteln mir ein gutes Gefühl, Mrs. Conte, ich danke Ihnen für die Informationen!“

Sie verabschiedeten sich.

Robert ging in das Büro der HCB und meldete offiziell seine Anwesenheit in Westchapel an. Seine Frage nach offenen Verbindlichkeiten gegenüber der Bank beantwortete der Bankangestellte: „Nach dem Tod Ihres Großvaters, Mister Boganson, haben Sie unsere Bank ermächtigt, alle die Boganson-Liegenschaft betreffenden Kosten von Ihrem Konto zu begleichen!“

Ah, Robert erinnerte sich nicht mehr an diese Vorgänge, bedankte sich, verließ das Bankoffice und betrat das in Nachbarschaft liegende Postoffice. Auch hier gab er seine offizielle Postadresse bekannt und bat darum, seine Post nicht weiterhin an die Postadresse der Finnly-Familie zu senden.

Es war Lunchzeit und Robert überlegte, im Chapel-Inn, bei Dora und Frank Conelly, etwas zu essen. Im Pub wurde er mit großem Hallo begrüßt. Robert schien es, als habe man auf ihn gewartet. Er wurde eingeladen, am Familientisch der Conellys Platz zu nehmen. Dora servierte ihm ein Fischgericht. Dora, das spürte Robert, platzte vor Neugier, etwas von ihm zu erfahren. In verkürzter Form berichtete er seine Geschichte vom Anfang und dem Ende seiner Laufbahn als Trampkapitän und Dora fragte: „Bist du verheiratet, hast du Familie?“

Lächelnd winkte er ab: „Nein, ich hatte keine Gelegenheit, eine Familie zu gründen, und auch jetzt kann ich mir nicht vorstellen, mich durch Heirat an eine Frau zu binden!“

Mit Schalk in den Augen meinte Dora: „Dann bist du ja Freiwild! Du must wissen, dass Männer wie du zu einer gefährdeten Art gehören!“

Alle brachen in Gelächter aus und Robert fragte zurück: „Gibt es denn hier in Chapel Frauen, vor denen ich mich in Acht nehmen sollte?“

„Soweit ich das überschaue, gibt es zurzeit hier keine Gefahr!“, antwortete Dora amüsiert.

Robert erinnerte sich daran, dass er in der Nacht zum 1. Mai im Chapel-Inn ungewöhnlich moderne Musik gehört hatte. Er sprach das Thema an.

Frank zog die Stirn kraus: „Inzwischen ist es kaum noch möglich, traditionelle Musiker zu finden. Unsere Jugend ist infiziert von dem allgegenwärtigen Weltpop!“

Dora wusste: „Ja, die Tochter von Raffaela, Claudia Conte, ist befreundet mit der Farmerstochter Jennifer O’Toole aus Eastchurch. Jenny ist Drummerin mit ziemlich viel Power, sie ist, so scheint es, der Chef einiger Jungs und Mädels, die mit ihr Musik machen!“

Robert fragte nach: „Und die Gruppe habe ich in der Mainacht gehört?“

Frank: „Ja, die haben gespielt und sind überraschend gut bei den Chapelern angekommen.“

Robert fragte weiter: „Wie sind sie denn besetzt? Ich würde sie gerne einmal live hören und sehen!“

„Wie gesagt, mit einer Drummerin, zwei E-Gitarren von Jungs gespielt. Ein schwarzes Mädel spielt Blasinstrumente und singt. Ein Keyboarder ist dabei, der etwas älter ist!“, erklärte Frank.

Dora merkte an: „Soweit ich weiß, spielen sie morgen am Samstag bei Beccy Balmore am Westcorner!“

Robert dachte: „Oh, das ist günstig! Ich kann mit der Fähre hin- und zurückfahren und ich treffe Beccy, mit der ich auf der Highschool war.“

Big Boulder und der Philosoph, Phil genannt, betraten den Pub. Phil mit einer Körpergröße von etwa eineinhalb Meter und einem Körpergewicht unter fünfzig Kilogramm wirkte auf groteske Art gnomenhaft neben dem Riesen.

Big dröhnte: „Wir haben unsere Schicht fertig und müssen auftanken, hahaha!“

Bei Frank bestellte er ein Pint Luna (etwas mehr als ein halber Liter) für sich und ein Halfpint für Phil. Big setzte das Pint an, trank es in einem Zug leer, rülpste und schielte auf Phils halbes Pint. Wie ein Vögelchen hatte Phil drei kleine Schlucke genommen und reichte sein halbes Pint an Big weiter. Der nahm es grinsend und goss es auch in einem Zug hinunter.

Jetzt, so fand Dora, war es Zeit, die beiden ein wenig anzuheizen!

„Phil“, sagte sie, „du hängst seit Monaten mit Big herum! Was machst du da eigentlich?“

Phil: „Ich lerne!“

Dora: „Wow, was lernst du denn?“

Phil mit ernstem Gesichtsausdruck: „Wie man falsch lebt!“

Big überrascht: „Hä?“

Phil: „Big, zum Beispiel, hat von allem zu viel. Das ist ein Problem für ihn!“

Big: „Zum Beispiel?“

Phil: „Big, du hast mindestens zwanzig Kilogramm Übergewicht. Das schleppst du die ganze Zeit mit dir rum. Das musst du ständig warmhalten und pflegen!“

Big: „Du redest Scheiße. Wenn ich mal eine ganze Zeit nichts zwischen die Kiemen kriege, habe ich Reserven, hahaha! Dabei knallte er beide Handflächen auf seinen gewölbten Bauch. Wenn du mal einen Tag, nur einen Tag, nichts zu futtern kriegst, Phil, geht dein Lichtlein aus wie eine vom Wind ausgeblasene Kerze!“

Phil hielt dagegen: „Ich bekomme jeden Tag etwas zu essen. Ich brauche keine Reserven. Mir reicht zum Beispiel ein Stück Fisch in Daumengröße zum Leben!“

Big: „Und, wie stellst du das an, jeden Tag, du Däumling, hahaha?“

Phil: „Ein Stückchen Fisch erhalte ich an jeder Haustüre!“

Big: „Und, wie lange soll das funktionieren?“

Phil: „Das funktioniert immer, denn ich gebe den Menschen etwas zurück!“

Big: „Das wäre?“

Phil: „Das Gefühl, dass ich ihnen dankbar bin, dass ich ehrlich bin, dass ich sie achte. Ich bin ein reicher Mensch im „Sein“. Im „Haben“ bin ich dafür ein armer Mensch!“

Big dröhnte: „Zum Donnerwetter, jetzt höre sich einer dieses Gefasel an. Das ist typisch der Philosoph, den versteht kein Schwein!“

Phil: „Eben!“

Diese letzte feine Spitze hatte Big nicht verstanden.

Big: „Was soll der ganze Scheiß? Komm, Phil, wir hauen uns ein Stündchen hin!“

Beide verabschiedeten sich.

Robert schaute Frank fragend an. Dora bog sich vor Lachen.

Frank informierte: „Big ist hier der einzige Fischer, der nicht der Genossenschaft beigetreten ist. Er wollte frei bleiben, wie er sagte. Phil fand das gut und schloss sich als zweiter Mann auf dem Kutter an!“

Robert meinte: „Aber Phil kann doch kaum mehr als zwanzig Kilogramm in jeder Hand heben?“

Frank: „Ja, das stimmt, aber Phil ist ein Fuchs im Aufspüren von Edelfischen, die die beiden übrigens an Langleinen fangen!“

Robert: „Und was machen die mit ihrem Fang?“

„Sie verkaufen den Fang täglich hier im Ort vom Kutter aus, immer so gegen elf Uhr!“

„Was sagt der Bürgermeister dazu?“, fragte Robert.

„Josh und Raff schauen freundlich weg!“, meinte Frank.

Robert bedankte sich bei Dora und Frank und ging nach Hause in sein Boganson-Cottage.

6.

Später, gegen Abend, rief er wie versprochen seine Cousine Susan an.

Susan, kurz angebunden: „Die Testamentseröffnung findet nächste Woche, am 10. Mai, in unserem Kontor statt! Ich rate dir dringend vorab zu einem Abstimmungsgespräch!“

„Ja, Susan, ich sagte dir doch bereits, dass ich ein Vorabgespräch richtig finde. Bitte mach einen Terminvorschlag!“

Susan: „Am kommenden Montag, den 5. Mai, 15.00 Uhr, bei uns!“

Robert: „O. k., ich werde da sein!“

Der Tag endete mit angenehmer Temperatur. Rötlich leuchtendes Abendlicht erzeugte eine feierliche Atmosphäre auf dem Sund.

Robert dachte: „Ich möchte einmal im Sund schwimmen, wie in meiner Kindheit. Das würde sich wie ein wenig „Nach-Hause-Kommen“ anfühlen!“

In Badeshorts und mit Badetuch ging er in den verwilderten Garten an der Ostseite des Hauses zu der Badestelle, an der sein Grandpa Knuth ihm das Schwimmen beibrachte. Er war vier oder fünf Jahre alt gewesen. Es befand sich dort noch ein Fleckchen Gras. Er legte das Badetuch aus, setzte sich und schaute. Gegenüber sah er die Sund-Promenade von Hull-City. Einzelheiten konnte er wegen der Entfernung von etwa tausend Metern ohne Fernglas nicht ausmachen. Die Abbruchkante des Karstplateaus über der Stadt leuchtete in rosa Farbtönen. Küstenschiffe fuhren in der stadtnahen Fahrrinne von West nach Ost und umgekehrt. Bei schwachem Südwestwind vernahm Robert das leise Wummern der Schiffsmotoren. Möwen gab es zur Abendstunde keine am Sund. Die Fischer hatten ihr Tagewerk beendet.

Vorsichtig ließ er sich in das Wasser gleiten. Es roch frisch, schmeckte salzig und war wärmer als vermutet. Er schwamm etwas in den Sund hinaus, eine Strömung war kaum spürbar. Ein Glücksgefühl ließ Robert genüsslich erschauern.

Am folgenden Tag, Samstag, erschien gegen 10.00 Uhr Conchita und begann mit der Hausarbeit im Boganson-Cottage. Robert fühlte, dass er hier jetzt nicht richtig am Platz war und ging hinüber zum Bürgermeisterhaus.

Josh O’Bready telefonierte in seinem Büro. Mit freundlicher Miene winkte er Robert einzutreten.

Josh, Mitte sechzig, war ein alter Bekannter. Er war von stämmiger Statur, trug dichtes schwarzes, etwas grausträhniges Haar. Er war verheiratet, hatte mit seiner Frau drei jetzt erwachsene Kinder, wahrscheinlich auch Enkelkinder.

Mit sonorer Stimme begrüßte er Robert: „Hi, du alter Tramper! Haben wir dich endlich wieder zu Hause?“

Robert grinste: „Vorläufig ja!“

„Wieso vorläufig?“

„Nächste Woche ist bei Finnlys Testamentseröffnung, ich muss sehen, was sich ergibt!“

„Hast du noch keinen Plan?“

„Weißt du, Josh, meine Wurzeln habe ich hier in Chapel. Ich gehöre hier hin, ich will hierhin zurückkommen! Mein Gefühl sagt: „Wenn ich das Finnly-Erbe annehme, werde ich wahrscheinlich wieder in die unternehmerische Mühle der Finnlys geraten. Die Finnly-Werft ist ein Segen für unser County, zweifellos! Aber ich muss etwas anderes machen. Zurzeit weiß ich nicht, was, also lasse ich die Dinge auf mich zukommen! Ich überlege ernsthaft, das Erbe nicht anzunehmen. Am kommenden Montag spreche ich mit meiner Cousine vorab darüber!“

Josh nickte verstehend: „Wir kennen uns schon lange Robert. Ja, ich glaube, dass es für dich so richtig ist!“

Robert nickte mit dankbarer Geste.

Er fragte: „Warum hast du die Doppelfunktion Reverend und Bürgermeister, Josh?“

„Du weißt, ich bin gelernter Geistlicher. Aber hier in unserer kleinen Kommune konnten sie weder einen Reverend noch einen Bürgermeister bezahlen. Raffaela, die vor, ich glaube, 17 oder 18 Jahren zu uns kam, machte auf einer öffentlichen Gemeindeversammlung den Vorschlag, beide Ämter in die Hand einer Person zu geben. Den Vorschlag, die Ämter mir zu geben, brauchte sie nicht zu machen, der kam spontan aus der Versammlung!“

Robert meinte: „Raffaela Conte scheint eine dominante Person zu sein. Weißt du, woher sie kam und warum?“

„Sie kam mit zwei Kindern, ohne Mann. Offenbar verfügte sie über ein gut gefülltes Konto! Ich würde sie nicht dominant, sondern engagiert beschreiben. Jedenfalls genießt sie das volle Vertrauen der Bevölkerung. Den Store und das Wohnhaus hat sie von den alten Bloombergs auf Rentenbasis gekauft und den Warenwert des Stores bar bezahlt. Sie scheint keine Ambitionen zu haben, sich an einen Mann zu binden. Ihr Sohn Emilio studiert Nautik in Hull und ihre Tochter Claudia besucht die Highschool!“

Robert erinnerte sich: „Dora erwähnte, dass Claudia mit einer Farmerstochter aus Eastchurch befreundet ist, die Drums spielt.“

„Ja, die beiden Mädels kennen sich von der Highschool!“

Robert verabschiedete sich von Josh und ging nach Hause. Conchita hatte ihre Arbeiten erledigt und ging zufrieden zurück zu ihrer Familie.

Robert überlegte, was er zum Pub-Abend im Westcorner anziehen sollte. Er wählte eine Jeans, Turnschuhe, ein helles T-Shirt und eine schwarze Lederweste, dazu eine helle Hull-Cap.

Nachdem er etwas Brot und Käse gegessen hatte, ging er gegen 19 Uhr hinüber zum Fähranleger. Donald McCancie grüßte ihn aus dem Steuerhaus, er hatte Fährdienst bis Mitternacht. Dann würde Lena Malinowski übernehmen bis 4 Uhr am Sonntag. Die Fähre war gut besetzt mit Chapel-Einwohnern, die wahrscheinlich auch die Musikveranstaltung im Westcorner-Inn besuchen wollten und Touristen, die von Ausflügen auf Hull-Island in die Stadt zurückkehrten. Am Verkaufspunkt der Fähre herrschte Gedränge von Kunden für Tabak, Spirituosen und Süßigkeiten, alles steuerfrei. Die Überfahrt dauerte mit Ab- und Anlegemanöver vierzig Minuten.

 

Gegen 20 Uhr betrat Robert das Westcorner-Inn. Das Publikum des jetzt schon gefüllten Pubs bestand überwiegend aus jungen Menschen. Robert registrierte mit Genugtuung die bunte Mischung von fröhlichen Menschen verschiedenster Ethnien.

An der linken Raumseite verlief ein langer Tresen in die Tiefe des Raumes. Der Kassenplatz am Tresen war im Augenblick seines Eintretens nicht besetzt. Robert hatte gehofft, Beccy Balmore, die Chefin, anzutreffen. In der hinteren rechten Raumecke war ein Podium als Bühne aufgebaut. Robert eroberte einen Stehplatz am Tresen in der Nähe des Podiums.

Die Band mit dem Namen „Hull-City-Rollers“ brachte Verstärker und Boxen in Position und begann die Instrumente einzustöpseln und zu stimmen. Auf einer höheren zweiten Stufe des Podiums stand ein sehr komplettes Drumset. Auf der Ebene darunter befanden sich links ein Keyboard, rechts daneben ein E-Gitarren-Set, mittig ein Mikrofon-Set und rechts ein weiteres Gitarren-Set.

Das enthusiastische Gemurmel im Publikum verstummte augenblicklich, als eine junge rotblonde Frau das Podium betrat und sich an das Drumset setzte.

Das muss Jennifer O’Toole sein, dachte Robert. Sie sah überirdisch gut aus.

Sie rückte das Mikro in Position, nahm Schlagstöcke und begann einen schnellen, dezent geschlagenen Rhythmus. Sofort begannen die Pubgäste sich rhythmisch im Takt zu bewegen. Nach etwa 10 Sekunden sprach sie in ihren Schlagrhythmus: „Hi Leute, schön dass Ihr hier seid. Wollt Ihr heute mit uns die Sau rauslassen?“

Die Menge brüllte: „Wir wollen!“ Dann erschien ein Gitarrist, den die Drummerin als Cliff Hutchinson vorstellte. Es folgte der zweite Gitarrist, Ossy Carpenter, und weiter die schwarze Kim Harvester. Ein großer, schlaksiger Keyboarder wurde als Frank Colomba vorgestellt. Die Menge tobte. Jennifer ließ die Drums sehr laut werden, Frank ließ aus dem Keyboard ein Bass-Riff einfließen. Die E-Gitarren mischten sich dazu und Kim Harvester begann einen Song, den „Hull Dream Song“. Im Publikum schienen sie den Song zu kennen, denn sofort sangen alle mit. Der Vocal Part wechselte zu Cliff Hutchinson, damit Kim mit einem fetzigen Saxofon-Solo einsetzen konnte. Die Euphorie der Menschen im Saal schien sich zu überschlagen, so empfand es Robert. Es war klar, die Band hatte bereits ein Standing in Hull. Sie elektrisierten das Publikum mit einer unglaublichen Power. Kleine Unsauberkeiten in der Musik nahm das Publikum nicht wahr. Von der ersten Minute an wurde gefeiert. Junge männliche und weibliche Bediener flitzten artistisch durch die Menge und baggerten Getränke heran. An der Kasse vorne am Tresenkopf entdeckte Robert Beccy Balmore.

Die Band spielte eine Reihe Songs aus eigener Entwicklung und auch gecoverte Songs, etwa eineinhalb Stunden. Dann legten sie eine Pause ein.

Robert arbeitete sich nach vorne durch zu Beccy Balmore und begrüßte sie: „Hi Beccy, ich bin wieder im Lande!“

Sie sah ihn überrascht an, benötigte eine Sekunde des Erkennens: „Hi Robert, du hier? Du siehst so freizeitmäßig aus! Was ist los mit dir?“

Robert lächelte: „Ist eine lange Geschichte, Beccy! Ich erzähle sie dir später, wenn du etwas Zeit hast!“

Beccy nickte mit erfreutem Lächeln. Der Geräuschpegel ließ eine weitere Unterhaltung nicht zu.

Robert arbeitete sich wieder zum Podium durch. Er sprach den Keyboarder an: „Hi Frank, ich bin begeistert von eurer Power. Warum habt ihr keinen Bass in eurer Gruppe?“

„Wir konnten noch keinen Bassisten finden, der unseren Soundvorstellungen entspricht!“, erklärte Frank.

„Könnt ihr euch vorstellen, einen älteren Mann wie mich am Bass zu haben?“

„Bist du ein Bass-Mann?“

„Ja, ich könnte direkt bei euch einsteigen, nachdem ich einiges gehört habe!“

„Ich rede mit meinen Freunden darüber!“

Die Band beendete ihre Pause und besetzte wieder die Sets.

Jennifer O’Toole suchte Blickkontakt mit Robert und winkte ihm, auf das Podium zu kommen.

Cliff und Jennifer sprachen ihn an: „Wie lange willst du heute hierbleiben? Die letzte Nummer spielen wir um 0.45, dann noch ein paar Zugaben. Wenn du bleibst, können wir danach noch eine kurze Probejam spielen, eine Bassgitarre ist hier!“

„Klar, ich bleibe gerne hier, vielen Dank!“

Gegen ein Uhr, so schien es, waren alle Fans noch im Pub. Jennifer verständigte sich mit Beccy, dass die Polizeistunde eine viertel Stunde überzogen wurde.

Robert hatte keinen Alkohol getrunken. Im Anschluss an die letzte Nummer kündigte Jennifer einen Gastbassisten an: Robert Finnly.

Die gestöpselte Bassgitarre stimmte Robert mit dem Keyboarder, dann ging es los.

Die Band begann mit einem gecoverten Stück, das Robert kannte. Es fiel ihm leicht, den Bass einzusetzen. Dann drummte Jennifer den Hull-Dream-Song an und Robert ließ das Bass-Riff einfließen.

Die Fans tobten. Beccy erhob sich erstaunt von ihrem Sitz, als sie Robert am Bass sah. Die Fans forderten ohne Ende Wiederholungsschleifen, damit sie den Refrain mitsingen konnten. Robert hatte inzwischen den Text des Hull-Dream-Song verstanden:

Hallo, St. Andrew Cathedral

du bist die größte in Hull

du bewachst uns Tag und Nacht

du bist der Anker unserer Stadt

nach Westen schaust du auf das alte Hull

nach Osten auf das junge Hull

du siehst den Sund im Süden

weiße Steine und Schafe im Norden

Tag für Tag rufen deine Glocken

Hi, aufwachen, der Tag beginnt

Hi, Pause machen mit Kollegen

Hi, chillen im Pub, wo deine Freunde sind

(Refrain)

Hallo, St. Andrew Cathedral

du bist die größte in Hull

du bewachst uns Tag und Nacht

du bist der Anker unserer Stadt

Durchgefeiert die halbe Nacht,

angedröhnt am Central-Place;

hi, St. Andrew, bist du auch noch wach?

Wir grinsen dich an und heben das leere Glas

Langsam schleichen wir nach Hause,

Mutter wartet mit Sorge im Gesicht

Mutter, mach dir keine Sorge,

St. Andrew beschützt uns, das ist gewiss

Hallo, St. Andrew Cathedral

du bist die größte in Hull

du bewachst uns Tag und Nacht

du bist der Anker unserer Stadt

Vor deinem Altar geben wir uns das Jawort.

Christen, Juden, Muslime und Buddhisten

stehen vereint mit uns an diesem geheiligten Ort

sie alle jubeln uns zu; es staunen die Chronisten

Ja, vor St. Andrew sind wir alle gleich

alle Ethnien, alle Geschlechter, alle Klassen

gemeinsam machen wir unser Leben reich

Ja, auf St. Andrew wollen wir uns verlassen.

Beccy zog schließlich der Band den Stecker, nahm ihr Kassenmikro, und rief: „Hi Leute, wir haben die Polizeistunde überschritten, wir müssen Schluss machen. Das Westcorner-Inn und die Rollers, wir bedanken uns bei euch. Ihr wart ein super Publikum! Gute Nacht und gute Heimfahrt! Bis zum nächsten Mal!“

Es gab mehrere Minuten Ovations.

Die Rollers schauten Robert überrascht und interessiert an.

Frank sagte: „Hi Robert, du bist doch Profi, oder?“

„Nein, aber ich freue mich, dass ihr mich so einschätzt!“

„Hast du kein Engagement?“

„Nein!“

„Willst du bei uns einsteigen?“, fragte Cliff.

„Bin ich nicht zu alt für euch?“

Jennifer meinte: „Bei uns steht Qualität vor allem anderen!“

„Wie oft spielt ihr und wo?“

„Einige von uns sind Schüler. Deshalb spielen wir öffentlich nur an Wochenenden, zurzeit etwa jede zweite Woche!“, erklärte Cliff.

„O. k., da könnte ich mich einklinken!“

„Wir üben jeden Mittwoch von 14 bis 20 Uhr im Übungssaal der Musikfakultät an der UNI in Middle-East-Channel!“, bot Frank an.

„Ja, da kann ich mitmachen!“

Jennifer erfreut: „Fein Robert, dann am Mittwoch nächste Woche, am 8. Mai an der UNI!“

Robert verabschiedete sich von den Rollers und von Beccy, die ihm zuraunte: „Mann, Finnly, du bist vielleicht ein verrückter Kerl!“