Buch lesen: «Politische Justiz», Seite 6

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Viel ernster wurde der als Bedrohung der äußeren Sicherheit des Staates angesehene Verrat genommen. Sofern die Schuldigen fremde Staatsangehörige waren, wurde er oft, wenn auch nicht durchgängig, als Spionage bezeichnet und behandelt. Landesverrat in diesem Sinne traf nicht eine bestimmte verfassungsmäßige Ordnung, deren Umgestaltung bei der nächsten Wendung des politischen Geschicks oder mit dem Anbruch eines neuen Stadiums der gesellschaftlichen Entwicklung fällig sein mochte. Landesverrat bedrohte die Existenz des politischen Gesamtgebildes, nicht die vergängliche und wandelbare Form des Staatswesens, sondern den Nationalstaat selbst, und unterlag entsprechend schwerer Bestrafung.27

Seit sich der Nationalstaat als die endgültige Form der politischen Organisation der Gesellschaft durchgesetzt hatte, wurde Einvernehmen mit dem Feind mit den Merkmalen der schlimmsten aller Todsünden ausgestattet, wie sich beispielhaft in der Dreyfus-Affäre gezeigt hat. Umgekehrt wurden Politiker wie Boulanger oder Déroulède, die ja nur Komplotte schmiedeten, um sich in den Besitz der Macht zu setzen, eher als Gestalten aus einer komischen Oper behandelt. So wurde Déroulède, damals Führer der rechtsradikalen Patriotenliga, nach seinem missglückten Versuch von 1899, den General Roget zum Marsch auf den Elysée-Palast zu bewegen, lediglich eines Vergehens angeklagt und dementsprechend von einem Schwurgericht abgeurteilt. Vergebens verlangte er, wegen versuchten Umsturzes vor die Haute Cour gestellt zu werden. Erst nachdem er von den Geschworenen freigesprochen worden war, versuchte die Regierung, die Haute Cour für zuständig zu erklären, hatte jedoch damit keinen Erfolg.28 Prinzipiell hatten sich im 19. Jahrhundert der Liberalismus und der Nationalismus als Partner zusammengefunden und als einzig denkbare Daseinsform des politischen Gebildes den nach außen abgegrenzten Nationalstaat aus der Taufe gehoben. Damit war aus der Freiheit eine eingehegte Bahn geworden, auf der man sich innerhalb der Schranken der nationalen Ordnung zu bewegen hatte.

Strafbestimmungen gegen die Verunglimpfung des gekrönten Herrschers wurden beibehalten oder durch neue Bestimmungen zum Schutze des ungekrönten Staatsoberhauptes ersetzt. Jedoch galt der Schutz jetzt mehr der öffentlichen Funktion als der Person des Herrschers; das Gesetz behütete die personifizierte Staatsautorität, nicht mehr das symbolische Bild einer von Vertretern der göttlichen Macht gesalbten Majestät.29 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfuhr dieser weniger bedeutende Teil des Schutzpanzers der Staatsgewalt häufigere und heftigere Angriffe als alle anderen Bestandteile der staatlichen Rüstung. Da die Institution, die da geschützt wurde, die konstitutionelle Monarchie, besonders empfindliche Schwächen aufwies, konnte es wohl kaum anders sein.

Strafverfolgungen wegen Majestätsbeleidigung gab es noch in Hülle und Fülle in Ländern, an deren Spitze konstitutionelle Monarchen standen; in Deutschland allein wurden 1894 622 solche Fälle, 1904 noch 275 Fälle registriert.30 Das ergab sich aus der Struktur der Staatsform. Angriffe auf Kabinette, die dem Parlament nicht verantwortlich waren und nicht den Willen einer Parlamentsmehrheit repräsentierten, trafen automatisch die Person oder Institution, der es oblag, das Kabinett einzusetzen. Und jedes Mal wenn es vor Gericht verteidigt werden musste, wurde das Prestige der Monarchie von neuem heftig angenagt. Es machte nicht viel aus, dass der Wahrheitsbeweis für die beleidigenden Äußerungen nicht angetreten werden durfte31 oder dass die Aburteilung der Majestätsbeleidiger durch Geschworenengerichte mit allen Mitteln verhindert wurde.32 Mochte das Gericht aussehen, wie es wollte: Die Öffentlichkeit der Verhandlungen gestattete eine weithin publizierte Kritik an der Regierung. Von der Parlamentstribüne aus hätte sie nicht wirksamer vorgetragen werden können.

Angesichts der rückläufigen Welle der Verbrechen gegen den Staat mochte die Flut der Strafverfolgungen wegen Beleidigung des gekrönten Herrschers wie eine Anomalie anmuten. Was sich in ihr widerspiegelte, war die charakteristische Tatsache, dass die politische Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Mängel und Gebrechen der mitteleuropäischen Verfassungssysteme mit Sanftmut, ja fast mit verspielter Duldsamkeit reagierte.

3. Staatsschutz in der Gegenwartsgesellschaft

Im ganzen gesehen hat das System des eingeschränkten, unentschlossenen und von Gewissensbedenken belasteten Staatschutzes, wie es sich im 19. Jahrhundert kundgetan hatte, den ersten Weltkrieg, die symbolische Grenzscheide zwischen dem sterbenden Zeitalter des konstitutionellen Liberalismus und der turbulenten neuen Epoche der Massendemokratie und der totalitären Herrschaft, nicht überlebt. Die Revolution in Russland hat – anders als ihre französische Vorgängerin im 18. Jahrhundert – nicht eine fünfzigjährige Ära der Konsolidierung, Restauration und Befriedung eingeläutet. Von ihr und ihren Ausläufern wurde – mochte sie siegen oder Niederlagen erleiden, mit Unbehagen geduldet oder von den wütenden Gegenschlägen des Faschismus und des Nationalsozialismus getroffen werden – allen zum Schutz der bestehenden Staatsgebilde unternommenen gesetzgeberischen Bemühungen des Zeitalters ein unauslöschlicher Stempel aufgeprägt. Die Staatsschutzgesetzgebung der Gegenwart weist aber auch andere, nicht minder kennzeichnende Geburtsmale auf: Unverkennbar sind die Spuren, die die wechselvollen Schicksale des nationalstaatlichen Gebildes, sein endgültiges Reifen, sein Niedergang und seine fortschreitende Zersetzung, hinterlassen haben.

Was die Staatsräson des 18. Jahrhunderts zu einer wirksamen Maxime politischen Handelns hatte werden lassen, war die allgemein akzeptierte Daseinsvoraussetzung, wonach die Bevölkerung jedes einzelnen Staates von der Bevölkerung aller anderen Staaten nahezu völlig abgeriegelt war und in diesem Zustand auch belassen werden sollte. Für die aristokratischen Regierungen, die sich in ihren Herrschaftsgebieten sicher fühlten, waren die zwischenstaatlichen Beziehungen eine berechenbare Sache, die ihrem Wesen nach außerhalb der Reichweite innerer Konflikte lag; es bestand nicht die Gefahr, dass das Volk in die Jagdgehege der Regierenden einbrechen könnte.33 Die Ausweitung des Verkehrs und der Verbindungen über die Staatsgrenzen hinweg, das eigentliche Wahrzeichen des industriellen Zeitalters, kündigte einen Wandel schon zu der Zeit an, da die Nationalstaaten entstanden und sich konsolidierten. Unmittelbar berührte das allerdings noch nicht die Bindung des Staatsbürgers an die Nationalgebilde, die aus der mühevollen Arbeit der Bürokratie, den ideologischen und materiellen Bedürfnissen der Mittelschichten und den Sehnsüchten und Hoffnungen der bis dahin in das staatliche Dasein nicht eingegliederten Massen hervorgegangen waren. Wirkliche Zweifel an der Existenzberechtigung des Nationalstaats brachten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Jünger Marx’ und Bakunins auf; dass ihre drohenden Gesten nicht sehr ernst zu nehmen waren, zeigte dann später das klägliche Versagen der Zweiten Internationale.

Der erste Weltkrieg bezeichnete den Gipfelpunkt der nationalstaatlichen Entwicklung. Seit den ersten Nachkriegsjahren ist der Weg des Nationalstaats mit Zweifeln und Ängsten gepflastert. Die neue Welt, die keine Entfernungen kennt, erlaubt es weltweiten Interessengruppierungen und politischen Bewegungen, sich dem Wirkungsbereich der nationalen Rechtsordnung zu entziehen. Indes höhlen die organisierten Interessen die nationalen Bindungen nur in einer begrenzten, hauptsächlich wirtschaftlichen Ebene aus; von papiernen Projekten abgesehen, haben sie davon Abstand genommen, neue, überstaatliche Treueverpflichtungen zu begründen. Die internationale Partei oder die internationale Bewegung streckt ihre Arme nach weiter gespannten Zielen aus.

Das faschistische Eroberungsprogramm mit dem Aushängeschild einer »Neuen Ordnung«, das einen zugegebenermaßen ethnozentrischen Imperialismus kaum verhüllte, hat die Dämme und Deiche des Nationalstaates und seinen Monopolanspruch auf patriotische Treue so beschädigt, dass sie nicht wieder instand gesetzt werden können; die staatlich begrenzte »Nation« erlag der biologischen »Rasse« mit ihren im operativen Interesse einer Weltreichsstrategie je nach Bedarf neu zu ziehenden Demarkationslinien. Mit noch größerer zerstörerischer Gewalt hat der Universalitätsanspruch der Kommunisten die souveräne Hoheit des Nationalstaats getroffen.

Bewegungen solcher Art erheben, sobald sie an der Macht sind, Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam. Und obgleich sie darauf aus sind, die einengenden Eigentümlichkeiten des Nationalstaates zu zerschlagen, hat ihr eigener Expansionsdrang mächtige Gegenantriebe innerhalb und außerhalb ihrer Herrschaftssphäre hervorgebracht, die der Anhänglichkeit der Staatsbürger an ihre jeweiligen Staatsgebilde neue Kraft geben, ganz gleich, ob diese Staatsgebilde dem Begriff »Nation« im Sinne der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts Genüge tun oder nicht. Das Staatsgebilde als solches ist heute die Verkörperung des Nationalen, der das Individuum patriotische Hingabe schuldet; das gilt für das totalitäre Imperium, in dem eine Herrennation über eine Anzahl untergeordneter Nationen herrscht, ebenso wie für einen aus vielen Nationen bestehenden Bundesstaat oder für überlebende Exemplare der alten Nationalstaatsgattung.

Einförmig ist das Bild allerdings ganz und gar nicht. Je größer der Bereich der noch verbleibenden nationalen Aktionsfreiheit, um so größeren Einfluss behalten nationale Bindungen auf das Denken und auf einzelne politische Bewegungen, umso weniger schrumpft das Nationale zum traditionellen Hilfsmittel für den territorialen Umbau von Staatsgebilden zusammen. Aber auch dort, wo – wie etwa in Westeuropa – nationale Bindungen an Bedeutung verlieren, weil neue Mittelpunkte überstaatlicher Zusammenfassung bestimmter gesellschaftlicher Lebensbereiche entstehen und die Interessenrichtung neue Brennpunkte bekommt, sind neue Symbole noch lange nicht in vollem Umfang an die Stelle der alten nationalen getreten.34 Die Folge ist eine eigenartige Übergangsperiode, die sowohl den nach festen neuen Bindungen Suchenden als auch denen, die die zerfaserten alten zusammenflicken und verstärken sollen, viel zumutet.

Obschon der Staat nach wie vor im Mittelpunkt des staatsbürgerlichen Bezugssystems steht, überschreiten heute einzelne Staatsbürger in stets wachsender Zahl – sei es in Geschäften, sei es aus Familiengründen, sei es als Touristen – die Landesgrenzen; diplomatische, wirtschaftliche und technische Agenten der internationalen Zusammenarbeit oder des internationalen Umsturzes müssen ohnehin im überstaatlichen Rahmen operieren. Doch sind das kleine Gruppen. Überdies werden die international tätigen Personen dem übernationalen Bereich oft nicht mit dem Auftrag zugeteilt, neue, internationale Bindungen zu begründen, sondern viel eher mit dem eindeutigen Auftrag, die alten nationalen Treueverpflichtungen zum Ausdruck zu bringen, zu vertreten oder zu propagieren. Ihrerseits haben die Volksmassen, sofern sie überhaupt in die Sphäre politischen Handelns hineingezogen werden, auf Umwegen stärkere patriotische Zugehörigkeitsgefühle entwickelt. Ihre Organisationen identifizieren sich mit der nationalen Sache und verschaffen sich damit eine wirksame Möglichkeit, den Druck der Massen gegenüber dem nationalen Staatsgebilde geltend zu machen und zugleich den Zusammenhalt ihrer Mitgliedschaft zu festigen. Das erhöht sowohl ihr eigenes Prestige als auch das Prestige der Massen, in deren Namen sie sprechen. Nationalstolz und nationale Bestrebungen dienen als bequemer Hebel zur Einflussnahme auf das Regierungspersonal und auf die ständig wachsenden Sozialdienste, die der Staat organisiert.35

Internationale Vereinbarungen über die Herstellung, Normung und Verteilung zahlreicher Waren – von Rüstungen bis zur Unterhaltung – können die Substanz des nationalen Lebens, namentlich in kleineren Ländern von minderem politischem Rang, zunehmend verarmen lassen. Aber internationale Einflüsse erreichen den letzten Verbraucher und Steuerzahler nur über das nationale Medium. Als Antrieb zu politischem Handeln bedeutet der Patriotismus zwar nicht mehr übermäßig viel, aber er erweist sich immer noch als taugliches Fundament für die Gesetzgebung zum Schutze des Staates. Gerade im Wettstreit mit den neuen staatlichen Kristallisationskernen von Treuebindungen und Treueverpflichtungen hat diese einzelstaatliche Gesetzgebung ihre Reichweite sprunghaft und ruckweise ausgedehnt. (Bindungen an die katholische Kirche, die in früheren Zeiten schwerer wogen als patriotische Pflichten, haben einen wesentlichen Wandel durchgemacht: Der übernationale Geltungsanspruch der Kirche ist insofern schwächer geworden, als ihre nationale Hierarchie in der Gegenwart entscheidend daran interessiert ist, sich den in der Demokratie geltenden Bedingungen organisierten Handelns anzupassen; solange die Kirche im gerade herrschenden System nicht einen grundsätzlichen Gegner des Gesamtkomplexes ihrer Glaubensvorstellungen und Integrationsmittel sieht, operieren ihre nationalen Einheiten in einem Rahmen, der in vielem dem Tätigkeitsrahmen der interessenorientierten Pressionsgruppen gleicht.)

Der Schutzpanzer des Staates wird, welche Struktur das einzelne Staatsgebilde auch haben möge, immer vielschichtiger und härter. Um sich den Wandel zu vergegenwärtigen, braucht man nur den hektischen Geist der heutigen Vorkehrungen für die Staatssicherheit mit der ruhigen Gelassenheit zu vergleichen, mit der vor dem ersten Weltkrieg in Kreisen der Regierungsbürokratie über geplante, aber nie verwirklichte Kampfmaßnahmen gegen die erstarkende sozialistische Bewegung und ihre um sich greifenden Agitationskampagnen beraten wurde.36 Die erste Folge dieses Wandels ist, dass der im 19. Jahrhundert richtunggebende Unterschied in der Einstellung zur äußeren und zur inneren Staatssicherheit seine durchschlagende Wirkung verliert. Die alten traditionellen Bestimmungen, die der inneren Sicherheit des Staates galten, werden, auch wenn sie offiziell in Kraft bleiben, von einem reißenden Strom neuer Gesetze hinweggespült.

Dabei verliert sich die unterschiedliche Behandlung innerer und äußerer Gefahren. Beides verschmilzt in Begriffen wie »moralische Zersetzung« (der Armee oder des Staates) oder »Gefährdung der Unabhängigkeit« (des Staates oder Staatenbundes). Charakteristisch dafür sind beispielshalber: in Frankreich die Artikel 76 Absatz 3 (vom 9. April 1940) und 76 Absatz 3d (vom 11. März 1950) des Code Pénal, die bei der Neufassung der Sicherheitsgesetzgebung im Juni 196037 zu einem neuen Artikel 71 Absatz 4 zusammengefasst worden sind; in der Schweiz Artikel 266 des Strafgesetzbuches in der Fassung vom 5. Oktober 1950.38 In der erwähnten Neufassung der französischen Dauerbestimmungen über Verstöße gegen die Staatssicherheit (die von zahlreichen Sonderbestimmungen für die algerische Kriegssituation zu unterscheiden sind) ist der Begriff der »äußeren Sicherheit« sogar aus den Überschriften verschwunden und in einem allumfassenden Sicherheitsbegriff aufgegangen.39

Im Gefolge der neuen politischen Konstellation mit ihren neuartigen Sicherheitsvorstellungen findet ein seit langem schwelender Konflikt zwar keine geistige Lösung, aber eine gesetzgeberische Regelung. Soll der Freiheit des Individuums der größtmögliche Spielraum gewährt, sollen die Verbote und Strafen auf eindeutig definierbare Handlungen beschränkt werden, die ein fortgeschrittenes Stadium in den gewöhnlich als »Unternehmen« oder attentat gekennzeichneten Bemühungen um den gewaltsamen Sturz der politischen Ordnung anzeigen? Oder sollen bereits die frühesten Äußerungen einer feindlichen Haltung, die in sich vielleicht gar keine Folgen einschließen, im Keime erstickt werden? Einstweilen überwiegt die Neigung, schon potentiell staatsfeindliches Verhalten unter Strafe zu stellen.

Die Rechtsprechungspraxis war der gesetzgeberischen Neuerung schon lange voraus. So setzte sich in Frankreich schon in den zwanziger Jahren, wenn auch nicht auf die Dauer, eine den strafbaren Tatbestand erweiternde Auslegung des Gesetzes durch: Die Gesetze von 1883/84, die zur Bekämpfung des damaligen Anarchismus der »direkten Aktion« geschaffen und von einem wenig respektvollen Publikum »Schurkengesetze« getauft worden waren, wurden nunmehr auf kommunistische Propagandabemühungen, vor allem auf kommunistische Armeepropaganda angewandt. In Deutschland wurde dasselbe Ziel in einem viel weiteren Rahmen dadurch erreicht, dass die Gerichte dem Begriff des »Unternehmens« einen neuen Inhalt unterschoben. Schon in der Frühzeit der Weimarer Republik40 hatten die Gerichte entschieden, dass ein staatsfeindliches Unternehmen, jedenfalls ein von Kommunisten ausgehendes, strafbar sei, auch wenn eine konkrete umstürzlerische Absicht nicht bewiesen werden könne und die Erfolgsaussichten nur geringfügig seien.41 Dieselbe Methode hatte sich in das Bukett von Gesetzen gegen »Aufruhr« und »verbrecherischen Syndikalismus« eingeschlichen, die in den Jahren nach der Russischen Revolution von einzelnen USA-Gliedstaaten erlassen wurden. Viel später, in einer Welt, die nun schon unter dem Eindruck der Konsolidierung und Ausbreitung des Bolschewismus stand, wurde diese Lehre vom amerikanischen Richter Learned Hand in seine Marginalglosse zur »offensichtlichen und unmittelbaren Gefahr« von neuem aufgenommen.42

Derselbe Wandel in der Haltung zeigte sich auf einem nahe verwandten Gebiet. Von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in der glücklichen Ära des niedergehenden Absolutismus und des Aufstiegs konstitutioneller Monarchien und liberaldemokratischer Ordnungen, wurde der Unterschied zwischen politischen und gewöhnlichen Straftaten von der öffentlichen Meinung und unter ihrem Druck auch von den Organen der Staatsgewalt oft anerkannt, selten in Frage gestellt. Dass sich der Staat, so wurde argumentiert, gegen seine Feinde sichern müsse, bedeute keineswegs, dass man den erkannten Feind als ehrlosen Schuft brandmarken müsse.43 Dabei mögen gewiss psychologischer und soziologischer Optimismus und romantische Hoffnungen eine Rolle gespielt haben.44 Aber jedenfalls führte diese Haltung dort, wo sie sich durchzusetzen vermochte, dazu, dass dem politischen Delinquenten besondere Vorrechte eingeräumt wurden. Eine besondere Skala sogenannter Ersatzstrafen wurde ersonnen; bisweilen fiel sogar die Todesstrafe weg; eine besondere Form von custodia honesta, der jeder ehrenrührige Beigeschmack abging, wurde geschaffen; unter gewöhnlichen Gefängnisbedingungen wurde den »Politischen« ein Mindestmaß an Sonderbehandlung zugestanden; in der Regel behielten sie die bürgerlichen Ehrenrechte. Seit dem Ersten Weltkrieg ist diese großmütige Haltung überall im Rückgang begriffen. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen zeigen eine starke Neigung, den politischen Täter in vieler Beziehung, außer vielleicht in Bezug auf Auslieferung, auf die Stufe des gewöhnlichen Kriminellen zu stellen.45 Hin und wieder gibt es Proteste und Zweifel, wenn die Streichung der Sondervorrechte gewichtige Bevölkerungsschichten trifft – wie zum Beispiel im Gefolge der Nachkriegsprozesse gegen Kollaborateure in verschiedenen westeuropäischen Ländern.46 Nur wenige protestierende Stimmen lassen sich indes vernehmen, wenn die Opfer kleineren und weitgehend unpopulären Gruppen am Rande der Gesellschaft angehören.47

In den demokratischen Regierungssystemen ist die neue Gesetzgebung, die ältere Modelle der Unterdrückung und Bestrafung festigte und ausweitete, in zwei Wellen emporgekommen. Die erste Welle überzog Westeuropa am Vorabend des zweiten Weltkrieges und in seinen Anfangsstadien. Die zweite folgte dem Nachkriegsansturm der kommunistischen Expansion; sie nahm ihre endgültige Gestalt in den fünfziger Jahren an und ergriff vor allem die Länder, die vor Beginn der kommunistischen Offensive im Herrschaftsbereich der faschistischen Mächte oder in seiner Nähe gelegen hatten. Eins ist all diesen gesetzgeberischen Neuerungen gemeinsam: Sie beschränken strafbare Handlungen nicht auf die direkte Beteiligung an Bemühungen zum gewaltsamen Sturz der bestehenden Staatsordnung. Indem sie äußere und innere Sicherheit auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wollen sie die politische Ordnung vor jeder in der Endwirkung auf eine Revolution gerichteten geistigen, propagandistischen und namentlich organisatorischen Aktivität bewahren.48 Wenn die Gerichte prüfen, wie sich die angewandten Mittel zum gewollten Zweck verhalten, brauchen sie nun nicht mehr die Größe der Gefährdung des Staatsgebildes zu messen oder die Tragweite der den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen zu untersuchen. Solchen Überlegungen scheint deswegen keine große Bedeutung mehr zuzukommen, weil die zentrale und überragende Gefahr darin gesehen wird, dass es angesichts der spezifischen Funktionsweise der Demokratie nicht möglich sei, die politischen Gegner daran zu hindern, von den demokratischen Rechten und Freiheiten zur Zerstörung von Recht und Freiheit Gebrauch zu machen.

Eben deswegen vermögen einschränkende Kriterien die Unbestimmtheit des neuen Umsturzbegriffes nicht zu korrigieren; eben deswegen wird der Gesamthaltung der angeschuldigten Gruppierung größeres Gewicht beigelegt als den tatsächlichen, mitunter belanglosen Erscheinungsformen eines Handelns, von dem angenommen wird, dass es revolutionär sei. Gelegentlich wird der Versuch gemacht, die Grenzen zwischen loyaler und staatsfeindlicher Opposition genau festzulegen. Das unternimmt zum Beispiel der neue § 88 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik, indem er dem politischen Charakter dessen, was als »Verfassungsverrat« angesehen werden soll, inhaltliche Bestimmungen zu geben sucht. Auf Grund dieser Bestimmungen wurde schon vor dem Verbot der Kommunistischen Partei die Organisation zentral gelenkter Kampagnen für eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für ein frühes Ableben des Regimes als Gründung und Förderung einer gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten Vereinigung unter Strafe gestellt.49 Nebenbei machen es die neuen Strafvorschriften unnötig, den Begriff des »hochverräterischen Unternehmens« erweiternd auszulegen. Da der Gesetzgeber einen vollgültigen Ersatz geliefert hat, kann das Gericht jetzt – ein Pyrrhus-Sieg für die Verteidigung – zugeben, dass der Tatbestand eines »bestimmten hochverräterischen Unternehmens« an einen »zeitlich und gegenständlich bestimmten Plan« gebunden sein und mehr umfassen muss als bloß regimefeindliche Propaganda.50 Zu den konkretisierten Bestimmungen über Verfassungsverrat kommen indes nunmehr auch detaillierte Bestimmungen darüber hinzu, was etwaige Propagandabeziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen im Inland und Personen oder Institutionen im Ausland gesetzwidrig und strafbar macht.

Da die eigentliche Substanz der staatlichen Autorität ständigen Angriffen ausgesetzt ist, müssen die Träger dieser Autorität über den Schutz der Staatsinstitutionen und des entsprechenden Dekorums wachen. Eine Fülle neuer Bestimmungen bekämpft die Respektlosen, die Übelwollenden, die Widersacher, die Lügen verbreiten. Die zuletzt genannte Spezies kommt nicht selten vor; anstatt die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist, und negative Interpretationen der Zustände auszuschlachten, versorgen die der bestehenden Ordnung grundsätzlich feindlichen Gruppen ihre Kundschaft mit einer radikal verzerrten Version der Wirklichkeit: Entweder wissen sie’s nicht besser – oder es kommt ihnen nur auf die vorausberechnete Wirkung an. Dagegen wehren sich die Hüter des Bestehenden. Wer sich an der Spitze der Staatsgewalt oder in ihrer Nähe befindet, wird durch einen höheren Straftarif geschützt, obschon die Vergeltung durch die dem Übeltäter belassene Möglichkeit eingeschränkt sein kann, seine Behauptungen zu beweisen.51 Strafbar ist schon die Beschimpfung oder Verächtlichung der verfassungsmäßigen Ordnung oder ihrer Symbole und Träger als gewollter Ausdruck einer feindseligen Einstellung zur Staatsautorität. Wird die publizistische Herabsetzung bestehender Institutionen als staats- oder verfassungsgefährdend angesehen, so können daraus strafverschärfende Wirkungen entstehen.52

Die aus feindseliger Absicht erfolgende Verbreitung tatsächlicher Behauptungen kann auch dann verderblich sein, wenn sich die Behauptungen als erlogen erweisen lassen; wird aber das Behauptete als wahr erhärtet, so entsteht daraus leicht gefährlicher Sprengstoff von hoher Brisanz. Üble Nachrede, die das Prestige der Machthaber vernichten soll, verkleinert oft den Abstand zwischen den machtlosen Verächtern der Staatsgewalt und denen, die ihnen als Zielscheibe dienen. Zwischen diesen beiden Polen ist das Feld echter politischer Kritik von Wolken verhängt; sie lassen die Lichtstrahlen nicht durch, die Tatsachen von Phantasien und Wünschen trennen könnten. Was da zusammenfließt, auseinanderzuhalten und den Beitrag der böswilligen Verleumdung auszuscheiden, ist nicht einfach. Manche neuen Gesetze vernachlässigen diese Schwierigkeit und zerren legitime Kritik in den Bereich strafbarer Handlungen. So sichert der neue § 109d des westdeutschen Strafgesetzbuches der Bundeswehr einen besonderen Schutz vor Verleumdungen zu: »Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art, deren Verbreitung geeignet ist, die Tätigkeit der Bundeswehr zu stören, wider besseres Wissen zum Zwecke der Verbreitung aufstellt«, setzt sich einer Gefängnisstrafe aus. Gefängnis droht auch dem, »der solche Behauptungen in Kenntnis ihrer Unwahrheit verbreitet, um die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgabe der Landesverteidigung zu behindern.«

Als Kritiker dieser Bestimmung, ihrer Dehnbarkeit und Unbestimmtheit war im Bundestag der sozialdemokratische Sprecher Adolf Arndt aufgetreten, selbst Anwalt, vor dem Richter und Staatsanwalt.53 Ihre Anwendung hätte beinahe zu einem wütenden Zusammenstoß zwischen gläubiger pazifistischer Gesinnung und der offiziellen Regierungshaltung geführt, hätte nicht ein weiser Staatsanwalt das eingeleitete Strafverfahren gegen den Beleidiger der Bundeswehr niedergeschlagen. Denn der Beleidiger war Kirchenpräsident Martin Niemöller, der die Ausbildung zum Soldaten im modernen Heer der Ausbildung von »Kommandos« im letzten Krieg gleichgestellt und als »Hohe Schule für Berufsverbrecher« bezeichnet hatte. Die Staatsanwaltschaft umging die Paragraphenfalle, indem sie feststellte, Niemöller habe »keine unwahren oder gröblich entstellten Behauptungen tatsächlicher Art aufgestellt«, sondern »ein aus den Tatsachenbehauptungen bezüglich der Massenvernichtungswaffen gefolgertes Werturteil« abgegeben, und eine Verurteilung wegen Beleidigung kam nicht in Frage, weil Niemöller niemanden hatte beleidigen wollen und die Staatsanwaltschaft nicht daran zweifelte, dass er seine Äußerungen in Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht hatte.54

Mit der Verschärfung der Beleidigungs- und Verleumdungsbestimmungen ist die Fülle der neuen politischen Strafvorschriften nicht erschöpft. Eins der neuesten deutschen Gesetzeswerke, das Sechste Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. Juni 1960, sieht in der Aufstachelung »zum Haß gegen Teile der Bevölkerung« einen strafbaren Angriff auf »die Menschenwürde anderer.« Dasselbe Gesetz betritt das gefahrenreiche Terrain des Vorgehens gegen Symbole verbotener Organisationen in der Öffentlichkeit oder in Kommunikationsmedien.55 Zu beachten sind auch die Strafbestimmungen des neuen Artikels 226 des französischen Code Pénal vom Dezember 1958; hier wird den Gerichten der weitestgehende Schutz gegen jede nicht rein technische Kritik gewährt, sofern sie »unter Umständen, die geeignet sind, der Autorität der Justiz oder ihrer Unabhängigkeit Eintrag zu tun«, gerichtliche Handlungen oder Entscheidungen »in Mißkredit zu bringen sucht.«56 Nicht umsonst hat Maurice Garçon, der versierte Praktiker der Advokatur, bemerkt, dass das 18. Jahrhundert viel liberaler gewesen sei: Schließlich habe es Voltaire erlaubt, sich mit heftigen Angriffen auf die Richter für die Rehabilitierung des Andenkens des widerrechtlich verurteilten Calas einzusetzen; erst recht gelte das von den Anfängen des Kampfes um die Freilassung von Dreyfus: die Aktion habe in Angriff genommen werden müssen, lange bevor daran gedacht werden konnte, das für eine Revision des Urteils erforderliche Beweismaterial zusammenzutragen.57

Dass gesetzliches Rüstzeug für die Richter auf Hochtouren produziert wird, besagt nicht notwendigerweise, dass dies Rüstzeug unbedingt Verwendung finden muss. Die Eilarbeit der Gesetzgebungsfabrik ergibt sich aus den Ängsten des Augenblicks; ihre Produkte wirken wie Beruhigungspillen. Anders ausgedrückt: Man entwirft eine Konstruktions skizze, die genaueren Daten wird man je nach Bedarf später einsetzen – oder das Ganze in den Papierkorb werfen. Eine Bestandsaufnahme dieser Gesetzgebung entspricht einer Lagerinventur: Was verkauft werden kann, wird sich später herausstellen. Der Sicherheitsschutz des Staates ist überaus dehnbar. Auf keinem anderen Gebiet gibt es eine größere Kluft zwischen dem, was möglich ist, und dem, was wirklich geschieht; auf keinem anderen Gebiet hängt die Handhabung der Praxis in noch höherem Maße ab von den Erfordernissen der Stunde, den Stimmungen der Bürokratie und der Vorausschätzung von Gewinnen und Verlusten, die sich in der Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung und in den Reaktionen der von Sanktionen bedrohten Gruppen niederschlagen.

Das seines demokratischen Ausgleichs sichere England darf glauben, dass es sich leisten kann, mit gesetzgeberischen Regelungen und ihrer Vollstreckung sparsam umzugehen; es kann Sicherheitsmaßnahmen auf den Spionagekomplex beschränken und weitergehende Eingriffe ins politische Leben ausschließen. Sogar angesichts der Gefahr einer Lawine von race riots, Krawallen und pogromartigen Ausschreitungen gegen Menschen von dunklerer Hautfarbe, zeigt die englische Öffentlichkeit beträchtliche Hemmungen, auf den Hebel einer restriktiven Gesetzgebung zu drücken.

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