Hull Storys

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

9.

Susan hatte nachdenklich geschwiegen: „Robert“, sagte sie, „ich bin beunruhigt über das Ergebnis unserer Absprachen! Bitte erkläre uns deinen Erbverzicht!“

„Das Thema wollte ich nicht mehr zur Sprache bringen, weil es euch und mich schmerzt. Ist es nicht besser, einen Schlussstrich zu ziehen?“

„Noch nie haben wir über die Ereignisse zwischen der Finnly-Familie und dir von deiner Seite, aus deiner Sicht etwas erfahren. Für uns ist es vergleichbar mit einem Puzzle, in dem noch ein wichtiger Baustein fehlt!“, erwiderte Susan.

„Dann Susan, müssen wir in der Rückschau weit ausholen. Ich bin in der Boganson-Familie aufgewachsen, praktisch ohne Vater und Mutter. Den Verlust meiner Eltern konnte ich im Alter von fünf Jahren weder emotional noch verstandesmäßig wahrnehmen, denn ich habe sie nicht gekannt. Stattdessen lebte ich mit meinem Großvater Knuth, einem liebvollen Menschen, und meiner Ersatzmutter, Conchita Hernandez, eine einfache ebenfalls liebevolle Frau auf Hull-Island in einem Dorf. Ich erlebte eine schöne Kindheit, meiner Meinung nach mit allem, was ein Kind benötigt. Meinen Großvater Jonathan Finnly sah ich bis zum zwölften Lebensjahr nur wenige Male hier im Finnly-Stammhaus. Die Finnlys lebten in einer fremden Welt, die mich ängstigte. Jedenfalls war ich immer froh, wenn ich nach Westchapel zurückkehrte. Als ich mit zwölf Jahren die Elementary-School beendete, müssen die beiden Großväter eine Einigung darüber erzielt haben, dass ich von nun an mein Leben in der Finnly-Familie fortsetzen sollte.

Ich zitiere aus dem Gedächtnis Grandpa John: „Jetzt, mein Junge wechselst du in die Highschool. Es ist besser für dich, wenn du bei uns lebst. Hier kannst du dich besser entwickeln!“

Als zwölfjähriger Junge verstand ich diese Worte als Anordnung, der man nicht widerspricht.

„Hier war ich gut untergebracht, es fehlte mir an nichts, außer Nähe und Wärme zu Menschen in meinem neuen Umfeld. Doch ich hatte auch Glück! Grandma Emy gab mir zweifellos Liebe und Wärme.

Grandpa John empfand ich als harten, aber wirklich interessanten Menschen. Er baute Boote von A bis Z, komplette Boote! Das faszinierte mich! Ich fand schnell heraus, wie ich die Gunst meines Grandpa John erwerben konnte. Ich verbrachte meine Freizeit ausschließlich in der Werft bei Grandpa. Mutter Natur hatte mich begünstigt mit guter Lernfähigkeit. In der Highschool gab es fast nur beste Noten für mich und bei Grandpa in der Werft begriff ich schnell und war handwerklich geschickt. Ich wurde, glaube ich, der Lieblingsenkel von Grandpa John. Aber da ich mich aus Zeitmangel an keiner Freizeitaktion meiner Mitschüler beteiligte, geriet ich in den Ruf, ein Sonderling zu sein. Mobbingversuche wehrte ich mit ziemlich brutalen Methoden ab. Als Folge ließen sie mich in Ruhe und ich entwickelte mich zum Außenseiter. Westchapel besuchte ich sporadisch. Meine Beziehungen zu den Menschen dort verkümmerten allmählich. Conchita hatte ein kostbares Pflänzchen in mir entwickelt: die Liebe zu Musik! Im Finnly-Haus wurde dieses Pflänzchen unterdrückt, so glaube ich heute. Mein echtes Interesse am Schiffbau lebte ich als Schüler aus, indem ich mit etwa 16 Jahren bereits produktiv in der Werft mitarbeitete. Grandpa John bezahlte meine Arbeit, obschon ich gar nicht darum gebeten hatte. Ich, der seltsame Finnly, trug in der Schule moderne Klamotten, besaß ein kleines Motor-Dinghy. In der Sportgruppe „Leistungssegeln“ gewann ich jede Regatta. Das war eine Zeit, in der ich mich im Erfolg sonnte. Dass ich vereinsamte, fiel mir nicht auf. Kein Mädchen interessierte sich für mich. Das führte ich darauf zurück, dass ich selbst meinte, mich nicht für Mädchen zu interessieren!“

Für Grandpa John und mich war es selbstverständlich, dass ich Schiffbau studierte. Ich glaube, er sah mich zu der Zeit schon als technischen Leiter einer aufstrebenden Finnly-Werft!

Während des Schiffbaustudiums kam mir der Gedanke, dass es auch reizvoll sein müsste, Schiffe zu steuern und dabei die Länder der Kontinente kennenzulernen. Unbedarft trug ich solche Ideen Grandpa John vor. Gebetsmühlenartig vertrat er die Meinung, dass Schiffebauen der kreative Teil der Seefahrt und Schiffesteuern im Vergleich etwas Minderwertiges sei. Inzwischen hatte ich mir im Alter von etwa 21 Jahren eine eigene Denkweise zugelegt. Die Ansichten von Grandpa John zweifelte ich an. Heimlich begann ich parallel zum Schiffbaustudium ein Nautikstudium. Als ich das Schiffbaudiplom in der Hand hatte, ging Grandpa John davon aus, dass ich sofort Vollzeit in der Werft arbeite. Jetzt musste ich ihm eröffnen, dass ich noch ein Nautikstudium machte. Zum ersten Mal sah ich ihn zornig. Er war außer sich vor Zorn. Wir sprachen mehrere Tage nicht miteinander. Dann machte Grandpa einen Vorschlag. Ich sollte in der Finnly-Werft mit vollem Gehalt eingestellt werden und das Nautikstudium zu Ende bringen. Darauf ging ich ein. Es begann eine intensive, kreative Zusammenarbeit mit meinem Onkel Henric. Die Werft schien in Quantensprüngen vorwärtszukommen. Wir arbeiteten wie besessen und staunten, dass die Finnly-Werft international ins Gespräch kam. Das Nautikstudium hatte ich erfolgreich beendet. Mit etwa 25 Jahren spürte ich, dass etwas nicht mit mir stimmte. Ich steuerte auf ein Burnout zu. Die Ursache konnte ich mir nicht erklären. Grandpa ließ mich psychotherapeutisch behandeln. Mir wurde empfohlen, weniger zu arbeiten. Das war aus meiner Sicht undenkbar (außer meiner Arbeit hatte ich nichts). Immer öfter musste ich die Büros, in denen ich arbeitete, für kurze Zeit verlassen. Öffentliche Auftritte bei Schiffbausymposien, in denen ich über unsere Schiffstechnik referieren sollte, verursachten mir Zittern und Schweißausbrüche.

Ich bekam das Gefühl, dass ich mir selbst helfen musste. Bei der Bellman-Reederei bewarb ich mich um einen Offiziersposten auf einem der Schiffe. Als ich eine Zusage erhielt, eröffnete ich Grandpa, dass ich nicht wie bisher weitermachen konnte. Ich glaube, es war die größte Enttäuschung seines Lebens. Es entstand nachhaltige Missstimmng zwischen uns. Mit 27 Jahren trat ich die Stelle eines Dritten Offiziers an. Inzwischen hattest du, Susan, dein BWL-Studium beendet. Du warst mit Dick verheiratet. Ihr wart beide in der Firma. Dick, das hatte ich gesehen, war als Ingenieur voll in das Geschäft integriert und kam mit seinem Schwiegervater gut zurecht.

Ich fühlte keine moralische Verpflichtung, in der Finnly-Werft zu verbleiben.

Mit dreißig Jahren übernahm ich als Kapitän mein erstes Schiff, einen Trampfrachter von Bellman.

Nun sind wir hier angekommen in der Geschichte. Warum ich jetzt der großen Seefahrt Ade sage, ist schwer zu erklären. Ich trage die Gene meines Vaters und meiner Mutter in mir. Diese Genkonstellation scheint ein nachhaltiges Arbeiten an einer Linie nicht vorzusehen.

Deshalb ist es für euch und für mich das Beste, wenn wir voneinander lassen.

Susan schwieg lange. Sie sagte: „Das ist deine Version der Geschichte, Robert. Sie klingt glaubwürdig! Wir haben unterschiedlichste Versionen gehört und nie gewusst, was wirklich vorgefallen ist. Dein Vorschlag ist der einzig vernünftige, das sehe ich ein!“

10.

Es wurde gemeldet, dass das Dinghy fertig an der Pier liegt. Robert konnte mit dem letzten Tageslicht das Dinghy nach Westchapel steuern. Sie verabschiedeten sich. Robert ließ die Motoren an, steuerte am East Boulevard entlang in den East-Channel und fuhr zum Central Place. Hier bog er ab in den Central-Channel und von dort steuerte er über den St. Andrew Sund Richtung Westchapel. Er spürte ein Glücksgefühl, das dem eines Kindes gleicht, das unverhofft ein wertvolles Geschenk erhält: das Dinghy eines Grandpa Knuth!

Inzwischen hatte die Dunkelheit eingesetzt. Robert machte das Dinghy am Boganson-Liegeplatz fest.

Am folgenden Morgen frühstückte Robert nicht zu Hause, denn er beabsichtigte heute bei Antonio im Amiral vorbeizuschauen, seine ausstehenden Schulden vom Vortag zu begleichen und auch hier wieder das Frühstück einzunehmen. Etwa um 10 Uhr ging er sorgfältig gekleidet zum Dinghy und nahm es bei Tageslicht noch einmal in Augenschein. Es zeigte geringe Gebrauchsspuren, technisch und optisch war es in einem guten Zustand. Die Überdachung des Vorderbootes hatte verhindert, dass der Steuerstand vom Morgentau so nass war wie der offene Teil des hinteren Bootes.

Er stieg ein, drückte den Starter beider Motoren, legte ab und fuhr langsam Richtung Hafenausfahrt. Die Motoren waren kaum zu hören, sodass Robert auf leisen Sohlen den Hafen verließ. Barny O’Brian bemerkte natürlich seine Ausreise, winkte ihm zu, hob anerkennend den Daumen. Barny registrierte, dass Robert das Auslieferungsdinghy seines Grandpa Knuth steuerte.

Im Sund sorgte ein frischer Westwind für eine unruhige Wasseroberfläche. Das flache Dinghy lief ziemlich nass bei höherer Geschwindigkeit. Robert drosselte das Tempo etwas und schon beruhigte sich das Boot. Er steuerte direkt den Central-Channel an. Im Channel deckte die Stadtbebauung den Wind ab und die Fahrt konnte im ruhigen Wasser fortgesetzt werden.

Gegen 11 Uhr erreichte er den Central-Place. Im Circle gab es Bootliegeplätze des Amiral. An einem freien Mooringplatz legte er mit dem Heck an. Robert ging durch die verwaiste Außengastronomie in den Innenraum des Amiral. Der weitläufige Raum war in verschiedene Ebenen aufgeteilt, die vom Eingang (Ebene 0) in den Innenraum in kleinen Stufen anstiegen. Auf den Ebenen gab es Sitznischen mit zwei, vier, sechs oder acht Sitzplätzen. Die raumhohen Fenster zum Central-Place und zum West Channel ermöglichten aus allen Sitzebenen einen Blick nach draußen. Das Interieur bestand aus hellen und dunklen Hölzern, waagerechten Linien aus hellem, senkrechte Linien aus dunklem Holz. Verschiedenfarbige Sitzflächen korrespondierten farblich mit Teppichböden und Lampenschirmmaterialien.

 

Robert nahm einen Platz auf der unteren Ebene, direkt an einem Fenster, bestellte ein Frühstück mit Tee, das von Antonio höchstpersönlich mit freundlichem Lächeln serviert wurde. Robert erhob sich, sie begrüßten sich mit Händedruck.

Antonio bemerkte: „Sie sehen entspannt aus Robert! Ich nehme an, dass der gestrige Tag für Sie gut verlaufen ist!“

Robert meinte erleichtert: „Alles gut, wirklich zu meiner Zufriedenheit. Und natürlich herzlichen Dank an Sie und Ihren Sohn für die spontane Hilfe. Ihren Sohn wollte ich mit etwas Geld belohnen, er hat es aber nicht angenommen!“

Antonio nickte stolz: „Ja, so haben wir unsere Kinder erzogen!“

„In der gestrigen Aufregung habe ich das Frühstück nicht bezahlt!“

Antonio winkte ab: „Werden Sie uns des Öfteren als Gast besuchen?“

„Ich wohne in Westchapel, aber wenn ich in der Stadt zu tun habe, will ich bei jeder Gelegenheit Ihr freundliches Restaurant aufsuchen!“, erklärte Robert.

Antonio strahlte: „Dann schlage ich vor, dass wir ein Kundenkonto für Sie einrichten. Ihre Verzehrkosten fakturieren wir monatlich und per Bankeinzugsverfahren rufen wir die Beträge von Ihrem Konto ab. Per E-Mail erhalten Sie eine detaillierte Auflistung Ihrer Verzehre.“

„Sehr gut, Antonio, damit können wir sofort beginnen!“

„Ich bereite das vor und inzwischen wünsche ich guten Appetit zum Frühstück!“, sagte Antonio und entschwand.

Robert genoss das Frühstück und beobachtete die Bewegungen von Menschen und Booten auf der Pier und auf dem Wasser. Er überlegte, wie er den Tag weiter gestalten wollte.

Als Erstes lag ihm daran, das Finnly-Stadthaus zu sehen und die Finnly-Yachtpier davor in der Westbay. Dann wollte er in der Westbay weiter südlich zum Westcorner fahren und schauen, ob Beccy Balmore im Westcorner-Inn Zeit für einen Plausch hätte.

Antonio steuerte in Begleitung einer vornehm wirkenden Dame in Antonios Alter seinen Tisch an.

„Darf ich vorstellen? Meine Frau Elena!“

Robert erhob sich, lächelte die Dame an und wagte einen Handkuss: „Sehr angenehm, Mrs. Romani!“

Die Romanis strahlten anerkennend. Robert unterzeichnete eine Bankeinzugsermächtigung und ergänzte das Papier mit seinen persönlichen Daten.

Nach einem freundlichen Wortwechsel verabschiedete Robert sich von den Romanis und ging zu seinem Dinghy. In mäßigem Tempo fuhr er unter der Überbrückung des West Channel durch.

Links lag der imposante Rundbau des Story-Ville. Hier hatte er als Jugendlicher einen Schultanzkursus absolviert und seine erste und einzige Freundin, Beccy Balmore, nach Hause begleiten dürfen. Rechts und links des Channel folgten gepflegte Stadthäuser mit Geschäften und Wohnungen. Auf der Nordseite des Kanals hob eine modern gestaltete Pharmazie, die „Westpharmazie“, optisch ab.

Etwa in der Mitte des achthundert Meter langen West Channel befand sich eine Fußgängerbrücke mit der in Hull standardisierten Durchfahrtshöhe von drei Metern bei Tidenhochwasser in allen Nebenchannels.

Robert rechnete: Das Dinghy hatte unbeladen eine Höhe von 2,8 Metern. Beladen würde es tiefer im Wasser liegen. Sein Grandpa Knuth hatte alle Faktoren der Gestaltung eines schnellen, wendigen Auslieferungsbootes berücksichtigt. So z. B. wendete das Dinghy auf dem Punkt, wenn ein Zwillingsmotor im Vorwärtsgang und der andere im Rückwärtsgang gleichzeitig arbeitete.

Robert näherte sich der Mündung des West Channel in die Westbay. Ein Flut- und Sturmtor schützte die Stadt, wenn ein Sturmtief über die Westbay fegte.

An dem Eckpunkt West Channel und Westbay stand das Finnly- Stadthaus. Es war ein historisches Haus im Jugendstil. Grandpa John hatte es in den 70er-Jahren gekauft und aufwendig saniert.

Es hatte zwei Vollgeschoße und ein Dachgeschoß. Soweit Robert wusste, bewohnten seine Eltern das Dachgeschoß, wenn sie in Hull weilten. Die beiden Vollgeschoße beherbergten offensichtlich Geschäftsräume der „Hull-Travel-Shipping“. Robert lenkte das Dinghy in die Westbay und schwenkte nach Süden. In die Bay waren Piers gebaut, an denen einige als DF-Schiffe erkennbare Yachten lagen. Hier also fanden Übergabeeinweisungen der Kunden von DF-Yachten statt. Die Anlage machte einen gepflegten, seriösen Eindruck.

Robert setzte seine Fahrt an den Piers des West Boulevard Richtung Westcorner fort.

Am Boulevard reihte sich Hotel an Hotel. Die Piers vor den Hotels waren belegt mit den edelsten Yachten aller Größen aus den verschiedensten Ländern der Erdteile.

Anerkennend stellte Robert fest, dass die DF-Werft hier in der Westbay einen strategisch günstigen Standort mit maritimem Flair zur Präsentation ihrer Schiffe gewählt hatte.

Am Westcorner belegte Robert einen freien Mooringplatz des Westcorner-Inn. Über den weitläufigen Platz mit Platanen und Akazien ging er hinüber zum Pub. An der Kasse fragte er eine Angestellte nach der Chefin. Er nannte seinen Namen. Die Mitarbeiterin telefonierte und bestätigte, dass Beccy Balmore ihn im Obergeschoß empfangen werde. Eine Bedienung führte Robert nach oben.

Beccy empfing ihn mit einem Lächeln, das ihn an ihre Jugendzeit erinnerte: ein selbstbewusstes, etwas überlegenes Lächeln. Sie nahmen Platz an einem Fenster mit weiter Aussicht auf die Westbay und den Sundeingang. Westchapel konnte Robert auf der Sundseite gegenüber im Dunst schemenhaft erkennen.

Beccy ließ durch eine Angestellte Kaffee servieren.

Robert sagte: „Schön Beccy, dass du Zeit hast! Ich bin mit dem Dinghy meines Grandpa in der Westcity unterwegs und schaue mich um! Über fünfzehn Jahre war ich nicht mehr hier!“

Beccy meinte lächelnd: „Fein, dass du vorbeikommst. Du kannst dir denken, dass ich darauf brenne, deine Geschichte zu hören!“

Robert nickte: „Wie sieht es denn bei dir aus? Leben deine Eltern noch und bist du verheiratet und hast Kinder?“

Beccy zog ihre Augenbrauen hoch: „Meine Eltern haben mir vor zehn Jahren die Führung des Pubs übertragen. Sie sind inzwischen verstorben. Ich habe nicht geheiratet und habe keine Kinder. Weißt du, ich habe unter dem ständigen Druck meiner Eltern gelitten und danach wollte ich nicht unter den vielleicht machohaften Einfluss eines Mannes geraten. Ich bin selbstständig und unabhängig, ich fühle mich gut so.

„Und was ist mit der Liebe?“, fragte Robert.

„Ich pflege, so nenne ich das,,ambulante Beziehungen‘ zu Männern, das ist eine Möglichkeit, ab und zu Schmetterlinge im Bauch zu spüren, jedoch ohne Nachwirkungen!“

„Und du?“, fragte sie.

Robert erklärte: „Als Seemann bist du ständig unterwegs und hast keine andere Möglichkeit, als in ambulanten Beziehungen zu leben. Aber eine feste Beziehung zu einer Frau wünsche ich mir schon!“

„Und, hast du?“, fragte Beccy.

„Nein, noch nicht. Ich kann mir allerdings ein häusliches Zusammenleben mit einer Frau nicht vorstellen!“

„Siehst du, Robert, mir geht das so ähnlich!“

Beide lachten.

„Du warst meine erste Freundin, Beccy! Wir waren siebzehn Jahre alt. Ich fühlte mich dir ständig unterlegen!“, erinnerte Robert.

„Ja, Robert, alle Jungs fühlten sich mir unterlegen damals in den Highschool-Oberstufen. Meinen ersten Sex hatte ich nicht mit einem von euch, sondern mit einem verheirateten Mann meiner Wahl!“

„Weißt du“, fuhr Robert fort. „Ich war nie ein dominanter Typ, gegenüber Mädchen eher schüchtern. Wenn ich dir in der Schule begegnete, nahm ich bewusst erst im letzten Augenblick „wie zufällig“ Notiz von dir, weil ich glaubte, das sei cool!“

Beccy lachte amüsiert.

„Nein, mit dir war ich ein paar Monate zusammen, weil du in der Tanzschule ein Toptänzer warst. Ich genoss es, wenn die Mädels und Jungs vor Neid erblassten, während wir beide auf der Tanzfläche glänzten. Du warst anders als die meisten Typen, nicht so ein Angeber. Allerdings bist du nur durch das Tanzen in mein Bewusstsein gekommen. Davor und danach fielst du mit nichts auf. Es war, als wärst du gar nicht anwesend. Woher hast du dieses Talent zum Tanzen?“

„Seit meiner Geburt hatte ich eine Ersatz-Mom, eine in Puerto Rico geborene und aufgewachsene Frau mit indigenen Wurzeln. Sie hieß Conchita. Als Kind konnte ich das nicht aussprechen und nannte sie „Chita“.

Den ganzen Tag, wenn sie unseren Haushalt machte, lief im Radio Latinomusik, Rumba, Tango, Lambada, Reggea usw. Ständig bewegte Chita ihren Körper zur Musik. Ich bewunderte sie, wenn sie, wie es schien, zwanzigmal in einer Sekunde mit ihrem Po wackelte. Das wollte ich, etwa vier Jahre alt, auch können. Sie nahm mich an meinen Händen und brachte mir das absolut lockere Körperschütteln bei. Dabei hatten wir beide einen Riesenspaß. Als ich älter wurde, haben wir immer weitergemacht und es kultiviert bis zum richtigen Tanzen!“

„Das finde ich einfach super, du Glücklicher!“, rief Beccy.

Robert erinnerte sich weiter: „Mein schönster Moment mit dir war, als ich dich nach der Tanzstunde zum ersten Mal vom Story-Ville nach Hause begleitete. Bevor du in euer Haus gingst, drückten wir uns in eine Haustürnische und umarmten uns. Ich habe den Duft von deinem Haar aufgenommen, deinen Körper an mir gespürt und wir haben uns geküsst. Nie mehr habe ich ein solches Glücksgefühl mit einer Frau gehabt. Das hatte in dem Augenblick nichts mit Sex zu tun!“

Beccy schaute ihn gerührt an: „Ich kann mich ehrlich gesagt daran nicht erinnern, Robert. Aber ich kann dein Gefühl von damals nachvollziehen. Aber bitte, erzähle etwas von deinem Leben als Erwachsener!“

Robert berichtete von seiner Mitarbeit in der Finnly-Werft während der Highschool Zeit, von seinen Studienabschlüssen und seiner Zeit als Kapitän.

„Und wie kommst du zur Musik?“, fragte Beccy.

„Ich habe mich immer für Musik interessiert, aber erst als Kapitän bekam ich in den vielen Freiwachen Gelegenheit, Musik zu studieren. Der Bass-Part ist meine Leidenschaft. Gemeinsam mit den Drums ist er die Soundmaschine jeder Art von Popmusik und Jazz. Immer, wenn ich mich mit Musik beschäftige, verliere ich jedes Zeitgefühl, nehme um mich herum nichts wahr, bin ich ganz bei mir!“

„Ja, als ich dich in der Nacht von Samstag auf Sonntag am Bass sah, dachte ich, jetzt schau dir diesen damals doch so unscheinbaren Finnly an! Wer weiß, für welche Überraschungen der noch gut ist? Was hast du vor in Zukunft, Robert?“

„Ich habe noch keinen festen Plan, mal schauen, was in nächster Zeit auf mich zukommt. Aber ich werde wahrscheinlich schon morgen ganz konkret damit anfangen, meinen Zukunftsplan zu gestalten!“, erwiderte Robert.

„Du bist wirklich ein verrückter, aber sympathischer Typ, Robert!“ Ich würde mich freuen, wenn du mich ein wenig auf dem Laufenden hältst!“

„Ja, ja, das mache ich!“

Sie lachten beide.

Robert verabschiedete sich.

„Sehen wir dich ab und zu im Pub, Robert?“

„Ja gerne, immer wenn ich Gelegenheit habe, schaue ich bei euch rein!“

Sie umarmten sich und Beccy drückte Robert einen schnellen Kuss auf den Mund.

Robert machte das Dinghy los und fuhr über den Sund Richtung Westchapel. Er dachte über Beccy nach. Sie ist eine attraktive Frau, ziemlich kurvig an den Hüften und am Busen, aber vor allem ist es die sie umgebende Aura von Lässigkeit und Genussfähigkeit, die anziehend auf Männer wirkt. Dazu ist sie erfolgreiche Besitzerin eines angesagten Pubs und finanziell unabhängig. Sollte er, Robert, sich in die Reihe der um Beccy buhlenden Männer stellen?

Nein, dachte er. Die Affären um Beccy gehen wahrscheinlich einher mit Missgunst und Eifersucht! Allerdings musste er sich eingestehen, dass er wünschte, Sex mit ihr zu haben. Welche Signale hatte sie ihm gegeben? Er beschloss, Kontakt mit ihr zu halten und dabei ihr Umfeld zu beobachten.