Buch lesen: «Politische Justiz», Seite 13

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b) Politik ohne Bindungen oder verbotene Verbindungen?

Vergleicht man die Sicherheitsprobleme der Schweiz mit denen Nachkriegsdeutschlands, so möchte man die Schweizer Sorgen als beruhigend unkompliziert abtun. Seit langem behauptet sich das Staatsgebilde der Schweiz als besonders beständig und innerlich stabil; in jedem Streit um die nationale Treue seiner Staatsbürger geht es nur um das Ausmaß, in dem sie den seit einiger Zeit gesteigerten Prioritätsansprüchen der Eidgenossenschaft Anerkennung schuldig sind. Dagegen stellten die Probleme nationaler Bindung und staatsbürgerlicher Treue in Deutschland schon in der Zeit von 1945 bis 1949 ein wirres Knäuel dar. Das geeinte Reich war mit dem verlorenen Krieg dahin. Vier fremde Mächte hatten die Souveränität übernommen und lokale Regierungen eingesetzt, die gleichsam ihrer Lehnshoheit unterstanden. Für die Beziehungen des einzelnen deutschen Bürgers zu seinen neuen, provisorischen Souveränen galt keine feste traditionelle Verhaltensnorm. Angst und Hoffnung, Privatinteresse und Unterwürfigkeit lagen im Wettstreit mit starkem politischem Verantwortungsgefühl und dem Verlangen nach neuem, unabhängigem nationalem Dasein. Gelegentlich klingt noch diese wirre Zeit in Beleidigungsklagen an, und die Streitparteien finden sich denn auch oft genug bereit, das Unentwirrbare auf sich beruhen zu lassen. Wenn man die Maßstäbe von heute an die chaotischen Verhaltensweisen einer Zeit anlegen muss, in der es anerkannte und erkennbare nationale Normen nicht gab, hat man nicht viel davon, dass man die Gerichte bemüht.

Aus dem Chaos kristallisierten sich 1949 zwei gegensätzliche neue Staatsgebilde heraus, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Damit, dass sich zwei Staaten bildeten, waren die Folgen der von außen erzwungenen Zerlegung des alten Staatsgebildes durchaus nicht ausgelöscht. Politisch liegen die neuen Staatsgebilde miteinander im Krieg, aus dem sich zahllose Konflikte ergeben.77 Aber im täglichen Dasein muss man sich in irgendeiner Form aufeinander einstellen. Man erkennt einander nicht an, aber man teilt sich gezwungenermaßen in das einstige gemeinsame Staatsgebiet.

Die Probleme des Agenten, Doppelagenten oder Nachrichtenhändlers, der davon lebt, dass er Nachrichten kauft, verkauft oder fabriziert, brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Auf beiden Seiten der Grenze gibt es ein ganzes Heer von Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Spionage, Berichterstattung und Auslösung von wirklichen oder Ausnutzung von erfundenen Zwischenfällen bestreiten. In einem umfassenden Gesetzgebungswerk mit entsprechender Gerichtspraxis, die beide die größtmögliche Skala von Handlungen einzubegreifen suchen, sind die mannigfaltigen Betätigungsmöglichkeiten solcher Menschen vorausgeahnt oder post factum erfasst worden. Einst wurde Landesverrat mit den von ihm abgeleiteten Delikten als das verabscheuungswürdigste aller Verbrechen angesehen, und in vielen Ländern, in denen patriotische Normen nicht so ausgehöhlt worden sind wie im Gefolge der nationalsozialistischen Politik und ihrer katastrophalen Ergebnisse in Deutschland, wird Verrat an der Nation nach wie vor nicht auf die leichte Schulter genommen. Aber unter den heutigen deutschen Existenzbedingungen wiegt Agenten- oder Nachrichtendienstlicher Erwerb kaum schwerer als viele andere dunkle und unsichere Erwerbsbetätigungen, die es am Rande der Gesellschaft gibt.

Wegen Landesverrats und analoger Delikte (§§ 99-101 des Strafgesetzbuches) wurden in der Bundesrepublik 1954 57 Personen, 1955 125 Personen, 1956 202 Personen, 1957 232 Personen und 1958 235 Personen abgeurteilt, in fünf Jahren also 851; nimmt man noch die 1.073 Hochverrats- und Staatsgefährdungsfälle hinzu, so kommt man auf 1.924 abgeurteilte Personen, von denen 1.461 verurteilt wurden.78 Indes beliefen sich die bekanntgewordenen Fälle von Hochverrats-, Staatsgefährdungs- und Landesverratsdelikten zusammen 1954 auf 8.550, 1955 auf 8.073, 1956 auf 7.975, 1957 auf 12.600 und 1958 auf 13.823.79 Das ergibt in fünf Jahren die phantastische Zahl von 51.021 »bekanntgewordenen Straftaten« (zu denen 39.835 Täter »ermittelt« wurden).

Dafür, dass von den vielen Fällen, in denen Ermittlungen angestellt werden, nur ein geringer Teil zur Aburteilung kommt, fehlt bis jetzt eine zufriedenstellende Erklärung von amtlicher Seite. Möglicherweise dienen die vielen Ermittlungen, die kein gerichtliches Nachspiel nach sich ziehen, dazu, verdächtige politische Betätigungen, die nicht strafbar, also auch polizeilicher Kontrolle nicht unterworfen sind, aber unter Umständen zu strafbaren Handlungen führen könnten, mehr oder minder regelmäßig zu überwachen, das heißt in gewissem Sinne unter Polizeiaufsicht zu stellen.

Vielleicht ist aber die verstärkte politische Überwachungsarbeit der Polizeiorgane ihrerseits nur der Ausdruck einer besonderen politischkriminalistischen Atmosphäre. Nach amtlichen Angaben wurden in der Bundesrepublik und West-Berlin zwischen dem 30. August 1951 (bis dahin konnte Spionage strafrechtlich nicht verfolgt werden) und dem 31. Dezember 1959 insgesamt 1.799 »Agenten des Sowjetblocks« verurteilt; gleichzeitig hatten sich 16.500 Agenten freiwillig den Behörden gestellt, womit sie der Verfolgung entgingen. Von amtlicher Seite wird die Zahl der Mitarbeiter, die von östlichen Diensten pro Jahr auf die Bundesrepublik angesetzt werden, auf rund 16.000 geschätzt.80

Gewiss darf man unterstellen, dass diese Schätzung aus propagandistischen Gründen zu hoch ausgefallen ist, und man muss auch berücksichtigen, dass die Strafverfolgungsorgane kaum über die nötigen Maßstäbe verfügen, um zwischen Teilnehmern an inneren Umsturzbestrebungen und eindeutigen Spionageagenten zu unterscheiden. Anderseits darf man annehmen, dass die Westmächte ihrerseits ein nicht geringes nachrichtendienstliches Interesse an Vorgängen innerhalb des ostdeutschen Staatsgebildes haben. Schließlich kann man nicht außer Acht lassen, dass es Agenten gibt, die weder erwischt werden noch sich selbst stellen und deren Tätigkeit auch von Schätzungen der Ermittlungsorgane nicht erfasst werden kann. Bei allen Vorbehalten kommt man jedenfalls, wenn man alle Faktoren berücksichtigt, zu dem Schluss, dass die Spionage in Deutschland zu einem nicht unbeachtlichen Gewerbezweig geworden ist. Wahrscheinlich hält man sich noch an der unteren Grenze, wenn man vermutet, dass insgesamt etwa 25.000 Personen in beiden Teilen Deutschlands nachrichtendienstlich tätig sind. Natürlich sind die nichtamtlichen Geheimbeauftragten im Gegensatz zu den Angehörigen der »offiziellen Spionage« keineswegs immer hauptberuflich beschäftigt. Zählt man aber »Profis« und »Amateure« zusammen, so muss man vermuten, dass die Gesamtzahl der Agenten die Zahl der Berufspolitiker (gelegentlich gehen diese Kategorien ineinander über) östlich und westlich der Elbe übersteigt. Das ist etwas symptomatisch Neues und sagt einiges über den Gegenwartsstil der deutschen Politik aus.

In Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern diese Art von Dienstleistungen besonders angewachsen, weil das Land gespalten ist und die Nachrichteninteressen einer Vielzahl fremder Staaten anzieht. Viel gewichtiger als die fragwürdigen Erfolge der Nachrichtendienstinflation sind ihre politischen Ausstrahlungen. Zu einem erheblichen Teil beruhen auf der Spionageatmosphäre die Neigung zur Geheimniskrämerei, die Seltenheit spontaner Willensbildung im politischen Bereich und der alles durchdringende Bürokratismus. Und gerade weil die Spontaneität im politischen Leben abstirbt, kommt es darauf an, wo in Wirklichkeit die Grenze verläuft zwischen unabhängiger, von Bindungen freier politischer Betätigung und der Tätigkeit von Agenten, die nach Weisungen fremder Auftraggeber und in deren Interesse arbeiten. Die meisten Menschen, die in der »Kontakt«-Domäne tätig sind, haben solche Auftraggeber, bisweilen mehrere gleichzeitig, und ihre »dienstlichen Verrichtungen« sind fast immer zweideutiger Natur.

Aus dieser spezifischen Situation waren einige bezeichnende Fälle entstanden, mit denen sich der deutsche Bundesgerichtshof in den letzten Jahren zu befassen hatte; wie der Unterschied zwischen Agententätigkeit und politischer Betätigung auf eigene Faust und aus eigenem Antrieb festzuhalten und zu bestimmen sei, war in diesen Fällen nicht nur von theoretischem Interesse, sondern auch praktisch bedeutsam. Eine weniger ausführliche Behandlung beansprucht, weil hier Aspekte mehr persönlicher Natur schwerer wogen als politische, das Verfahren gegen Otto John, den ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. John war auf etwas geheimnisvolle Weise nach Ost-Berlin geraten und hatte dort mit Staatsorganen der DDR eine Zeitlang in begrenztem Umfang zusammengearbeitet. Seine Mitwirkung an der offiziellen östlichen Propaganda spielte sich in einem Rahmen ab, der ungefähr seinen vorher schon bekannten Vorstellungen und Besorgnissen entsprach; über diesen Rahmen hinaus hatte sich John weder auf die kommunistische Ideologie noch auf ihren Jargon festlegen lassen. Aber er hatte Aussagen über eine »geheime Tätigkeit« der Organisation Gehlen in Frankreich und über »Geheimabreden« zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gemacht, von denen er später zugab, dass sie unwahr waren. Nachdem er etwa ein Jahr die Gastfreundschaft der DDR und der Sowjetunion genossen hatte, entkam er und kehrte freiwillig in die Bundesrepublik zurück. Er wurde wegen Verrats von Staatsgeheimnissen, landesverräterischer Fälschung und landesverräterischer Konspiration angeklagt und im Dezember 1956 vom Bundesgerichtshof abgeurteilt.

Der Aufbau seines Verteidigungsgerüsts ist hier, was die Details angeht, nicht von übergroßem Interesse: Dazu gehörte die Behauptung, die das Gericht nicht gelten ließ, er sei nach Ost-Berlin entführt worden; dazu gehörte die vom Gericht ebenfalls zurückgewiesene Entschuldigung, er habe sich auf eine Zusammenarbeit mit östlichen Propagandaorganen einlassen müssen, weil seine Sicherheit oder gar sein Leben in Gefahr gewesen sei. Von größerem Interesse ist Johns Gesamtverhalten: Der politische Stil, der sich in der Bundesrepublik herausgebildet hatte, war ihm fremd (oder fremd geworden), ohne dass er zum Gegenstil des Ostens bekehrt worden wäre. Er fand sich im zweigeteilten Land politisch nicht mehr zurecht und wurde zum Wanderer ins Nichts. Die aus einer Augenblickseingebung heraus unternommene Wanderung nach Ost-Berlin, die Halbheiten der Zusammenarbeit mit dem Osten und die Enttäuschung über den Osten, schließlich die überlegte und plangemäß vorbereitete Flucht zurück in die Bundesrepublik (John hätte in ein anderes Land fliehen können): In alledem äußert sich eher die tragische Ratlosigkeit eines labilen und unpolitischen Menschen als zielbewusstes politisches Denken und Handeln. Die vom Bundesgerichthof verhängten vier Jahre Zuchthaus erschienen nicht nur manchen kritischen Beobachtern, sondern auch dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, Oberbundesanwalt Max Güde, der zwei Jahre Zuchthaus beantragt hatte, als eine überaus harte Strafe.81

Der Fall John zeigt einige der Schwierigkeiten, die sich bei der Anwendung der neuen Strafbestimmungen dort einstellen, wo ernste Gewissenskonflikte um politische Treueverpflichtungen zu den Handlungen geführt haben, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Der neue § 100d des Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik bestraft landesverräterische Beziehungen »zu einer Regierung, einer Partei, einer anderen Vereinigung oder einer Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs« des Gesetzes. (Mit der umständlichen Formulierung sollten vor allem Beziehungen zu Institutionen der DDR getroffen werden, die vom Standpunkt der Bundesrepublik weder ein anerkannter Staat noch eine Auslandsmacht ist.) Bestrafung kann jedoch, wie der Berichterstatter des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht bei der Bundestagsberatung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1951 klarstellte, nur erfolgen, wenn der Nachweis erbracht ist, dass die fraglichen Beziehungen in der Absicht unterhalten wurden, »gegen die Sicherheit der Bundesrepublik gerichtete Unternehmungen oder Bestrebungen zu unterstützen«. Ausdrücklich fügte der Berichterstatter hinzu: »Dabei genügt es nicht, dass diese Unternehmungen oder Bestrebungen den politischen Interessen der Bundesrepublik zuwiderlaufen.«82

Wollte aber John, als er Beziehungen zur ostdeutschen Regierung aufnahm, wirklich, wie das Strafgesetzbuch sagt, »Maßnahmen oder Bestrebungen fördern«, die darauf gerichtet waren, »den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen«? Entsprach seine in Ost-Berlin ausgesprochene Verurteilung der Aufrüstungspolitik der Bundesregierung mit all ihren innenpolitischen Auswirkungen nicht vielmehr haargenau den Auffassungen, an die er auch schon in der Bundesrepublik geglaubt hatte? Genügt der Hinweis der Urteilsbegründung83 auf die besonderen »Anforderungen«, die im Hinblick auf seine amtliche Stellung »an ihn zu stellen waren«, zur Widerlegung des Arguments, dass eine landesverräterische Absicht nicht notwendigerweise vorliege, wenn sich Auffassungen des Angeklagten mit bestimmten Interessen einer fremden oder sogar feindlichen Macht deckten? Solche Zweifel an Johns Absicht, dem westdeutschen Staatsgebilde Schaden zuzufügen, fielen allerdings nicht entscheidend ins Gewicht, da er zweifelsohne schuldig war, im Osten falsche Tatsachenangaben gemacht zu haben, mit denen »erfundene Staatsgeheimnisse« bekanntgemacht wurden. Damit war der Tatbestand der landesverräterischen Fälschung (§ 100a Absatz 2) erfüllt, auf den ohnehin Zuchthaus steht, und die gleichzeitige Verurteilung nach § 100d leichter zu bewerkstelligen.

Ebenfalls wegen Vergehens gegen § 100d stand vor demselben Bundesgerichtshof ein Jahr später, im November und Dezember 1957, ein anderer Angeklagter, Viktor Agartz, dessen Fall erst recht davon abhängen musste, wie die Richter den Unterschied zwischen einem Agenten und einem unabhängigen, auf eigene Faust operierenden Politiker und Publizisten beurteilten. Agartz hatte längere Zeit als Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WWI) gewirkt und um 1954 als der theoretische und programmatische Hauptberater des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegolten. Seine Tendenz, die deutsche gesellschaftliche Entwicklung in Klassenkategorien zu beurteilen und die Gewerkschaften ausdrücklich auf eine Klassenkampfposition festzulegen, hatte sich indes, auch wenn die DGB-Leitung ihn nicht offiziell desavouierte, insofern als störend erwiesen, als sie Kompromisse und Ausgleich innerhalb der weitverzweigten und weltanschaulich keineswegs homogenen Organisation erschwerte. Außerdem hatten politische Gegner dafür gesorgt, dass der Name Agartz in manchen Kreisen zum Kinderschreck geworden war. Innerorganisatorische Zwistigkeiten und persönliche Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich Agartz weder besonders geschickt noch besonders loyal zeigte, endeten damit, dass er im Dezember 1955 aus dem Dienst der Gewerkschaften entlassen wurde. Darauf versuchte er, unter dem Namen WISO, Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, eine eigene Publikation herauszugeben. Unter Mitwirkung verschiedener Freunde und Gesinnungsgenossen, zu denen einige ebenfalls entlassene WWI-Mitarbeiter gehörten, übte er scharfe Kritik sowohl an der Politik der Gewerkschaften als auch überhaupt an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik; Sprache und Argumentation hörten sich marxistisch an und mochten manche Leser an Sprache und Argumentation östlicher Publikationen erinnern.

An Leser in der Bundesrepublik gingen etwa 400 Exemplare der Zeitschrift; das reichte nicht zur Finanzierung der Publikation. Als ostdeutsche Stellen Agartz Hilfe in Gestalt von 2.000 festen Abonnements anboten, nahm er sie an. Ein unterer Funktionär aus der DDR, der als Fahrer und Kurier fungierte, brachte die »Bezugsgelder« in größeren Beträgen nach Westdeutschland. Diese Geldmittel wurden dann in kleineren Summen, von verschiedenen Orten aus und mit fingierten Absendernamen auf Agartz’ Konto überwiesen. Nach außen hin und vor allem auch bei Agartz’ nichtsahnenden Mitarbeitern konnte somit der Eindruck erweckt werden, als ob die Gelder von einwandfreien echten Beziehern in Westdeutschland stammten. Das sorgfältig getarnte Finanzierungssystem ging in die Brüche, als ein anonymer Anrufer, der sehr wohl im Auftrag der DDR-Staatsorgane gehandelt haben mag, die West-Berliner Kriminalpolizei auf die Spur des Kraftwagens mit dem Fahrer und einem Geldtransport von 21.000 DM lenkte.

Anders als John, der vor Gericht seinen Antikommunismus betonte und sich auf Zwang und Notstand berief, bekannte sich Agartz ohne Umschweife zu seinem politischen Standpunkt und nahm für sich nachdrücklich die Rolle eines revolutionär-klassenkämpferischen Gesellschaftskritikers in Anspruch. Im Mittelpunkt der Vernehmung des Angeklagten standen Schwarzweißkontraste von Freiheit und Unterdrückung; was Agartz dazu zu sagen hatte, war für die Richter wenig befriedigend, denn er bediente sich in der Beurteilung des gesellschaftlichen Fazits in Ost und West anderer Maßstäbe, als auf die er festgenagelt werden sollte. Seine grundsätzliche Erklärung, dass weder finanzielle Zuwendungen noch persönliche Kontakte mit östlichen Stellen seine politische Unabhängigkeit auch nur im Geringsten beeinträchtigt hätten, fand ihre Bestätigung in einigen Zeugenaussagen und in manchen Schriftstücken, die seinen Akten entnommen worden waren. Dagegen zeichnete die Anklagebehörde unter Berufung auf die östliche Subvention und auf kritische Äußerungen aus Agartz’ Briefwechsel das düstere Bild eines westlichen Stützpunkts für die kommunistische Politik, der mit Agartz’ Hilfe aufgebaut worden sei. Damit sollte der Fall Agartz dem Fall John angeglichen werden: Nicht Johns politische Einstellung, sondern seine Einsicht in die möglichen politischen Folgen seines Tuns war im John-Urteil als das ausschlaggebende Moment gewertet worden.

Von der Bundesanwaltschaft wurde eine einjährige Gefängnisstrafe beantragt und zur Begründung einiges aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum KPD-Verbot84 herangezogen: Zum mindesten sollten bei den Richtern Zweifel an der verfassungsmäßigen Zulässigkeit einer im Agartzschen Sinne geübten Kritik an der Klassenstruktur der heutigen westlichen Gesellschaft geweckt werden. Die Kernfrage, die das Gericht zu beantworten hatte, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Stellen Kontakte mit DDR-Behörden und die Annahme von DDR-Subventionen für die Veröffentlichung einer marxistisch aufgemachten Zeitschrift auch dann landesverräterische Handlungen dar, wenn sich die Ausrichtung des Angeklagten auf östliche Haltungen nur daraus erweisen lässt, dass zwischen seiner Politik und der Politik des Ostens gelegentlich – und auch dann nicht in vollem Umfang – eine Parallelität besteht, die sich eher aus der Gemeinsamkeit bestimmter theoretischer Ausgangspunkte als aus übereinstimmender Beurteilung konkreter politischer Entscheidungen und Handlungen ergibt?

Das Urteil fiel gnädig aus. Agartz wurde mangels Beweises und seine wenig informierte Sekretärin »mangels Tatverdachts« freigesprochen. Der Kraftwagenfahrer, der die Geschäftsverbindung zwischen Agartz und den Ost-Berliner Gewerkschaftsinstanzen aufrechterhalten und das Geld herübergeschmuggelt hatte, erhielt als »konspirativer Helfer verfassungsfeindlicher Kräfte« acht Monate Gefängnis. Die Geringfügigkeit der Strafe, die auch noch voll auf die verbüßte Untersuchungshaft angerechnet wurde, erklärte das Gericht damit, dass der konspirative Fahrer »nicht den Eindruck eines Fanatikers, sondern den eines Geschäftsreisenden« gemacht habe.85

Es ist möglich, dass sich die Richter einige Überlegungen zu Herzen genommen hatten, die von der Verteidigung während des Prozesses angestellt worden waren. Auch von ihrem Standpunkt aus musste bedacht werden, dass seit Jahren nicht nur ostdeutsche Gelder nach dem Westen, sondern auch westdeutsche Gelder nach dem Osten flossen, zum Beispiel von kirchlicher Seite für kirchliche Zwecke; als Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche musste Agartz’ Verteidiger Gustav Heinemann über das Ausmaß dieser interzonalen Spenden ausreichend unterrichtet und in der Lage sein, die Richter gegebenenfalls inoffiziell auf die Tragweite etwaiger östlicher Repressalien aufmerksam zu machen. Nicht nur waren den DDR-Behörden Zuwendungen an Kirchenstellen in ihrem Bereich mindestens ebenso unerwünscht wie in den Augen des Westens östliche Subventionen an westliche Publikationen, sondern es war ihnen auch jeder Vorwand willkommen, die Kontrolle kirchlicher Organisationen zu verschärfen.86

Wenn sich die Richter dieser Falle bewusst waren, haben sie in der Urteilsbegründung verständlicherweise nicht davon gesprochen. Aber ihre Eventualdeutung des Rätsels um den geheimnisvollen Anruf bei der Berliner Kriminalpolizei, der die Ostfinanzierung des Agartzschen Unternehmens hatte auffliegen lassen, ließ erkennen, dass ihnen eine mögliche andere Falle nicht entgangen war. Sie wiesen ausdrücklich darauf hin, dass die politische Führung der DDR an einem westdeutschen Verfahren gegen Agartz ein starkes Interesse haben konnte, weil ihre Propaganda damit die Möglichkeit gewann, in den düstersten Farben auszumalen, wie sehr die Bundesrepublik entschlossen sei, den »Weg der Ausschaltung der gesamten linken Opposition und einer Unterdrückung der Gewerkschaften« zu gehen.87 Im Übrigen bemühten sich die Richter, alles zu vermeiden, woraus sich ein Präzedenzfall hätte konstruieren lassen, mit dem ihre vorher erarbeitete umstrittene Auslegung des Gesetzes eingeengt worden wäre. Nach dieser Auslegung braucht die Beseitigung der in § 88 des Strafgesetzbuches geschützten Verfassungsgrundsätze nicht ein tragendes »oder gar das tragende« Motiv des Täters zu sein; er mache sich schon schuldig, wenn er verfassungsfeindliche Bestrebungen anderer wissentlich fördere.

Obwohl das Gericht an dieser Konstruktion ohne Einschränkung festhielt,88 gelangte es zu Agartz’ Freispruch, weil es nicht mit Sicherheit den Schluss glaubte ziehen zu können, dass Agartz den Willen gehabt habe, sich dem feindlichen Unterfangen in vollem Umfang einzuordnen und sich zu »einem dienenden Helfer seiner Partner« zu machen. Mit anderen Worten: Es ist möglich, dass ein Narr, jemand also, der glaubt, dass er für die ihm erwiesene Gunst auch bei der Endabrechnung keinen Preis werde zu erlegen haben, zugleich auch ein Schuft ist; das ist aber auch für das Gericht nur eine Möglichkeit, keine Gewissheit, und auch die Möglichkeit ist umstritten. Weil sie umstritten bleibt, findet sich immer noch ein enger Kanal für Menschen, die gegen den Strom auch dann noch schwimmen wollen, wenn sie in der Zweideutigkeit der eigenen Lage oder doch mindestens in der verrufenen Gesellschaft, in die sie geraten, Warnsignale gegen jegliches Schwimmen erkennen sollten.

Was auf den ersten Blick als kunstvolles Jonglieren mit Abstraktionen hinsichtlich verschiedener Segmente der mens rea erscheint, spiegelt in Wirklichkeit die entscheidende Ambivalenz der objektiven Situation wider: Wer sich, um Veränderungen in der inneren Struktur der Bundesrepublik herbeizuführen, nach Hilfe von außen umschaut, verschafft damit, auch wenn er es nicht beabsichtigt und es ihm unwillkommen ist, den geschworenen Feinden des Staatsgebildes eine gewisse Einbruchsmöglichkeit. Möglicherweise hatte das Gericht das Bedürfnis, jedem westdeutschen Bürger das Recht zu sichern, Kontakte mit amtlichen ostdeutschen Stellen aufzunehmen und Gespräche mit ihnen zu führen; jedenfalls stellte es dies Recht nach dem Agartz-Freispruch erneut unter seinen Schutz, als es den Arzt Wolfgang Wohlgemuth, dem John vorgeworfen hatte, ihn nach Ost-Berlin verschleppt zu haben, und der nicht bestritt, das Zusammentreffen Johns mit amtlichen ostdeutschen Gesprächspartnern organisiert zu haben, von der Anklage landesverräterischer nachrichtendienstlicher Verbindungen freisprach.89 Es bedarf offenbar einer Gerichtsentscheidung, damit es möglich werde, freundliche Begegnungen und gewisse Übereinstimmungen in Denk- und Betrachtungsweisen von etwas wesentlich anderem abzugrenzen: davon, dass man sich in feindliche Pläne hineinziehen lässt und sich ihnen unterordnet. Das allein zeigt, welche schädlichen, aber unvermeidlichen Konsequenzen daraus folgen, dass die Sphäre der als legitim und zulässig angesehenen politischen Betätigung eingeengt wird.

Logischerweise kommen solche Konsequenzen in einem gespaltenen Land, in dem es auch über rein technische Kontakte hinaus noch Gemeinsamkeitsbereiche gibt, am schärfsten zum Ausdruck. Da aber im Spielraum der politischen Freiheit hüben und drüben sehr beträchtliche Unterschiede bestehen, fallen der östlichen Staatsgewalt zusätzliche Möglichkeiten in den Schoß: Sie kann die weiterreichende Freiheitssphäre ihres westdeutschen Gegners für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Jeder Versuch, diesen strukturellen Nachteil des Westens zu reduzieren, ohne dass der Andersdenkende dabei zwangsweise zum Gefangenen würde, scheint der Quadratur des Zirkels zu gleichen. Besonders nachdem es in Westdeutschland Sitte geworden ist, Lehrmeinungen nur zum Umlauf zuzulassen, wenn sie ein einwandfreies Herkunftszeugnis vorweisen können, werden solche subtilen Unterscheidungen umso unerlässlicher sein, je schwieriger sie sich gestalten werden.

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