Buch lesen: «Politische Justiz», Seite 9

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2. Der Mordprozess eine politische Waffe

Vielerlei lässt sich in politischen Konflikten mit einem Kriminalprozess anfangen. Wenn ein Verbrechen unzweifelhaft vorliegt, kann die Person des vermeintlichen oder wirklichen Täters die Gelegenheit bieten, aus dem Prozess politisches Kapital zu schlagen. Oder der Prozess selbst entspringt – zum Beispiel bei Korruptionsbeschuldigungen – unablässigen Bemühungen gegnerischer politischer Gruppen, sensationellen Enthüllungen einer Zeitung, die ihre Auflage zu erhöhen sucht, oder der hartnäckigen Verfolgungssucht eines Menschen, der eine persönliche Rechnung zu begleichen hat.

Ebenso gut kann es sein, dass sich eine neue Elitegruppe, der giftsprühende Angriffe auf die Ehre und Sauberkeit ihrer Vorgänger zur Macht verholfen haben, einen Gewinn davon verspricht, dass sie die Vergangenheit der Besiegten durchkämmt und genug Schmutz aufwirbelt, um die Männer des gestürzten Regimes auf die Anklagebank zu bringen. Machthaber vom totalitären Schlage, die gerade an die Macht gekommen sind, können selten der Versuchung widerstehen, mit der alten Ordnung liierte Gruppen, die kaum je den Gefahren politischer Strafverfolgung ausgesetzt waren, auf besondere Art in Misskredit zu bringen: Geistlichen einer Kirche, der man nicht direkt an den Wagen fahren kann, werden beispielsweise Anklagen wegen homosexueller Betätigung, Steuerhinterziehung oder Devisenvergehen angehängt. Dem Gegner werden kleine Unebenheiten auf dem Wappenschild angekreidet (die sich allerdings gegenüber den Verunzierungen auf dem Wappenschild der neuen Herren höchst harmlos ausnehmen), und dem Publikum wird das erschütternde Panorama einer Gesellschaft vorgeführt, die an innerer Entartung hätte eingehen müssen, wäre sie nicht im letzten Augenblick durch den wundertätigen Eingriff der neuen Machthaber gerettet worden.

Möge die Rahmengeschichte ein belangloser Vorgang aus dem Leben des Alltags, der geplante und vorbereitete Anschlag einer gegnerischen Organisation oder folgerichtige und systematische Ehrabschneiderei sein: Es gibt kaum eine Gattung krimineller Delikte, die banalsten und die ungewöhnlichsten nicht ausgenommen, die man nicht dazu benutzen könnte, politische Leidenschaften zu entfachen. Höchst dramatisch lässt sich die Aufführung gestalten, wenn die Anklage auf Mord lautet, das Mordopfer ein Parteiführer und der Angeklagte ein prominenter Vertreter der Gegenpartei ist. Diese Art Feuerwerk prasselte auf die politische Bühne eines amerikanischen Gliedstaats, des Commonwealth of Kentucky, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts hernieder.

Zum ersten Mal seit 1859 hatten es die Republikaner 1895 fertiggebracht, die Gouverneurwahlen von Kentucky zu gewinnen: Eine wirtschaftliche Flaute und die Spaltung der Demokraten in der Frage der Silberwährung hatten die Wahl des republikanischen Kandidaten William O. Bradley mit der geringfügigen Mehrheit von 8.912 Stimmen ermöglicht. Die Volksvertretung des Staates blieb jedoch in den Händen der Demokraten. Nachdem sie 1897 eine starke Gruppe von Anhängern der Goldwährung aus der Partei hinausgedrängt hatten, wurde ihre Organisation mit eiserner Faust von William Goebel (1856 - 1900), Fraktionsführer im Kentucky-Senat, regiert. Goebel hatte sich in zähen und erbitterten Kämpfen emporgearbeitet. Weder ein Anhänger der südlichen Feudaltradition noch ein Vorkämpfer der Bürgerkriegsveteranen der Südstaaten, stand er in enger Verbindung mit dem demokratischen Parteiapparat der industriell höher entwickelten nördlichen und westlichen Kreise des Staates; seinen Aufstieg im politischen Getriebe verdankte er einer schroffen Kampfhaltung gegen mächtige Interessentengruppen, namentlich gegen die Eisenbahngesellschaften und ihre republikanischen Fürsprecher. Unter seiner Führung heimsten die Demokraten bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften des Staates 1897 und zum Kongress 1898 beträchtliche Gewinne ein; der Machtkampf blieb unentschieden.

Das animierte die Demokraten dazu, ihren Wahlmisserfolg von 1895 auf Wahlbetrug und Fälschung des Wahlergebnisses durch Republikaner und demokratische Goldanhänger zurückzuführen. Auch noch vier Jahrzehnte später konnte Woodson, einer der Hauptmitstreiter Goebels, Gründer und Herausgeber des Owensboro Messenger, Verfechter der Bergarbeiterinteressen in West-Kentucky und Apostel der sozialen Reform, voller Empörung schreiben: »Es war allgemein bekannt, daß Bryan {der demokratische Präsidentschaftskandidat} in Kreisen wie Jefferson (Louisville) und in den Bergen, wo die Goldmänner mit den Republikanern die Bestellung der Wahlvorstände in der Hand hatten, in den Wahlvorständen, unter den Wahlaufsichtsbeamten und unter den offiziellen Wahlberechtigungsprüfern keine Vertreter hatte.«6 In diesem Sinne unternahm es Goebel, durch die 1897 gewählte Gesetzgebende Versammlung ein neues Wahlgesetz durchzupeitschen. Das Gesetz zentralisierte den Apparat der Wahlüberwachung und stattete die von der Gesetzgebenden Versammlung zu wählenden Wahlleiter mit erweiterten Vollmachten aus; es war dann Sache dieser Wahlleiter, Wahlbeauftragte für die einzelnen Kreise zu berufen, die ihrerseits die Wahlvorstände für die Wahllokale bestellen sollten. Sofern Wahlergebnisse angefochten wurden, sollten Prüfungsausschüsse der Gesetzgebenden Versammlung über die Einsprüche entscheiden, und die Besetzung dieser Ausschüsse wurde dem Los, ohne garantierte Minderheitsvertretung, überlassen.7

Die Republikaner sahen in diesem Manöver einen brutalen Machtmissbrauch, der dem neugewählten republikanischen Gouverneur jede Möglichkeit, die Durchführung der Wahlen zu beeinflussen, nehmen und sie in vollem Umfang demokratischen Parteigängern ausliefern sollte.8 Die Republikaner fühlten sich von »Goebels Wahlgesetz« unmittelbar bedroht und prangerten es weit und breit als heimtückischen Angriff auf demokratische Institutionen an. Das Gesetz gefährdete aber auch die Machtpositionen abtrünniger Demokraten, vor allem der »Goldmänner«, die Industrieinteressen vertraten und die bis dahin einige lokale Parteiorganisationen beherrscht hatten. Einer der einflussreichsten Propheten der Industrialisierung, Henry W. Watterson, ein halbes Jahrhundert lang Chefredakteur des Louisville Courier-Journal, sprach von einer »monströsen Usurpation der Macht durch ein Häuflein skrupelloser Menschen«.9

Das umstrittene Wahlgesetz war nur eine der verwundbaren Stellen in Goebels Rüstung. In den lokalen Parteiorganisationen verfügten sowohl die agrarischen Traditionalisten als auch die Goldmänner über beträchtlichen Einfluss. Auf dem Parteitag der Demokraten, der die Kandidaten für die Gouverneurwahl aufstellte, entfielen auf Goebel von insgesamt 1.092 Stimmen zunächst nur 168 ½. Erst im 26. Wahlgang brachte er es schließlich mit geheimen geschäftlichen Abmachungen, Geschäftsordnungstricks und einer Taktik, mit der die ermüdeten und verwirrten Delegierten überfahren wurden, zu einer Mehrheit von 561 gegen 529 Stimmen. Das war ein zweifelhafter Sieg: Mit seinen fragwürdigen Methoden hatte sich Goebel das Vertrauen und die Achtung vieler Freunde verscherzt. Es kam eine neue Spaltung der Partei, und es bildete sich eine rebellische Organisation der »demokratischen Anhänger ehrlicher Wahlen«; außerdem stellten die Populisten, die sich acht Jahre lang damit begnügt hatten, ihre Stimmen den Demokraten zu geben, eigene Kandidaten auf. Wie üblich gewannen die Demokraten die Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung,10 aber ihr Kandidat Goebel, der den ersten republikanischen Gouverneur von Kentucky hatte ablösen sollen, wurde vom Republikaner William S. Taylor, einem prominenten Finanzmann, geschlagen.

Taylor erhielt zwar nur 48,4 Prozent der abgegebenen Stimmen (gegen 50,1 Prozent für den republikanischen Kandidaten McKinley bei den Präsidentschaftswahlen von 1896), aber auf ihn entfielen 2.383 Stimmen mehr als auf Goebel; 4 Prozent der Wähler hatten sich für Splitterlisten entschieden. Nach den Feststellungen der Wahlleiter hatten die einzelnen Kandidaten erhalten: Taylor 193.714, Goebel 191.331, Brown 12.140, Blair 3.038 Stimmen.11 Neben dem Wahlgesetz, das viele potentielle demokratische Wähler abgeschreckt hatte, war Goebel sein rücksichtsloses Vorgehen zum Verhängnis geworden: Er büßte über 15.000 Stimmen sicherer demokratischer Wähler ein.

Kindisch provozierend hatte Goebel geprahlt: »Ihr könnt mich nicht mit höheren Stimmen schlagen, und ihr könnt mich nicht mit dem Zählen der Stimmen schlagen; das Wählen werden die Republikaner, das Zählen aber die Demokraten besorgen.«12 Trotz der Parteitreue der Staatswahlleiter und Kreiswahlbeauftragten hatte Goebel auch das Zählen nicht geholfen. Den Demokraten blieb nur noch der Appell an die Wahlprüfungsausschüsse der Gesetzgebenden Versammlung: Wenigstens dazu musste »Goebels Gesetz« gut sein. Als die neue Volksvertretung am 2. Januar 1900 zusammentrat, beschloss der Staatsausschuss der Demokratischen Partei – angeblich gegen Goebels Rat –, die Ergebnisse der Wahlen für die Posten des Gouverneurs und des stellvertretenden Gouverneurs anzufechten. Angeführt wurden: Gesetzwidriger Druck auf die Wähler, Nötigung des Bahnpersonals durch die Eisenbahngesellschaften, Einschüchterung der Bevölkerung durch die in den Städten zur Verhinderung von Unruhen stationierten Truppen, dazu in mehreren Kreisen gröbliche Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Wahl, unter anderem Verletzung des Wahlgeheimnisses durch Ausgabe durchsichtiger Stimmzettel.13 Trotz oder dank den Zufällen der Auslosung waren in die Wahlprüfungsausschüsse auch einige Republikaner gelangt, aber die Mehrheit stellten unversöhnliche Demokraten. An ihrer Entscheidung war kaum zu zweifeln.

Die Führer der Republikaner, die bereits die Regierungsämter übernommen hatten, beschlossen durchzugreifen. Ihr zum Staatssekretär (etwa Chef der Staatskanzlei) gewählter »starker Mann«, Caleb Powers, ein Mann aus den Bergen, Zögling der Kadettenanstalt West Point und berufsmäßiger Prediger der nationalen Sammlung, holte Verstärkung: Am 25. Januar trafen in Frankfort, der Hauptstadt von Kentucky, 1.200 bewaffnete Gebirgseinwohner ein; siebzehn Eisenbahnwagen waren zu diesem Zweck von der Louisville-Nashville-Eisenbahn gestellt worden. Die öffentliche Meinung – und damit auch die Gesetzgebende Versammlung – sollte auf »friedliche« Manier unter Druck gesetzt werden; ein Teil der Gewehre, die die Bergbewohner mitgebracht hatten, wurde in Staatsministerien abgestellt: In der Generaladjutantur (Kommando der Staatsmiliz) und in der Landwirtschaftsverwaltung. Die Stadt war zum Feldlager geworden. Republikanische Beamte sperrten das Parlamentsgebäude ab und verhinderten die entscheidende Sitzung der Gesetzgebenden Versammlung. Als sich Goebel am 30. Januar in Begleitung anderer demokratischer Politiker auf den Weg zum Parlament begab, wurde er von Gewehrkugeln getroffen. Die Schüsse waren aus dem Amtsgebäude des Staatssekretärs abgegeben worden. Staatssekretär Powers hatte die Stadt eine Stunde früher verlassen.

Unterdes hatten die Wahlprüfungsausschüsse ihre Berichte erstattet. Ohne nochmalige Zählung der Stimmen hatten sie der Anfechtungsklage der Demokraten in vollem Umfang stattgegeben und der Gesetzgebenden Versammlung empfohlen, die Wahl des Republikaners Taylor und seines Stellvertreters für ungültig zu erklären. Am 31. Januar trat schließlich das Plenum der Gesetzgebenden Versammlung zusammen; die Ausschussberichte wurden gebilligt und Goebel zum rechtmäßig gewählten Gouverneur, der Demokrat J. Cripps Wickliffe Beckham zu seinem Stellvertreter erklärt. Am selben Tag wurde Goebel, von Ärzten umringt, auf dem Krankenbett als Staatsoberhaupt des Commonwealth vereidigt. Am 3. Februar erlag er seinen Wunden. Beide Parteien beanspruchten die Staatsexekutive als rechtmäßigen Besitz. Das Chaos drohte in Bürgerkrieg umzuschlagen. Als amtierender Gouverneur vereidigt, hatte Beckham am 1. Februar einen Befehl erlassen, mit dem der gewählte republikanische Generaladjutant des Kommandos der Staatsmiliz enthoben und durch den Demokraten John B. Castleman ersetzt wurde. Ein bewaffneter Zusammenstoß schien unvermeidlich.

Nüchternere Parteiführer fanden sich dennoch am Verhandlungstisch zusammen. Da die Banken die Einlösung der von beiden Parteien ausgestellten Regierungsschecks verweigerten, kam am 6. Februar eine Einigung zustande, mit der die offene Schlacht verhindert werden konnte. Neben anderen von Beckham und dem republikanischen Gouverneurstellvertreter John Marshall unterzeichnet, verpflichtete der Kompromiss beide Parteien zur Anerkennung des Beschlusses der Gesetzgebenden Versammlung bei gleichzeitiger Anrufung der Gerichte.14 Das war immerhin ein Waffenstillstand, auch wenn der republikanische Gouverneur Taylor das Abkommen verwarf und nicht zu befolgen gedachte. Am 6. April entschied das Appellationsgericht von Kentucky – drei demokratische und zwei republikanische Richter (von denen nur einer ein abweichendes Votum abgab) –, dass die Gesetzgebende Versammlung im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse gehandelt und dass es weiteres nicht zu prüfen habe.15 Und am 21. Mai stimmte das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten dieser Entscheidung zu und stellte das Verfahren wegen Unzuständigkeit ein.16 Nur Bundesrichter John M. Harlan (1833 - 1911) war anderer Meinung. Er fand, das Recht auf ein Amt sei ein Eigentumsrecht und das Oberste Gericht müsse sich – im Sinne einer damals beliebten Konstruktion des due process – für zuständig erklären und das Urteil des Appellationsgerichts von Kentucky auf Grund des Vierzehnten Verfassungszusatzes (Schutz staatsbürgerlicher Rechte gegen einzelstaatliche Übergriffe) aufheben; die Gesetzgebende Versammlung von Kentucky habe »unter Außerachtlassung aller Gesetze und in äußerster Mißachtung des verfassungsmäßigen Rechtes freier Menschen, ihre Herrscher zu wählen«, gehandelt.17 Allerdings war Harlan selbst ein prominenter republikanischer Ex-Politiker aus Kentucky; vorher hatte er freilich als fanatischer »Konservativer« in den Reihen der Republikaner die Rechte der Gliedstaaten gegen Eingriffe des Bundes verteidigt und 1865 sogar eine wütende Pressekampagne gegen den Dreizehnten Verfassungszusatz (Abschaffung der Sklaverei) lanciert, weil er einen »flagranten Einbruch in das Recht der Selbstverwaltung« darstelle.18 Dieser nicht ganz konsequente Jurist konnte sich indes gegen seine Kollegen nicht durchsetzen. Die Demokraten hatten die erste Runde gewonnen.

Schon aber begann die zweite Runde. Die Gouverneurnachwahl für die von Goebel nicht wahrgenommene Wahlperiode sollte im November stattfinden. Der demokratischen Führung kam es entscheidend darauf an, die Aufmerksamkeit der Wähler vom Wahlgesetz, das so viele Proteste ausgelöst hatte, und von der einseitigen Wahlentscheidung der Gesetzgebenden Versammlung abzulenken. Wie wollte man das besser erreichen, als indem man die Republikanische Partei der Mitschuld an Goebels Ermordung bezichtigte? »Die Republikaner sagten: ›Sie haben die Wahlen in ihr Gegenteil umgefälscht‹, und die Demokraten antworteten: ›Sie haben unseren Gouverneur ermordet‹«.19 In den sechs Monaten, die folgten, konzentrierten die, wie es in der republikanischen Wahlpropaganda hieß, »vergoebelten« Demokraten alle Anstrengungen darauf, die Schuld der Republikaner anzuprangern. Für die Festnahme und Strafverfolgung der Mörder setzte die Gesetzgebende Versammlung mit ihrer demokratischen Mehrheit den für die damaligen Zeiten phantastischen Betrag von 100.000 Dollar aus!

Dass man Schüsse abfeuerte, um einen Menschen zu töten, war nach dem Sittenkodex, der im 19. Jahrhundert in Kentucky galt, weder außergewöhnlich noch besonders aufregend. Die Ermordung Goebels fiel nur insofern aus dem Rahmen, als sie die einzigartige Gelegenheit bot, einer der führenden Parteien ein Mordkomplott in die Schuhe zu schieben.

Die Anklagebehörde hatte einen Beamten des Staatsrechnungshofs namens Henry E. Youtsey aufgestöbert, der als Mitverschworener dabei gewesen sein wollte, als aus den Amtsräumen des Staatssekretärs auf Goebel geschossen wurde. Als den eigentlichen Täter bezeichnete Youtsey einen gewissen James B. Howard, der mit den Leuten aus den Bergen nach Frankfort gekommen war. Der Attentatsplan sollte in mehreren Besprechungen ausgeheckt worden sein, an denen auch Gouverneur Taylor und Staatssekretär Powers aktiv teilgenommen hätten. In weiteren nicht minder fragwürdigen Zeugenaussagen wurde eine ganze Anzahl Funktionäre und politisch tätiger Anwälte aus den Reihen der republikanischen Parteiorganisation belastet.

Die Erzählungen der Zeugen fügten sich nur zu genau in die Pläne des demokratischen Parteiapparats ein. Zwar hatte Taylor nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Kampf um das Amt des Gouverneurs aufgegeben und war nach Indianapolis geflohen, und der Staat Indiana verweigerte seine Auslieferung mit der Begründung, in Kentucky werde die Justiz in den Dienst der Politik gestellt. Powers aber war festgenommen worden, als er sich zur Flucht rüstete. Dass die führenden Republikaner versucht hatten, sich einem Gerichtsverfahren durch die Flucht zu entziehen, wurde als Eingeständnis ihrer Schuld ausgelegt und in alle Welt hinausposaunt. Und dass Powers bei seiner Verhaftung außerdem noch eine von Taylor unterzeichnete Begnadigungsurkunde im Hinblick auf angebliche Beteiligung am Goebel-Mord mit sich führte, schien ihn nicht zu entlasten, sondern erst recht zu belasten.

Howard, der Mann, der geschossen haben sollte, bestritt nachdrücklich und beharrlich jede Beteiligung am Attentat und jede Kenntnis von einem Mordkomplott; dasselbe galt von Powers und auch von Taylor, der zwar nie vor Gericht erschien, aber eine schriftliche Aussage unterbreitete. Außer Youtsey meldeten sich keine Augenzeugen. Zweifelhaft war sogar, ob die Schüsse überhaupt aus Powers’ Amtsräumen gekommen seien. Aussagen, die Powers belasteten, muteten von Anfang fraglich an und wurden im Kreuzverhör vollends zerpflückt. Auch sonst waren die meisten Aussagen konfus und voller Widersprüche.20 Entscheidende Zeugen waren auf diese oder jene Weise mitbelastet worden und damit der Anklagebehörde, die ihnen mit Niederschlagung der Verfahren winkte, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Die Geschworenenbank, die über Powers’ Schuld zu befinden hatte, setzte sich ausschließlich aus Demokraten zusammen; der Richter, der den Vorsitz führte, war ein demokratischer Politiker, ehedem stellvertretender Gouverneur von Kentucky.

Die Verantwortung der republikanischen Führung hätte sich nur feststellen lassen, wenn der Zweck der bewaffneten Expedition nach Frankfort eindeutig zu ermitteln gewesen wäre. Hatte Powers die Leute aus den Bergen als Totschläger in die Hauptstadt beordert, damit sie demokratische Politiker umbrächten? Oder waren sie nur gekommen, der Gesetzgebenden Versammlung eine Petition zu unterbreiten, auf dass der Wille der Wähler zur Geltung komme? Der Richter verwarf nicht nur die meisten Rechtsbelehrungsanträge der Verteidigung, sondern gab sich bei der Zusammenfassung des Prozessmaterials auch noch die größte Mühe, dieser überaus wichtigen, wenn nicht gar entscheidenden Frage ihre Bedeutung zu nehmen.21 Vor den Novemberwahlen wurde der Schuldspruch benötigt. Am 17. August 1900 brauchten die Geschworenen dafür – nach sechswöchiger Prozessdauer – nur 20 Minuten. Das Urteil lautete auf lebenslängliches Gefängnis. Parteiführer und Zeitungsleute reagierten so, wie man es hätte erwarten dürfen. Für die Demokraten gab es keinen Zweifel daran, dass die gesamte Republikanische Partei des Mordes für schuldig befunden worden sei. Den Republikanern bewies das Urteil »blitzlichtartig«, dass der Staat in Lebensgefahr schwebe; er sei, sagten sie, an den Rand des Abgrundes gebracht worden.22

Mit dem Powers-Urteil waren indes die Wahlvorbereitungen der Demokraten noch nicht abgeschlossen; zwei weitere Schuldsprüche sollten folgen. Am 5. September wurde auch Howard zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Mit demselben Urteil endete das Verfahren gegen Youtsey, das im Oktober stattfand. Youtsey legte keine Berufung ein und machte in späteren Prozessen Aussagen, die noch andere Angeklagte schwer belasteten. Daraus wurde geschlossen, dass er der Schuldige oder einer der Schuldigen gewesen sein müsse. Die volle Wahrheit ist nie ans Tageslicht gekommen.23

Scharf kritisiert wurde die Taktik der Verteidigung. Der erfahrene Verteidiger weiß, wie anfällig Geschworene für Propagandaargumente sein können; er weiß – mit oder ohne Zynismus –, dass er daran nicht vorbeigehen darf. Gerade unter diesem Gesichtspunkt hat ein führender Anwalt aus Frankfort auf taktische Versäumnisse der Verteidigung hingewiesen: Im ersten Prozess der Serie, der noch vor dem Powers-Prozess geführt wurde, hätten die Verteidiger mit der Anklagebehörde zusammen das Komplott der republikanischen Führung in den Mittelpunkt gestellt und damit den Freispruch des Angeklagten Garnett D. Ripley erwirkt, dem Beihilfe zur Last gelegt worden war; mit derselben Taktik müsse es möglich gewesen sein, die Verurteilung Howards zu verhindern und ihm Jahre im Gefängnis zu ersparen; diesen Weg hätten zwar Powers’ Verteidiger im zweiten Prozess, lauter bekannte Demokraten, eingeschlagen, aber da sei es zu spät gewesen: Ihre republikanischen Vorgänger im ersten Prozess von 1900, denen es hauptsächlich darauf angekommen sei, die eigene Parteiführung reinzuwaschen, hätten bereits zu großen Schaden angerichtet. Allerdings hätte es angesichts der prominenten Stellung des Angeklagten sowieso »ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen« sein müssen, Powers zu verteidigen.24 Das alles mag sehr unverblümt ausgedrückt sein, hat aber manches für sich.

Während die Prozesse weitergingen, näherte sich der Wahlkampf seinem Gipfelpunkt. Bis zum Oktober hatten die Demokraten das Wahlgesetz abgeändert und einen der wichtigsten Streitpunkte hinweggeräumt. Da der Kampf um den Besitz der Macht in Kentucky im Vordergrund blieb und die große nationale Auseinandersetzung zwischen Bryan und McKinley in den Schatten stellte, bemühten sie sich erst recht, die Republikaner als Helfershelfer von Mördern anzuprangern. Die Wahl eines republikanischen Gouverneurs, behaupteten sie, werde automatisch die Begnadigung der bereits Verurteilten und des im Jahre zuvor gewählten, nun flüchtigen Gouverneur Taylor nach sich ziehen.25 Die Wähler wurden davor gewarnt, eine Regierung an die Macht zu bringen, die das Schwurgericht des Kreises Franklin wegen gesetzwidriger Freiheitsberaubung zur Rechenschaft ziehen werde, weil es für die Schuldsprüche in Sachen Goebel verantwortlich sei. Der amtierende Gouverneur Beckham, den die Demokraten zum Gouverneur wählen lassen wollten, machte die Verweigerung der Begnadigung zu einem Hauptpunkt seines Wahlprogramms.

Nicht ganz so einfach ließ sich die Sache der Republikaner präsentieren. Natürlich erklärten sie, sie hätten mit dem Mord nichts zu tun; natürlich sagten sie, die wirklichen Täter müssten bestraft werden; natürlich bestritten sie mit Nachdruck die Schuld ihrer führenden Personen. Sie erinnerten aber auch beredt an Fehlurteile der Gerichte, denen Männer wie Titus Oates und Alfred Dreyfus zum Opfer gefallen seien. Mit solchen Mahnmalen sollte die flagrante Ungerechtigkeit der Goebel-Prozesse unterstrichen und die Begnadigung der Verurteilten durch die Staatsexekutive als die einzige Möglichkeit hingestellt werden, das Unrecht wiedergutzumachen. Den Hintergrund gab das tragische Bild der verblutenden Freiheit ab.26

Ob die Wahlkampfrhetorik auf die Mörder und ihre Hintermänner einschlug oder ob sie die Bemühungen um den Schutz der Freiheit vor »vergoebelten« Demokraten in den Himmel hob: Der Fall Goebel blieb im Mittelpunkt der Wahlkampagne. Das Wahlergebnis zeigte einen kleinen Vorsprung der Demokraten, aber von einem gewaltigen Sieg konnte keine Rede sein. Das Amt des Gouverneurs fiel an Beckham mit einer knappen Mehrheit von 3.700 Stimmen. Die Republikaner gewannen gegenüber dem Vorjahr einige Hundert Stimmen, während die Demokraten nur etwa die Hälfte der Stimmen zurückerobern konnten, die sie im Jahr zuvor an die abgesplitterten »Anhänger ehrlicher Wahlen« und an die Populisten hatten abgeben müssen.

Da Beckham wieder an der Spitze der Staatsexekutive stand, war die Begnadigung der in den Goebel-Prozessen Verurteilten ausgeschlossen. Sie legten Berufung ein, die Prozesse zogen sich jahrelang hin. Howard hatte die Urteile zweimal angefochten und zweimal ihre Aufhebung erwirkt; aber auch ein dritter Prozess trug ihm 1902 lebenslängliches Gefängnis ein. Nach zweimaliger Berufung erreichte Powers 1903 einen dritten Prozess und – wurde zum Tode verurteilt. Noch einmal wurde das Urteil angefochten. Im vierten Prozess 1908, an dem auch republikanische Geschworene und ein etwas objektiverer Richter mitwirkten, kam es zu keinem Urteil, da unter den Geschworenen keine Einstimmigkeit zu erzielen war: Zehn von ihnen stimmten für Freispruch und befürworteten Begnadigung. Die Begnadigung kam, nachdem die Republikaner 1907 alle Staatsämter erobert hatten. Powers wurde nach der Freilassung in einem sicheren republikanischen Wahlkreis als Kongresskandidat aufgestellt und diente anschließend, ohne sich besonders bemerkbar zu machen, vier Gesetzgebungsperioden in Washington ab.

Schon lange vorher hatte die Goebel-Affäre jede öffentliche Wirkung eingebüßt. Auf die Staatswahlen von 1903 hatte sie kaum einen Einfluss; Beckham wurde für eine volle Amtsperiode mit einer wesentlich größeren Mehrheit (26.450 Stimmen) gewählt, als sie in Kentucky in zehn Jahren vorgekommen war. Als die Tabakpächter 1907 das Banner der Rebellion gegen die Demokraten entrollten, war die Erinnerung an den Fall Goebel fast ganz verblasst. Vorübergehend sollten noch auf der politischen Bühne andere Morde und andere Begnadigungen auftauchen, aber keiner dieser Fälle war in ein so einzigartiges Geflecht politischer und juristischer Strategie verwoben; keiner von ihnen wurde zum Brennpunkt eines verzweifelten und allumfassenden Kampfes um die Macht.

Im Detail ist der Fall Goebel hier erzählt worden, weil er so ungewöhnlich durchsichtig ist. Im brutalen Konflikt, von dem Kentucky 1900 geschüttelt wurde, verschmolz der politische Streit auf einzigartige Weise mit der strafrechtlichen Auseinandersetzung. Hätte es einen eindeutigen Beweis dafür gegeben, dass die Führer der Republikaner, um an der Macht zu bleiben und ihre Position im Staat zu festigen, auch vor Mord nicht zurückschreckten, so hätte wahrscheinlich das vereinte Gewicht politischer Interessen, empörten Rechtsbewusstseins und moralischer Entrüstung die Republikanische Partei zerschmettert. Der wirkliche Ablauf der Ereignisse brachte es aber mit sich, dass mit der Kette der Prozesse von 1900 die zentralen Fragen verwischt wurden. Der Teil der Öffentlichkeit, der nicht von vornherein Partei ergriffen hatte, gelangte zu keinem klaren Bild: Die Zeugenaussagen widersprachen einander, so mancher Zeuge wurde als höchst unglaubwürdig bloßgestellt, und der Schleier, der die Tatsachen verhüllte, konnte nicht zerrissen werden.

Es wäre eine nur natürliche Reaktion gewesen, wenn sich Menschen weit und breit vom organisierten politischen Getriebe enttäuscht abgewandt und der Rechtspflege kein Vertrauen mehr entgegen gebracht hätten. Nichts dergleichen zeigte sich bei den Wahlen von 1900. Das politische Kräfteverhältnis blieb nahezu unverändert. Geringfügige Wahlenthaltung traf eher die Demokraten als die Republikaner. Der Riss in den Reihen der Demokraten war – wenn auch nur oberflächlich – zusammengeleimt worden; das genügte, der Partei eine schmale Mehrheit zu verschaffen. Dass es im Wahlkampf im Wesentlichen um Prozesse und Begnadigungen gegangen war, hatte kaum auf eine nennenswerte Zahl von Wählern Eindruck gemacht. Gerade die größeren Probleme der nationalen Politik, die beide Parteien in Kentucky aus dem Wahlkampf hatten heraushalten wollen, spielten bei der Stimmabgabe bezeichnenderweise eine größere Rolle als in den leidenschaftlich geführten Wahlkampfdebatten. Bryan siegte in Kentucky mit einer Mehrheit von 8.000 Stimmen, hatte also gegenüber seinem republikanischen Rivalen McKinley einen doppelt so großen Vorsprung wie Beckham gegenüber dem seinigen.

Die Anklägerrolle, die die Demokraten auf sich genommen hatten, hatte ihnen offenbar in gewissem Umfang geschadet. Wären ihnen die Stimmen der Anhänger der Silberwährung, die sie 1899 verloren hatten, wieder zugefallen, so hätten sie weit mehr Stimmen auf sich vereinigen müssen, als Bryan mit seinen etwas über 200.000 Wählern hatte mobilisieren können. Darüber hinaus scheint die offizielle Mordbeschuldigung die Republikaner weniger Stimmen gekostet zu haben, als sie gleich an dem Tag, an dem Goebel ermordet wurde, verloren und im Lauf des Jahres auf dem Altar des »Kreuzes aus Gold« geopfert haben mögen, das die großen Monopole und die Goldwährung nach Bryans geflügeltem Wort dem amerikanischen Volk aufgebürdet hatten.

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