Buch lesen: «Politische Justiz», Seite 14

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5. Prozesspraxis außerhalb des rechtsstaatlichen Raums

Rechtsstaatliche, verfassungsmäßige Regierungen haben es in der Geschichte nicht selten zuwege gebracht, die Betätigungsmöglichkeit ihrer Gegner drastisch zu beschneiden. Wenn sie aber diese Gegner aus dem Leben des Staatsgebildes ganz und gar – sei es durch Tod, sei es durch Freiheitsentzug – ausschalten wollen, müssen sie sich der Apparatur des Gerichts bedienen und alle vorher beschriebenen Risiken und Gefahren, die einem solchen Verfahren anhaften, auf sich nehmen. Wenn hier von rechtsstaatlichem oder nichtrechtsstaatlichem Raum, von verfassungsmäßigen oder nichtverfassungsmäßigen Bedingungen die Rede ist, so ist damit keine polemische Absicht verbunden. Dass ein Regime außerhalb des rechtsstaatlichen Raumes liege oder nicht unter verfassungsmäßigen Bedingungen funktioniere, sind Kurzformeln, die zwei Dinge bezeichnen sollen: einmal ein hohes Maß der Unterordnung des Justizapparats unter die politische Herrschaftsstruktur der Gesellschaft, zum andern das, was daraus folgt: dass die Gerichte beim Ausgleich der Interessen des Einzelmenschen auf der einen und der herrschenden Staatsordnung auf der anderen Seite keine oder eine nur geringfügige Rolle spielen.

Unter solchen nichtverfassungsmäßigen Bedingungen ist der Gerichts prozess nicht das einzige oder unumgängliche Mittel, mit dem aktive oder früher aktive politische Gegner aus dem Weg geräumt werden können; erst recht gilt das von Menschen, die nur »objektiv« als Gegner erscheinen, das heißt von Angehörigen bestimmter Kategorien, deren Regimefeindlichkeit nicht auf Grund konkreter Beschuldigungen festgestellt, sondern aus abstrakten, der (gesellschaftlichen, nationalen oder ethnischen) Kategorie zugeschriebenen Merkmalen abgeleitet wird. Man kann sich seiner Gegner auch mit rein administrativen Maßnahmen entledigen: Man kann sie ohne jedes Verfahren töten, auf völlig unbestimmte Zeit ins Gefängnis werfen oder verbannen oder auch zeitlich begrenzte Haft- oder Verbannungsmaßnahmen anordnen. Ob administrative oder gerichtliche Beseitigung der Gegner vorgezogen wird, entscheidet sich nach Gesichtspunkten, die selten starr oder für längere Zeit fixiert zu sein pflegen.90 Warum ist zum Beispiel das Sowjetregime nicht dem Revolutionsvorbild Englands und Frankreichs gefolgt und hat dem Zaren keinen Prozess gemacht, in dem sich das gewaltige Schuldkonto der zaristischen Politik hätte aufrechnen lassen? Dafür sind von Trockij drei Gründe aufgezeichnet worden: die Ungewissheit über den weiteren Verlauf des Bürgerkrieges, das Bedürfnis, Anhängern und Gegnern der neuen Ordnung gleichermaßen einzuprägen, dass es einen Weg zurück nicht geben könne, und die vor allem von Lenin betonte Überlegung, dass die Durchführung eines Gerichtsverfahrens die im Hinblick auf das »Prinzip der dynastischen Erbfolge« notwendige Hinrichtung der gesamten Familie des entthronten Herrschers unmöglich machen werde.91

Die gerichtliche Urteilsfindung setzt voraus, dass das konkrete Verschulden bestimmter Personen vorgebracht und erhärtet wird, und damit verengt sich die Möglichkeit der Wahl zwischen gerichtlichen und administrativen Mitteln. Den rein objektiven Kriterien, nach denen die Entscheidung zu treffen ist, kann gewiss, wenn das verhaftete Opfer mitmacht, Genüge getan werden, so dass das Verfahren doch noch den Anschein behält, als werde die persönliche Verantwortung für bestimmte strafbare Handlungen ermittelt; aber die Zahl der Fälle, in denen sich das, was wirklich vorgefallen ist, auf diese Weise zurechtbiegen oder umfrisieren lässt, ist aus praktischen Gründen begrenzt. Rein administratives Vorgehen wird fast unabwendbar, wenn sich die Maßnahmen gegen Massen von Menschen richten und in großer Eile durchgeführt werden sollen; so war es in der Sowjetunion bei der »Liquidierung des Kulakentums« oder bei der Zwangsaussiedlung ganzer Völkerschaften in entlegene asiatische Gebiete, und so war es in der neuesten Zeit in Algerien, als großen Teilen der Bevölkerung Zwangsdomizil zugewiesen wurde. Ob im Dritten Reich gerichtlich oder außergerichtlich verfahren wurde, hing häufig von dem Zeitpunkt ab, zu dem das Opfer in feindliche Berührung mit dem Regime oder seinen Anhängern geriet: Es passierte oft genug, dass alte Gegner des Regimes, die sich vielleicht neuerdings gar nicht mehr aktiv hervorgetan hatten, in Konzentrationslager gesteckt, Gegner dagegen, die mit neueren oppositionellen Bekundungen aufgefallen waren, vor Gericht gestellt wurden, was allerdings auch nur eine Zwischenstation auf dem Weg ins Konzentrationslager sein konnte. Ausschlaggebende Gesichtspunkte sind das nie; die Gesichtspunkte, die jeweils den Ausschlag geben, ändern sich ständig mit der wechselnden politischen und administrativen Lage.

Einen eindeutigen Schluss auf den für das jeweilige Regime charakteristischen Grad der Brutalität und des Terrors erlaubt weder die ausschließliche Inanspruchnahme der Gerichte noch der ausschließliche Gebrauch administrativer Maßnahmen, weder die relative Verwendungshäufigkeit beider noch die abwechselnde Benutzung des einen oder des anderen Weges: Nach einer gewissen Übergangszeit können sich Gerichte und Organe der Exekutive einander angeglichen und dieselben Wesensmerkmale entwickelt haben. Ein gewisser Unterschied wird allerdings immer bestehen bleiben, weil das Gerichtsverfahren und die Ziele, die mit der Übertragung eines Falles auf die Gerichte verfolgt werden, einen besonderen Charakter behalten. Werden menschliche Schicksale im Zuge eines bürokratischen Verfahrens entschieden, so geschieht das auf Grund allgemeiner Weisungen und für die »Ablieferung« unzuverlässiger oder potentiell unzuverlässiger Elemente festgesetzter Kontingente. Im Gerichtsverfahren muss aber das ausersehene Opfer wenigstens eine begrenzte Möglichkeit haben, eine selbständige Rolle zu spielen. Das Opfer ist nicht mehr eine bloße Nummer in einem allgemeinen Verwaltungsprogramm; es wird zum individuellen Angeklagten, dem die Möglichkeit gewährt wird, seinen Anklägern gegenüberzutreten und ihnen zu antworten, ohne wegen seines Verhaltens im Gerichtssaal physischem Zwang ausgesetzt zu sein. (Das schließt natürlich nicht aus, dass dem Angeklagten in der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens mit physischen oder psychischen Druckmitteln zugesetzt wird.) Das sind bescheidene Mindestvoraussetzungen, die dem öffentlichen Gerichtsverfahren in den verschiedensten politischen Regimes zugestanden werden; sie gelten auch für politische Systeme, die in dieser oder jener Beziehung von rechtsstaatlichen Gepflogenheiten abweichen, also auch für die Prozesstechnik des Sowjetbereichs in der Ära Stalin wie vor und nach ihr.

a) Vorstadien des Schauprozesses

Die Sphäre des politischen Prozesses, der sich nicht an rechtsstaatliche Normen hält, wird nicht einmal in Osteuropa von der Prozesstechnik Stalinschen Gepräges ausschließlich beherrscht. Recht beharrlich behauptet sich auch dort eine ältere Praxis des politischen Prozesses: die gerichtliche Erledigung politischer Gegner unter weitgehender Beschneidung der verfahrensmäßigen Rechte des Angeklagten, von Gerichten gehandhabt, die parteilicher und parteiischer sind, als das in politischen Prozessen unter verfassungsmäßigen Bedingungen der Fall zu sein pflegt. Eine große Rolle spielen in solchen Verfahren parteiische Zeugen, ohne dass ihnen das Feld ganz überlassen bliebe. Hier gibt es aber in der Regel noch nicht den Versuch, den Angeklagten zum willenlos Mitwirkenden an dem von den Machthabern ausgeheckten Inszenierungsplan zu machen. Manchmal kann er sogar, auch wenn er damit ein zusätzliches Risiko auf sich nimmt, in dem einen oder anderen Einzelpunkt gegen die Anklagebehörde recht behalten, zumal wenn ihm, was bisweilen vorkommt, ein Verteidiger zugebilligt wird, der keine bloße Marionette ist. Jedenfalls hat der Angeklagte hier noch die Chance, dem Regime einen Fehdehandschuh ins Gesicht zu schleudern und vor Zuhörern den Abgrund zu zeigen, der ihn von der offiziellen Glaubenslehre trennt.

Der Prozess dieser Art ist keine totalitäre Erfindung; er war lange Zeit im Schwange. In der Theorie, wenn auch nicht immer in der Praxis, wurde im 18. und 19. Jahrhundert insofern ein wesentlicher Fortschritt erzielt, als vor Gericht der Monarch und sein Feind auf dieselbe Stufe gestellt wurden. Dieser Fortschritt ist eine der erlesensten Blüten der neueren kulturellen Entwicklung, aber auch sichtlich stärker gefährdet und problematischer als viele ihrer sonstigen Leistungen. Die ältere Form des politischen Prozesses wird auch heute noch vor unser aller Augen in vielen nichtkommunistischen Ländern – in Spanien, Portugal, Griechenland, Algerien und, wenn man von Israel absieht, allüberall im Vorderen Orient – praktiziert.92

In Russland wurde dies Modell in den ersten Revolutionsjahren, als die Revolution von innerer Gärung, wirtschaftlichem Chaos und ausländischer Intervention bedroht war, in ziemlich weitem Umkreis befolgt. Neben administrativen Terrormaßnahmen, die ohne Wahrung irgendwelcher Rechtsformen gehandhabt wurden, gab es politische Prozesse. In manchen Fällen waren die Beschuldigungen, die bis vors Gericht kamen, reine Fabrikation. In etlichen Verfahren wegen terroristischer Akte, in denen den Angeklagten Beziehungen zu regierungsfeindlichen Parteien nachgesagt wurden oder nachgewiesen werden konnten, ging die Regierung darauf aus, die Parteiführer für die Handlungen ihrer Mitglieder oder Anhänger verantwortlich zu machen. Solche Prozesse hatten eine Doppelfunktion: einerseits konnte mit ihrer Hilfe die Politik der Unterdrückung der belasteten Parteien gerechtfertigt, anderseits die auch nach und trotz der Verurteilung mögliche und oft praktizierte Prämierung derer plakatiert werden, die bereit waren, sich mit dem Regime zu verständigen.

Im denkwürdigsten dieser Prozesse wurden im Juni und Juli 1922 einige prominente Führer der Partei der Sozialrevolutionäre (SR) abgeurteilt. Auf Grund einer im April 1922 bei einer Berliner Besprechung der drei feindlichen Internationalen (der Zweiten, der »Zweieinhalbten« und der Kommunistischen) getroffenen Vereinbarung nahmen an der ersten Phase deutsche und belgische sozialistische Anwälte als Verteidiger teil; Voraussetzung ihrer Teilnahme war die Zusicherung, dass bestimmte prozessuale Garantien eingehalten und keine Todesurteile gefällt werden würden. Die erzieherisch-propagandistische Absicht, die die Sowjetregierung verfolgte, kam darin zum Ausdruck, dass gegen zwei Gruppen von Angeklagten verhandelt wurde: einmal gegen weithin bekannte SR-Führer, die treu zu ihren Parteigrundsätzen standen und ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung nicht aufgaben, zum andern aber gegen weniger bekannte SR-Funktionäre, die sich von der Politik der eigenen Partei losgesagt hatten, ihre Sowjetgegnerschaft bereuten und zur Zusammenarbeit bereit waren. Dass hier »gute« gegen »böse« SR ausgespielt wurden, zeigte aber zugleich auch, dass der Prozess noch zum Bereich der älteren Tradition gehörte.

Den Angeklagten wurde vieles erschwert: Das Gericht war parteiisch, die Anklagebehörde ließ ein großes Aufgebot an übereifrigen Belastungszeugen aufmarschieren, die Möglichkeit der Verteidigung wurde beschnitten und organisierter »spontaner« Druck von außen in den Gerichtssaal hineingetragen. Und trotzdem verlief der Prozess keineswegs zur vollen Zufriedenheit der Regierung. Was klar zum Vorschein kam, war, dass die politisch-taktische Haltung der einzelnen Angeklagten verschiedene Phasen durchlaufen hatte, dass die einen den organisierten Widerstand gegen das Regime völlig aufgegeben und die anderen nur noch gelegentlich vereinzelte Widerstandsaktionen gebilligt oder an ihnen teilgenommen hatten. Dass das weithin publik gemacht werden konnte, kam der Regierung natürlich durchaus zupass. Auf der anderen Seite aber kam ebenso klar zum Vorschein, dass es für die behauptete Zusammenarbeit der SR mit General Denikin und seiner »Weißen Armee« keinerlei Beweise gab. Nur erwiesene Zusammenarbeit mit den »Weißen« hätte die SR-Partei in den Augen ihrer Anhänger und auch der großen Masse der Bevölkerung wirklich in Verruf bringen können. Dass das in dem noch nicht durchgängig manipulierten Prozess nicht gelang, war ein beträchtlicher Misserfolg.93

Manche Anhaltspunkte sprechen dafür, dass das in Moskau damals Vorgeführte vom heutigen jugoslawischen Regime in vielem befolgt wird: sowohl in Prozessen gegen oppositionelle Mitglieder der herrschenden Elite, als auch in Prozessen gegen Gegner, die nie zum Regierungslager gehört hatten. Am bezeichnendsten in der zuletzt genannten Kategorie war das im Sommer 1946 gegen den Kardinal Aloysius Stepinać durchgeführte Verfahren. Stepinać war aus mancherlei Gründen in einer taktisch nicht ungünstigen Lage. In seinem Prozess spiegelte sich mehr als ein bloß innerstaatlicher Konflikt. Er war ein hoher Würdenträger der katholischen Kirche, also einer mächtigen internationalen Organisation, auf deren loyale Unterstützung er bauen konnte.94 Darüber hinaus hatte der Kardinal einen gewissermaßen verbrieften Anspruch auf die Sympathien des kroatischen Volkes, nicht nur als dessen anerkannter religiöser Führer, sondern auch als der konsequente Verfechter der Forderung der Kroaten nach selbständiger nationaler Existenz. Wahrscheinlich hätte ihn Tito überhaupt nicht vor Gericht gestellt, wenn Stepinać der Regierung den Gefallen getan hätte, sein Amt niederzulegen und das Land zu verlassen.95 Auf der anderen Seite beruhte Titos stärkere Position darauf, dass die Kirche weitgehend zum Unterdrückungsregime der kroatischen Ustaši unter Ante Pavelić, das unter dem gemeinsamen Protektorat Italiens und Nazi-Deutschlands regierte, gestanden und sich mit ihm identifiziert hatte; das galt vor allem für die Bemühungen des Ustaši-Regimes, Massenübertritte Angehöriger der griechisch-orthodoxen Kirche zum Katholizismus zu erzwingen.

Stepinaćs Verteidigung war in vieler Hinsicht beeinträchtigt. Der Eröffnungsbeschluss war so spät gefasst worden, dass die Verteidigung vor Beginn des Prozesses nur sechs Tage zur Vorbereitung des Verfahrens hatte. Während die Anklagebehörde über ein schier unerschöpfliches Zeugenreservoir verfügte, ließ das Gericht nur wenige Entlastungszeugen zu. Es wies einen erheblichen Teil der von der Verteidigung unterbreiteten Entlastungsdokumente zurück. Es akzeptierte die wohlbekannte Vorkehrung des von der Regierung präparierten »Amalgams«: obgleich Stepinać ausdrücklich nur sein Verhalten während der Ustaši-Herrschaft und eine nicht ausreichend scharfe und gründliche Distanzierung von Anhängern des beseitigten Regimes zur Last gelegt wurden, verzerrte die Regierung das Bild absichtlich, indem sie mit dem Kardinal Menschen auf die Anklagebank setzte, die beschuldigt wurden, Terrorakte begangen zu haben. Dennoch wurde dem Angeklagten und seinen beiden Verteidigern in gewissem Umfang die Möglichkeit belassen, bestimmte Dinge herauszustellen und ihre Position klarzumachen. Zum peinlichsten und gefährlichsten Punkt, zur Frage der Zwangsbekehrungen, suchte einer der Verteidiger darzulegen, dass hier ein kleineres Übel einem guten Zweck gedient habe: der Rettung von Menschen, die nur auf diese Weise vor dem sicheren Tod hätten bewahrt werden können.96

Wie im Ebert-Beleidigungsprozess ist das Argument zwar plausibel, aber es beseitigt nicht die Ambivalenz des angefochtenen Verhaltens: Die Rettung der Verfolgten durch Bekehrung zum Katholizismus konnte zugleich auch den Zweck verfolgen, denen, die das Rettungswerk unternahmen, einen Ertrag zu sichern. Stepinać selbst lehnte es ab, auf die Frage der Bekehrung einzugehen: Da sein Gewissen rein sei, sagte er, könne er diese Frage dem Urteil der Geschichte überlassen.97 Sogleich ging er zum Gegenangriff über: Er nahm für sich das Recht in Anspruch, im Namen des kroatischen Volkes zu sprechen; er legte seine Stellung zum besiegten und zum siegreichen Regierungssystem klar; er warf der Regierung vor, dass sie das Jalta-Abkommen und die Atlantik-Charta mit Füßen trete. Was vor Titos Machtübernahme geschehen sei, könne ihm, Stepinać, nicht in die Schuhe geschoben werden. Damals hätten drei Regimes, die Exilregierung in London, Titos Partisanenkommando »in den Wäldern« und Pavelićs Machtapparat in Zagreb, gegeneinander gekämpft, und es sei seine Pflicht gewesen, die besten Mittel zum Schutze seines Volkes zu suchen. Er wandte sich scharf gegen Titos Kirchen- und Erziehungspolitik, bot aber der Regierung im selben Atemzug – als gleichberechtigte souveräne Macht – Verhandlungen über einen Kompromiss an, nicht ohne sie höhnisch aufzufordern, ihn doch zum Märtyrer zu machen. Das Gericht umging die Falle: Es verurteilte den Kardinal zu 16 Jahren Gefängnis; die Regierung wandelte diese Strafe später in Zwangsaufenthalt um: Stepinać war nicht im Gefängnis, durfte aber sein Heimatdorf nicht verlassen und ist dort gestorben.

Im Grunde lässt ein Prozess dieser Art die Kämpfenden in der Lage verharren, in der sie sich vor dem Prozess befunden hatten. Die entscheidenden Positionen bleiben, sowohl was das herrschende Regime als auch was seine Gegner angeht, in Gefolge des Prozesses unverändert. Da das Regime über sämtliche Machtmittel verfügt, wird es nicht verfehlen, das, worauf es ihm ankommt, gebührend herauszukehren, aber seinem Gegner lässt es – sei es aus Ritterlichkeit, sei es aus Gleichgültigkeit, sei es aus einem unerschütterlichen Überlegenheitsgefühl – die zweifelhafte Genugtuung, an die Geschichte appellieren zu dürfen. Natürlich benutzen beide Seiten alle erreichbaren Propagandakanäle, um ihre gegensätzlichen Versionen an den Mann zu bringen, wobei das Regime den Inlandsmarkt und sein Gegner häufig den Auslandsmarkt monopolisiert.

Bei solchen Prozessen gelten indes immer noch viele traditionelle Vorstellungen. Obgleich auch diese Prozesse dem Sicherheitsbedürfnis des Regimes Rechnung tragen, bleibt die Lösung, die sie bieten, äußerlich und unbefriedigend. Außer, wenn es dem Regime gelingt, den Gegner in einer Frage von unverkennbarer moralischer Tragweite in die Enge zu treiben, lässt das Gerichtsverfahren die Herrschaftsordnung weder legitimer noch weniger legitim erscheinen. Die Hürde, die nicht genommen werden kann, ist augenscheinlich der Angeklagte. Könnte dem Angeklagten im Rahmen eines Inszenierungsplans, der um eine objektive Situation herum aufzubauen wäre, eine bestimmte Rolle zugewiesen werden, so könnten die Machthaber den Prozess eher dazu benutzen, nach ihren Wünschen die Geschichte zu lenken: Der Prozess brächte dann nach den Bedürfnissen des Regimes die verlangten Bilder und Vorstellungen hervor. Er käme also als erzieherische Manipulation dem Ziel näher, in den Köpfen der Menschen eine nach dem Ebenbild der Machthaber veränderte Wirklichkeit entstehen zu lassen.

b) Fehlschlag eines Inszenierungsplans

Wie eine solche erzieherische Manipulation aussehen könnte, lässt sich an Hand des Falles Grünspan in Erfahrung bringen. Der Fall zeichnet sich dadurch aus, dass hier die Strategie und die Ziele derer, die der Anklagebehörde Weisungen erteilen, nicht erst aus dem tatsächlichen Verlauf eines Prozesses rekonstruiert zu werden brauchen: Die Denkschriften und Besprechungsprotokolle der mit der Durchführung des Falles Beauftragten liegen vor. Am 7. November 1938 gab Herschel Grünspan (in polnischer Schreibweise Grynszpan) im Gebäude der deutschen Botschaft in Paris auf den Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath mehrere Schüsse ab; vom Rath starb an den Folgen zwei Tage später. Der Täter wurde von den französischen Behörden verhaftet, vernommen und ärztlich untersucht, aber zum Prozess war es bis zum Sommer 1940 nicht gekommen; dann wurde er den deutschen Behörden auf deren Verlangen »überstellt«.98 Zunächst kam er ins Konzentrationslager Sachsenhausen, dann – im Sommer 1941 – ins Moabiter Untersuchungsgefängnis in Berlin. Die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof wurde vom Reichsjustizministerium angewiesen, gegen Grünspan Anklage zu erheben; da sich der Anschlag auf vom Rath angeblich mittelbar gegen die deutsche Staatsführung gerichtet habe, wurde er als hochverräterischer Akt ausgelegt und dementsprechend in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs verwiesen.

Ob Grünspan von den französischen Behörden zu Recht ausgeliefert worden war, erschien ebenso zweifelhaft wie die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit. Schon das allein bereitete den deutschen Behörden einiges Kopfzerbrechen. Darüber hinaus stand aber die Reichsanwaltschaft vor einer viel gewichtigeren praktischen Schwierigkeit. Spätestens 1942, vielleicht schon früher, ließ Grünspan die These fallen, dass er die Tat vollbracht habe, um gegen die Hitlersche Barbarei und namentlich gegen die Deportation seiner in Hannover ansässigen Eltern nach Polen zu protestieren. (Die Familie war nach Deutschland Jahrzehnte früher aus einer russischen Provinz eingewandert, die mittlerweile an Polen gefallen war.) Er behauptete nunmehr, dass seine Tat aus persönlichen Motiven hervorgegangen sei, die mit homosexuellen Beziehungen im Zusammenhang gestanden hätten.

Das waren aber noch kleinere Klippen, so unbedeutend wie die Rolle, die Grünspan selbst in der verwickelten Angelegenheit spielte. Die größten Klippen ergaben sich aus Kompetenzkonflikten darüber, welche Stellen für die Durchführung des Verfahrens verantwortlich seien und über die politische Zielsetzung zu bestimmen hätten. Der erste Entwurf der Anklageschrift stammte von einem Beamten der Reichsanwaltschaft. Er wurde von Reichspropagandaminister Goebbels als völlig unzureichend verworfen, weil er die Tat als unpolitischen Mord behandelt und Grünspan nicht als das ausführende Organ des vom Weltjudentum geschmiedeten Komplotts entlarvt habe. Mit dieser Begründung versuchte Goebbels, die Führung des Verfahrens an sich zu reißen. Nach seiner Darstellung soll Hitler seinen Vorschlag gutgeheißen und die »juristische Führung des Prozesses« dem Volksgerichtshofspräsidenten Georg Otto Thierack übertragen haben. Da Goebbels in der Hierarchie höher rangierte als Thierack, beanspruchte er für sich persönlich das Recht, die Gesamtleitung der Operation zu übernehmen.

Diese Regelung rief jedoch Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop auf den Plan. Er protestierte gegen die ungenügende Berücksichtigung außenpolitischer Gesichtspunkte. Nach seiner Version war die Ermordung vom Raths ein überlegter Sabotageakt, der das von ihm begonnene Werk der deutsch-französischen Verständigung habe torpedieren sollen. Außerdem bemängelte er die ungenügende Herausarbeitung des zentralen Planes des »Weltjudentums«, die westliche Welt in einen Krieg gegen Deutschland zu stürzen. Unter dem Vorsitz Thieracks fanden mehrere Besprechungen der Vertreter der drei Ministerien statt, in denen die verschiedenen Standpunkte aufeinander abgestimmt werden sollten. So eifrig man aber auch suchte: Direkte Beziehungen zwischen Grünspan und dem »Weltjudentum« oder gar konkreten Plänen und Vorhaben des »Weltjudentums« ließen sich nicht ausfindig machen. Zum Schluss einigte man sich auf die Formel von der »intellektuellen Urheberschaft des Weltjudentums«. Auf dieser Grundlage sollte der Prozess aufgezogen werden.

Für die öffentliche Verhandlung waren sieben Tage vorgesehen. Am ersten Tage sollten die Tatumstände erörtert werden. Sodann sollte die Darstellung der humanen Methoden folgen, mit denen die Abschiebung polnischer Juden aus Deutschland praktiziert worden sei. Anschließend sollte die Mordtat selbst rekonstruiert werden. Allzu viel Zeit war für all diese Präliminarien allerdings nicht reserviert. Für die Ermittlung der geistigen Verantwortung für die Tat und für die Feststellung der »Hintermänner« waren dagegen allein dreieinhalb Tage in Aussicht genommen. Das gesamte Arsenal des Antisemitismus und der dazugehörigen Pseudowissenschaft sollte mobilisiert werden.

Als Star des Prozesses war der frühere französische Außenminister Georges Bonnet ausersehen: Ihm war die Aufgabe zugedacht, im Detail darzulegen, wie die deutsch-französische Versöhnung durch den Mord in die Luft gesprengt worden sei. Von Anfang an hatte allerdings Thierack seine Zweifel am Inhalt der Zeugenaussage Bonnets; im Notfall sollte der Dolmetscher aushelfen, dem damit eine wichtige Rolle zufiel. Nach der Vernehmung Bonnets stand die Verlesung von Auszügen aus französischen und jüdischen Zeitungen und sonstigen Dokumenten auf der Tagesordnung. Als besonderer Clou war anschließend ein Expertenvortrag geplant: Der wohlbekannte Rechtsanwalt Friedrich Grimm, seit eh und je Prozessbeistand deutscher Rechtskreise in politischen Verfahren, der dem Dritten Reich als Sachverständiger für Auslandsprozesse diente und bereits in den Vorbereitungsstadien des Verfahrens herangezogen worden war, sollte vor allem die »intellektuelle Urheberschaft des Weltjudentums« an der Mordtat darlegen. Für den sechsten Tag waren die Plädoyers der Verteidiger angesetzt, darunter das Plädoyer eines Offizialverteidigers, dessen späteres Verhalten in Prozessen um den 20. Juli gezeigt hat, dass er durchaus geeignet gewesen wäre, der Anklagebehörde kräftig unter die Arme zu greifen. Gleichwohl wurde nichts dem Zufall überlassen: Den Protokollen der interministeriellen Besprechungen lässt sich entnehmen, dass der Offizialverteidiger »über seine Pflichten während des Prozesses von Dr. Thierack in zweckentsprechender Form verständigt« worden war. Am siebenten Verhandlungstage sollte schließlich der nominelle Regisseur der Veranstaltung, der pro forma mit dem Vorsitz betraute Vizepräsident des Volksgerichtshofs, das Urteil verkünden.

Und aus all der sorgsamen, minuziösen, detailbeflissenen Planung wurde nichts. Der Kompetenzstreit erwies sich als unlösbar. Das Justizministerium wollte nicht hinter anderen Ressorts zurückstehen; es bestand nun darauf, dass geklärt werde, ob Hitler bei der Ausgabe der Weisung, den Prozess endgültig in Gang zu bringen, gewusst habe, was Grünspan über vom Raths Homosexuellenaffären aussage. Ribbentrop wünschte weitere Vorträge über den Zusammenhang zwischen »Weltjudentum« und auswärtiger Politik. Goebbels bezweifelte, ob sich mit der Geschichte von der »humanen« Ausweisung der polnischen Juden im Herbst 1938 gute Propagandawirkungen erzielen ließen. Überhaupt ebbte das Interesse am Prozess ab, als sich herausstellte, dass Bonnet nicht bereit war, vor Gericht zu erscheinen. Ungeklärt blieb nach wie vor, ob eine Chance bestand, die zu erwartende verheerende Wirkung der Grünspanschen Homosexualitätsgeschichten zu neutralisieren.

Gegen Ribbentrops Einspruch wurde der Prozess am 17. oder 18. April 1942 bis auf weiteres ausgesetzt und damit, wie sich später zeigen sollte, endgültig begraben. Offenbar war Hitlers Entschluss, auf den Schauprozess zu verzichten, zum Teil durch das Bedenken hervorgerufen worden, dass Grünspans Homosexualitätsversion die so gründlich geplante Veranstaltung um jede Wirkung bringen könnte. Es gab aber auch noch ein anderes Motiv: Aus mancherlei Gründen war Hitler im April 1942 dem Frankreich von Vichy nicht mehr so gewogen wie vordem; das machte es inopportun, ein Gerichtsschauspiel aufzuführen, das die Machenschaften einer alljüdischen Verschwörung hätte darlegen und damit Frankreichs Vorkriegssünden als weniger gravierend erscheinen lassen müssen.

Ob Grünspan deswegen am Leben geblieben ist, weil sich einerseits Ribbentrop, anderseits Thierack weiterhin beharrlich bemühten, den Prozess um ihrer eigenen Sonderinteressen willen doch noch stattfinden zu lassen, muss dahingestellt bleiben. Die Angaben über Grünspans weiteres Schicksal sind voller Widersprüche. Sein Vater und sein Bruder erklärten am 25. April 1961 im Eichmann-Prozess, keinerlei Nachrichten von ihm seit 1939 erhalten zu haben.99 Dass Grünspan unter einem angenommenen Namen in Frankreich lebe, wurde dagegen im November 1960 in einem Münchner Prozess behauptet, in dem die Familie vom Rath das Andenken des ermordeten Diplomaten von jedem Makel zu reinigen suchte. Wegen Verunglimpfung des Andenkens eines Verstorbenen hatte sich ein Schriftsteller zu verantworten, der die Behauptungen über angebliche homosexuelle Beziehungen zwischen vom Rath und Grünspan im Druck wiederholt hatte. Das Gericht hatte Grünspan nicht laden können, und so ließ sich der Wahrheitsgehalt der Version, an die er sich zwei Jahrzehnte früher geklammert hatte, nicht prüfen. Dass hohe Nazi-Würdenträger den Prozess zu Propagandazwecken geplant hatten, wurde indes von zwei bestens unterrichteten Zeugen, dem früheren Oberreichsanwalt Ernst Lautz, Hauptankläger beim Volksgerichtshof, und dem früheren Staatssekretär im Reichspropagandaministerium Leopold Gutterer, eindeutig bekundet. »Das Reichspropagandaministerium habe die Schuld des ›Weltjudentums‹ und der Hintermänner herausstellen wollen«, sagte Lautz; man habe einen »Monsterprozess geplant …, um die Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung zu unterbauen«, bestätigte – aus etwas engerer Sicht – Gutterer.100

Der missglückte Plan hatte einem Schauprozess gegolten, dem eine konkrete Propagandaaufgabe zugedacht war. Das formale Ziel des Prozesses, Grünspans Verbrechen zu vergelten, war lediglich der Haken, an dem eine belehrende Mär aufgehängt werden sollte. Der Prozess biete die Möglichkeit, der ganzen Welt den maßgebenden Anteil des »Weltjudentums« am Ausbruch des Krieges zu beweisen, schrieb Goebbels an Hitler.101 Die didaktische Erzählung konnte in Einzelheiten des Hergangs und in Schlussfolgerungen nach Belieben ausgesponnen werden. Wenn es nicht so einfach war, die konkreten Ziele des Prozesses endgültig festzulegen, so lag das an den auseinanderstrebenden Wünschen und konkurrierenden Ressortambitionen der einzelnen Sektoren der Bürokratie, die sich nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Vielleicht fehlte es auch an der nötigen Anzahl überzeugend klingender und beflissen fügsamer Jasager.

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