Buch lesen: «Politische Justiz», Seite 11

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Der langsame Gang der Voruntersuchung, in deren Verlauf Caillaux immer wieder vom kriegsgerichtlichen Untersuchungsrichter vernommen wurde, die von der Regierung inspirierte Hetzkampagne um den Zwischenfall von Florenz und mancherlei Gerüchte über die angebliche Absicht des Kabinetts, den Fall eher einem willfährigen als dem zuständigen Gericht zuzuleiten, riefen scharfe Kritik der Opposition hervor. Zweimal, im Januar und im Februar 1918, griffen die Sozialisten die Regierung wegen der eigenartigen Handhabung des Falls Caillaux in der Kammer an und verlangten die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Aber noch hielt Clemenceau seine Mehrheit zusammen: Am 15. Januar wurden 369 Stimmen für die Regierung und 105 gegen sie abgegeben, am 8. Februar waren es 374 gegen 99 Stimmen.43 Kein parlamentarisches Untersuchungsverfahren sollte den militärischen Untersuchungsrichtern das Leben schwer machen.

Wem aber war die richterliche Entscheidung anzuvertrauen? Von Anfang an scheint sich Clemenceau der Idee eines Kriegsgerichts widersetzt zu haben: »Ich bin ein Politiker, der gegen einen anderen Politiker vorgeht«, soll er Poincaré entgegengehalten haben.44 War er von Caillaux’ Anspielung auf seine Dreyfus-Vergangenheit beeindruckt? Oder erwartete er, dem es doch bei der ganzen Affäre nur um Mehrung seines Ansehens ging, bei Militärrichtern ein Todesurteil,45 das seinem Prestige nur hätte schaden können? Ob so oder so: Am 13. Oktober 1918 erließ die Regierung ein Dekret, das den Fall der ordentlichen politischen Gerichtsbarkeit, das heißt dem Senat als Haute Cour, zuwies. Die von den Untersuchungsrichtern im Waffenrock begonnene Voruntersuchung wurde von einem Untersuchungsausschuss des Senats weitergeführt.

Der Senatsausschuss verbrachte mit der Vorbereitung des Prozesses weitere sechzehn Monate. Im Februar 1920 trat endlich der Senat als Haute Cour zusammen. Der Krieg war längst vorbei, und die Initiatoren des Verfahrens waren aus der aktiven Politik ausgeschieden: Poincaré vorübergehend, Clemenceau für immer. Aber ihre Jünger hatten am 11. November 1919 die ersten Nachkriegswahlen gewonnen, und ihrer überwältigenden Mehrheit in der »horizontblauen« Kammer46 entsprach ein solider Mehrheitsblock im Senat.

Der Mann Caillaux, wie ihn das dem Senat unterbreitete Belastungsmaterial schilderte, war ein Ausbund der Untugend: in persönlichen Beziehungen mehr als unvorsichtig, in politischen Bindungen von Hass und Ressentiment aus der bösen Zeit des Calmette-Dramas vom Sommer 1914 getrieben, in der Kritik an der Regierungspolitik von Arroganz und Hochmut erfüllt, ein Mensch ohne Wärme, dem kein Mitgefühl zukommt.

Entlastende Aussagen kamen weder von Malvy, dem Freund und Schützling, der von der Landesverratsanklage freigesprochen, aber wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden war, noch von Briand, dem alten Rivalen, der nicht zum horizontblauen Lager gehörte, aber immer noch über großen Einfluss verfügte. Weder der eine noch der andere konnte sich daran erinnern, von Caillaux halbamtlich, wie er behauptete, aber zur richtigen Zeit mitgeteilt bekommen zu haben, dass er die Annäherungsversuche des nämlichen deutschen Agenten zurückgewiesen habe, von dem die Anklageschrift sagte, Caillaux habe mit ihm »in Verbindung« gestanden. Briand, der selbst seit drei Jahren nicht mehr im Amt war, tadelte Caillaux wegen Unklugheit und Unaufrichtigkeit und wollte ihm nicht mehr zugutehalten als die Atmosphäre allseitiger Feindseligkeit und gegenseitigem Misstrauen, die Politiker dazu treibe, tadelnswerte Dinge zu tun; wenn Politiker nicht mehr in der Regierung seien, meinte Briand, werde angenommen, dass sie bis zum äußersten gingen, um wieder hineinzukommen: »Das Unglück ist, dass die Politiker nicht genug Verbindung miteinander haben; wenn sie einander in der Regierung ablösen, könnte man meinen, sie täten es nur, um einander in Stücke zu reißen, während doch zwischen ihnen, was immer ihre politischen Differenzen sein mögen, starke Bande der Solidarität bestehen sollten.«47

Der Anklage stellte sich Caillaux’ Denken und Handeln als Landesverrat dar, der konkret in der Aufnahme von Verbindungen zum Feind zum Ausdruck gekommen sei. Dieser Beschuldigung, in der juristische Gesichtspunkte hinter politischen Überlegungen zurücktraten, lag folgende Argumentation zugrunde: 1. Damit man im Krieg den Sieg erringe, sei es unerlässlich, dass man an ihn glaube und das Vertrauen zur Armee stärke; 2. außer der verantwortlichen Regierung, die allein ausreichend unterrichtet sei, stehe es niemandem, weder einer Person noch einer Institution, zu, darüber zu befinden, wie der Krieg geführt werden solle; 3. wer dem Feind in irgendeiner Form, unmittelbar oder mittelbar, Beistand leiste, begehe ein Verbrechen.48

Unzweifelhaft gab es genug Beweise dafür, dass Caillaux weder an den Sieg geglaubt noch je die Absicht gehabt hatte, der Armee dazu zu verhelfen, das Vertrauen des Volkes zu behalten. Dafür, dass er sich das der Regierung vorbehaltene Recht, die Kriegspolitik zu bestimmen, angemaßt habe, gab es wenig Anhaltspunkte. Gewiss hatte ihn die deutsche Propaganda unentwegt als den wahren Staatsmann und den einzigen Franzosen mit politischem Verständnis hingestellt; aber das war psychologische Kriegführung und konnte dem ohne sein Zutun auserkorenen Objekt, dem Opfer, schwerlich zur Last gelegt werden. Und Beistand für den Feind? Das war eine komplizierte, problemreiche und problematische Konstruktion.

Man unterstelle, die Regierung und die Anklagebehörde hätten mit der Behauptung recht gehabt, dass ein Kompromissfrieden notwendigerweise zur Vorherrschaft Deutschlands hätte führen müssen. Hätte das geheißen, dass die Befürwortung eines solchen Friedens mit Hilfe, Unterstützung und Zuspruch für den Feind gleichbedeutend gewesen sei? Kam es nicht im Gegensatz zur Meinung des Anklägers entscheidend auf den Nachweis eines schuldhaften Vorsatzes an, auf den Nachweis, dass der Angeklagte, und sei es auch nur zögernd, zum willentlichen Entschluss gekommen sei, die deutsche Sache zu fördern, und dass er darüber im klaren gewesen sei, dass er sie förderte? Wurde da nicht etwas erschlichen? Lag der Anklage nicht lediglich der Umstand zugrunde, dass das, was den Deutschen hätte zuträglich sein können, zufällig mit dem zusammenfiel, was der Angeklagte im Interesse eines dauerhaften Friedens für zweckdienlich gehalten hatte?

Die Argumentation der Anklage vernachlässigte eine elementare Tatsache: Die Bemühungen und Anstrengungen entgegengesetzter Kräfte können mitunter parallel verlaufen, ohne dass diese Kräfte von denselben Beweggründen ausgingen und dieselben Ziele verfolgten. Von der Verteidigung wurde diese Schwäche der Anklage energisch ausgeschlachtet. Marius Moutet, bewährter Kenner des parlamentarischen Getriebes, und Vincent de Moro-Giafferri, der verdiente Künstler des forensischen Gefechts, nahmen Stück für Stück das Beweismaterial auseinander. Und das Gedankengeflecht der Anklage sezierte der Veteran der Advokateur Charles-Gabriel-Edgar Demange (1841 - 1925), ein hochqualifizierter, wenn auch etwas altmodischer Spezialist der juristischen Analyse. Er hatte durchaus das Ohr der ältlichen Herren im Senat, als er den Anklägern nachwies, dass sie über das subjektive Element der Straftat achtlos hinweggegangen waren. Das Auditorium war beeindruckt.

Das letzte Wort des Angeklagten zeugte eher von politischer Konsequenz und Redlichkeit als von juristischer Logik. Allzu geschickt war die Art nicht, wie Caillaux darzulegen versuchte, dass er sich gegen das Gesetz nicht vergangen habe; unbestreitbar dagegen war die Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit seiner politischen Argumentation. »Stahl und Eisen sind die direkten und indirekten Urheber des Krieges«, hatte er in der Anfangsphase der Verhandlungen49 verkündet, und darauf kam er immer wieder zurück. Dem Vorwurf, dass er sich 1916/17 ohne Rücksicht auf interalliierte Verpflichtungen um einen deutsch-französischen Frieden bemüht habe, begegnete er stolz mit der Erklärung, mit diesen Bemühungen habe er sich ein großes Verdienst erworben; was er 1911 zur Erhaltung des Friedens getan habe, habe den Ausbruch des Krieges um drei Jahre hinausgeschoben und Frankreich ganz anders als bei der Überraschungskatastrophe von 1870 genug Zeit gelassen, seine Verteidigungsmittel auszubauen. Die unausweichliche Doppeldeutigkeit der Geschichte war ein schwer widerlegbares Entlastungsargument: Wer einen Krieg vermieden hat, kann sich darauf berufen, dass er seinem Land die Chance gesichert habe, künftigen Gefahren besser vorzubeugen. Unwiderleglich war auch Caillaux’ Zukunftsperspektive: Sein zentrales Ziel, die Schaffung eines vereinten Europas, hatte seit der Vorkriegszeit weder an Überzeugungskraft noch an Dringlichkeit verloren.

Das Urteil der Haute Cour war ein Kompromiss. Mit einem aus der Französischen Revolution überlieferten Wort nannte es Caillaux »eine Maßnahme«, eine politische Entscheidung, nicht einen Akt der Gerechtigkeit.50 Das Gericht erklärte, dass eine schuldhafte Absicht des Angeklagten, die Sache des Feindes zu unterstützen, nicht festgestellt worden sei; infolge des »Verkehrs« des Angeklagten mit dem Feinde seien jedoch der feindlichen Koalition gefährliche politische und militärische Informationen zugetragen worden, womit sich der Angeklagte nach Artikel 78 des Code pénal strafbar gemacht habe.51 Vergebens wies Demange darauf hin, dass Caillaux, der wegen Verstoßes gegen Artikel 79 (Komplott zur Untergrabung der äußeren Sicherheit des Staates) und gegen Artikel 77 (Aufnahme von Verbindungen mit dem Feind) unter Anklage gestanden habe, nun wegen eines Verbrechens verurteilt werde, von dem er schon deswegen nicht habe beweisen können, dass er es nicht begangen habe, weil er dieses Verbrechens gar nicht beschuldigt worden sei. Das Urteil lautete auf Gefängnis für die Dauer von drei Jahren, Aufenthaltsbeschränkung für die Dauer von fünf Jahren und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von zehn Jahren.52 Die Dauer der Gefängnishaft war darauf berechnet, die sofortige Freilassung des Verurteilten, der über zwei Jahre in Untersuchungshaft gehalten worden war, zu ermöglichen. Das Urteil fand die Zustimmung von 150 Senatoren; eine starke Opposition ließ sich jedoch auch durch die Gnadenarithmetik nicht umstimmen: 98 Senatoren gaben ihre Stimme für Freispruch ab.

Die kautschukartige Natur der Strafrechtsklausel über den Verkehr mit dem Feinde war schon früher von Rechtslehrern angefochten worden; Unvorsichtigkeit in Beziehungen solcher Art, meinte ein führender Kommentator, sei eher ein Fehler als ein Verbrechen.53 Im Gegensatz zum Artikel 78 des französischen Strafgesetzbuches, wie er 1920 in Kraft war, bestraft der jetzt geltende Text (seit Juli 1939 Artikel 79 Absatz 4, neuerdings, seit Juni 1960, Artikel 81) jeden, der in Kriegszeiten ohne Genehmigung der Regierung Beziehungen mit Staatsangehörigen oder Agenten des Feindes unterhält. Jetzt bedarf es nicht mehr des Beweises, dass dem Staat durch die dem Feind zugetragene Information Schaden zugefügt worden sei; die Beweislast liegt auch nicht mehr bei der Anklagebehörde: Der Angeklagte muss nachweisen, dass er im Einvernehmen mit der Regierung gehandelt habe.54

Zur Zeit des Caillaux-Prozesses waren diese verschärften Bestimmungen noch nicht in Kraft, und das Urteil der Haute Cour rief allenthalben scharfe Kritik hervor. Weder der Caillaux vorgeworfene Umgang mit Feindesagenten noch die Beschuldigungen nach Art. 77 und Art. 79, die der Senat fallen ließ, hatten sich mit schuldhaftem Vorsatz in Beziehung setzen lassen. Der einzige Brief, den Caillaux je an einen deutschen Agenten geschrieben hatte, sagte, dass der Schreiber mit dem Adressaten nichts zu tun haben wolle. Als Zeuge vor dem Senat hatte Henry de Jouvenel treffend erklärt, Caillaux habe sich nicht des Einvernehmens mit dem Feinde, sondern des fehlenden Einvernehmens mit den Alliierten schuldig gemacht.55 Der vage Inhalt der Anklage war damit vielleicht noch am besten gekennzeichnet.

Was bewirkte nun eigentlich der so lange hinausgezögerte Prozess? Zweifellos lag seine Bedeutung nicht im Urteilsspruch. Sobald das neue Linkskartell bei den Wahlen vom 11. Mai 1924 die konservative Koalition geschlagen hatte, löschte eine Amnestie das Urteil mit all seinen Folgewirkungen aus; Caillaux wurde zum Senator gewählt, und im April 1925 war er von neuem Finanzminister.56 Das Entscheidende war, dass ein Zusammentreffen verschiedener Umstände Poincaré und Clemenceau Ende 1917 die Chance in die Hand gespielt hatte, einen Strafrechtsfall Caillaux zu inszenieren. So konnte Caillaux in den letzten Stadien des Krieges vom politischen Schlachtfeld entfernt und nicht nur als schlechter Patriot und Gegner der nationalen Sammlung der öffentlichen Missbilligung preisgegeben, sondern auch als Verräter und feindlicher Agent durch den Schmutz gezogen werden.

Als das Urteil 1920 schließlich gefällt wurde, kam es auf die Verurteilung des Verleumdeten kaum noch an. Aber in den trüben Wintertagen von 1917/18 war die Ausschaltung Caillaux’ von überragender Bedeutung gewesen. Und die Möglichkeit, Symbolbilder von anhaltender Wirkung zu prägen, auf die die Regierung in dieser kritischen Zeit besonders angewiesen war, hatte mit dem Klischee »Caillaux unter Beschuldigung des Landesverrats verhaftet« einen gewaltigen Auftrieb bekommen.

Die Symbolik der Kriegszeit verblasste sehr schnell. Von ihr war nichts mehr übrig, als nach zehnjähriger Pause eine neue Linkskoalition unter Herriot zur Macht kam und sich mit der entzauberten und ernüchternden politischen Wirklichkeit der zwanziger Jahre auseinandersetzen musste.

b) Das geschmähte Staatsoberhaupt: Fall Ebert

Ist die Landesverratsanklage die schwerste und ungeschlachteste Waffe im Kampf um die politische Macht, so sind die Mittel, mit denen man einen politischen Gegner zu Beleidigungs- oder Verleumdungsklagen zwingen kann, fast wie ein Florett: handlicher, beweglicher, zweideutiger. Und da diese Mittel auch denen zugänglich sind, die am Genuss der Macht nicht teilhaben, wird von ihnen auch sehr viel häufiger Gebrauch gemacht. Ihre Wirksamkeit ist von Land zu Land verschieden. Sie hängt einerseits mit nationalen Unterschieden in den gesetzlichen Vorschriften, anderseits damit zusammen, wie sich die Allgemeinheit und die Richter zu Verunglimpfungen im politischen Bereich stellen.57

Diffamierung in der politischen Sphäre mit anschließenden Beleidigungs- und Verleumdungsklagen war in der Weimarer Republik sehr früh zur Alltagserscheinung geworden. Diese Waffe konnten die Deutschnationalen schon 1920 gegen den vielseitigsten und einfallsreichsten, wenn auch vielleicht nicht allerskrupelhaftesten Politiker der Periode, den Zentrumsmann Matthias Erzberger (1875 - 1921), damals Reichsfinanzminister, nicht ohne Erfolg in Anschlag bringen. Von den vielen Fällen, die Erzbergers Vorgänger aus des Kaisers Tagen, sein ärgster Feind Karl Helfferich, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei, gegen ihn zusammengetragen hatte, um zu beweisen, dass der republikanische Verwalter der Staatsfinanzen Politik und Geschäft auf unzulässige Weise vermenge, erwiesen sich die meisten als gegenstandslos. Doch auch die wenigen Fälle, in denen Helfferichs Anschuldigungen unwiderlegt blieben, reichten dazu aus, dem verklagten Beleidiger zu einem gewissen moralischen Sieg zu verhelfen und den Kläger Erzberger zum Rücktritt zu zwingen.58

Ungleich höher war der Einsatz im Beleidigungsprozess, den Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 - 1925) Ende 1924 zu führen genötigt war. Hier ging es nicht mehr um Probleme privater oder öffentlicher Moral. Auf dem Spiel stand hier die Legitimität des neuen republikanischen Staatswesens schlechthin; sie hing wesentlich mit der Beurteilung der historischen Rolle zusammen, die der erste Präsident des jungen Staates in den Januartagen 1918 gespielt hatte, sozusagen in der Inkubationszeit der Republik. Der gerichtlichen Austragung des Konflikts kam umso größere Bedeutung zu, als Eberts Amtszeit ihrem Ende entgegenging. Die Behandlung der Beleidigungsklage und ihr Ausgang mussten sowohl seine Bereitschaft, sich zur Wiederwahl zu stellen, als auch die Möglichkeit beeinflussen, ihn zum Bannerträger einer republikanischen Koalition bei der ersten Volkswahl des Präsidenten im Juli 1925 zu machen.

Es ist mit Ebert nicht viel anders als mit dem anderen führenden europäischen Staatsmann der zwanziger Jahre, der gleich ihm aus den Reihen der Arbeiterbewegung gekommen war: J. Ramsay MacDonald (1866 - 1937). Auf der historischen Leistung beider Männer, die das Heranrücken der organisierten Arbeiterschaft an den Staat symbolisieren, liegen dunkle Schatten. In der Perspektive ist gerade Eberts Lebenswerk verzerrt, weil die großen geschichtlichen Gebilde, mit denen es aufs engste verbunden war, die Sozialdemokratische Partei der vorhitlerschen Zeit und die Weimarer Republik, gescheitert sind. Nachdem das Verhängnis seinen Lauf genommen hat, lassen sich jedoch zwei historische Momente am allerwenigsten aus der Welt schaffen: Ebert hatte bei der in vieler Hinsicht fatalen Spaltung der deutschen Arbeiterklasse Pate gestanden und sie durch seine Haltung während des Krieges vertieft, und während seiner Tätigkeit als Reichspräsident wurde er zum Mittelsmann zwischen den Politikern der Republik und den Generalen und Bürokraten der alten Zeit, die ihn als Schirmherrn und als Schachfigur benutzten. Sind seine gewaltigen Anstrengungen, die Weimarer Republik zu einem lebensfähigen politischen Gebilde zu machen, damit zu abschätzig beurteilt? Gewiss: Hätte Ebert den Vorzug gehabt, nicht im Deutschland der zwanziger, sondern im England der vierziger Jahre zu wirken, so hätte er mit Auszeichnung die Rolle eines Ernest Bevin (1881 - 1951) bewältigen und zum Vollstrecker und Symbol der dauernden Verbindung der endlich als gleichberechtigt anerkannten Volksmassen mit der staatlichen Organisation werden können. In Bevins von Erfolg gekrönter Karriere gibt es mancherlei, was die Geschichte nachsichtig belächelt: eine gewisse Gespreiztheit und Affektiertheit, die unverbesserliche Neigung, sich von einer »fachlich geschulten« Ministerialbürokratie imponieren und an der Nase herumführen zu lassen, ja überhaupt alles, was zum schwierigen Aufstieg eines Politikers aus den unteren Gesellschaftsschichten gehört, wenn er von gleich zu gleich mit den alten herrschenden Schichten umgehen will, deren Beifall und Billigung er sucht, weil er glaubt, das sei für die Erfüllung seiner eigenen geschichtlichen Sendung unerlässlich. All diese Dinge, die die Geschichte dem Erfolgreichen verzeiht, werden zur Tragödie, wenn das Unterfangen mit völligem Fehlschlag endet.

So verschieden die Historiker Eberts Rolle auch beurteilen mögen, eins scheint über jeden Zweifel erhaben: Ebert war genau das, was man in den ersten zwei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts unter einem deutschen Patrioten verstand. Im Kriege stand er in der ersten Reihe der sozialistischen Politiker, die ohne jeden Hintergedanken den Sieg der deutschen Sache ersehnten. Erst verhältnismäßig spät, zu Beginn des Sommers 1917, kam er – wie auch die meisten Politiker des deutschen Bürgertums – zu der Einsicht, dass man im allergünstigsten Fall gerade noch einen Kompromissfrieden erhoffen könne, der Deutschland, ginge alles mit rechten Dingen zu, die Erhaltung des Status quo brächte. Keineswegs schwächte diese für ihn deprimierende Erkenntnis den Eifer, mit dem er sich abmühte, das Staatsschiff im Innern vor dem Kentern zu bewahren. Dazu warf er alle Machtmittel in die Waagschale, über die er als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei und einer ihrer einflussreichsten parlamentarischen Vertreter verfügte, obgleich damit die Kluft zwischen breiten Schichten der Arbeiterklasse und der Politik der sozialdemokratischen Führung immer weiter aufgerissen wurde. Unvermeidlich kam das Eberts ehemaligen Parteifreunden zustatten, die die Disziplin der alten Partei nicht mehr gelten ließen und nun dabei waren, eine Konkurrenzorganisation aufzubauen. In den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellte die neue Organisation, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die Mobilisierung der Massen für den bald möglichen Abbruch des Krieges.

Kaum war 1919 der Versailler Friedensvertrag unterschrieben worden, als auch schon die Behauptung – von der extremen Rechten und manchen Gruppen der gemäßigten Rechten lanciert – in Umlauf kam, dass der Krieg hätte gewonnen werden können, wenn nicht landesverräterische Unruhen, Streiks und defätistische Strömungen dem tapferen Heer einen »Dolchstoß in den Rücken« versetzt hätten; nur dadurch sei die Revolution ausgelöst, die Niederlage verursacht worden. Für diesen Ausgang des Krieges wurde die gesamte Linke ohne Unterschied der Parteischattierungen verantwortlich gemacht.

Die Geschichtsepisode, um die sich der Ebert-Prozess drehte, hatte der Legende von der auf dem Felde der Ehre siegreichen, aber von Landesverrätern hinterrücks erdolchten deutschen Armee einen ihrer wichtigsten Bausteine geliefert. Ende Januar 1918 waren in zahlreichen Metallbetrieben und anderen Arbeitsstätten der Kriegsindustrie in vielen wichtigen Industriezentren Deutschlands und Österreichs Streiks ausgebrochen. Die Streikenden hatten auf eigene Faust, ohne Unterstützung oder Billigung der Gewerkschaften, Streikleitungen gebildet und politische und wirtschaftliche Forderungen aufgestellt. Einerseits riefen sie nach einem Frieden ohne Annexionen und nach Heranziehung von Arbeitervertretern zu den Friedensverhandlungen: eine überaus populäre Forderung in den Tagen, an denen in Brest-Litowsk über die kaum verschleierten deutschen Ansprüche auf große Teile früher russischen Gebiets erbittert gerungen wurde. Anderseits verlangten sie eine bessere Lebensmittelversorgung, Einschränkung der Befugnisse der Militärgewalt im Innern des Landes, insbesondere in den Betrieben, und entschiedene Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Gerade die Demokratisierung war ein brennendes Problem, denn die in Preußen herrschenden Kreise bekämpften wütend jeden Versuch, das ungerechte preußische Dreiklassenwahlrecht zu beseitigen.

Die aktivsten Elemente der Streikleitungen standen in organisatorischer Verbindung mit der sozialistischen Linken, die sich von der offiziellen Sozialdemokratie getrennt hatte. Was sie forderten, drückte indes keinen besonderen Parteistandpunkt aus, sondern entsprach in der Hauptsache dem, was die große Mehrheit der Bevölkerung dachte. Ebenso wie die Gewerkschaftsführung wurde der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei vom Ausbruch des Streiks am 29. Januar überrascht und in gewissem Sinne überwältigt; von den Berliner Streikenden aufgefordert, Delegierte in die elfköpfige Streikleitung zu entsenden, beschloss der Parteivorstand, der Einladung Folge zu leisten.

Die Einladung war ohnehin nicht ohne Schwierigkeiten zustande gekommen. Als Wortführer der Unabhängigen Sozialdemokraten, die in der Streikleitung bereits vertreten waren, trat Georg Ledebour (1850 - 1947) mit Vehemenz gegen die Heranziehung der Mehrheitspartei auf; nicht zu Unrecht befürchtete er, dass sich die Bereitschaft zu Kompromissen mit den Behörden in einer so erweiterten Streikleitung stärker bemerkbar machen werde. Für den Augenblick lag aber der Delegiertenversammlung der Streikenden mehr daran, der Streikbewegung einen möglichst breiten politischen Widerhall zu verschaffen; sie entschied sich gegen Ledebour. Zu den drei Abgesandten des sozialdemokratischen Parteivorstandes gehörte auch Ebert. Der Streik, der in seinen letzten Stadien in Berlin allein über eine halbe Million Menschen in den Kampf hineingezogen hatte, wurde nach fünftägiger Dauer abgebrochen. Unter dem Druck der Obersten Heeresleitung (Ludendorff) und auf Anraten der Berliner Polizeibehörde hatte die Regierung den Belagerungszustand verhängt, auf Grund eines Gesetzes von 1851 außerordentliche Kriegsgerichte, gegen deren Urteile (auch wenn es Todesurteile waren) Berufung nicht möglich war, errichtet und Verhandlungen mit den Streikenden abgelehnt.

Die Motive, die Ebert und seine Partei veranlasst hatten, sich an der Streikleitung zu beteiligen, und vor allem auch Eberts Verhalten während des Streiks gaben den Gegenstand der Beleidigungsklage von 1924 ab. Faktisch fand der Prozess zweimal statt. Seine Vorgeschichte begann bei einem Amtsbesuch Eberts in München im Juni 1922, als ein völkischer Hetzer dem Reichspräsidenten auf der Straße »Landesverräter« zurief. Die Angelegenheit kam vor ein Münchner Gericht, das auf Antrag des Beklagten das persönliche Erscheinen des beleidigten Staatsoberhaupts verlangte; um den Gegnern keine neue Gelegenheit zu ungestraften öffentlichen Schimpfkanonaden zu geben, folgte Ebert dem Rat seiner Anwälte und zog den Strafantrag zurück. Unterdes waren die prozessualen Vorschriften abgeändert worden, so dass die Zeugenaussage des Reichspräsidenten auch an seinem Amtssitz eingeholt werden konnte. Als derselbe Täter seine Beschimpfungen in einem »Offenen Brief« wiederholte und ein nationalistisches Blättchen sie mit eigenen beleidigenden Ergänzungen abdruckte, leitete die Staatsanwaltschaft gegen den verantwortlichen Redakteur der Zeitung ein Verfahren ein, dem sich Ebert als Nebenkläger anschloss. Im Dezember 1924 kam der Fall vor dem Schöffengericht Magdeburg zur Verhandlung. Das Gericht setzte sich aus zwei Berufsrichtern (die, wie sich später herausstellte, zum völkischen Flügel der Deutschnationalen gehörten) und zwei Schöffen zusammen.59

Die recht weitschweifigen Zeugenaussagen konzentrierten sich auf zwei miteinander verflochtene Fragen: 1. Welche Beweggründe hatten den sozialdemokratischen Parteivorstand veranlasst, sich an der Streikleitung von 1918 zu beteiligen? 2. Wie hatte sich Ebert in der Streikleitung und namentlich in einer Massenversammlung der Streikenden, die am 31. Januar 1918 in Treptow im Freien abgehalten wurde, verhalten?

Das große Zeugenaufgebot zerfiel in vier deutlich unterscheidbare Gruppen. Zur ersten gehörte die treue Mannschaft sozialdemokratischer Funktionäre, darunter auch der längst nicht mehr radikale frühere USPD-Parlamentarier und Streikleitungsteilnehmer Wilhelm Dittmann (1874 - 1954), der in derselben Treptower Versammlung nach Ebert das Wort genommen hatte, aber von der Polizei am Weiterreden gehindert, vor ein Kriegsgericht gestellt und zu fünfjähriger Festungshaft verurteilt wurde. Die Aussagen dieser Funktionäre kreisten um einen einfachen Gedankengang: Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand von Anfang an gegen den Streik gewesen sei, habe er sich für die Teilnahme an der Streikleitung entschlossen, um den Streik auf diese Weise so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen; selbstverständlich habe Ebert diesen Vorstandsbeschluss befolgt. Darüber hinaus wurde die insgesamt vaterlandstreue Haltung der Sozialdemokratischen Partei hervorgehoben, die 1917/18 von allen Regierungsorganen lobend anerkannt worden sei. Eberts eigene Darstellung deckte sich im Wesentlichen mit den Aussagen dieser Zeugengruppe.

Die zweite Gruppe bildeten Zeugen, die linkssozialistischen Gruppierungen entweder früher angehört hatten oder noch angehörten, der Sozialdemokratischen Partei mehr oder minder feindlich gegenüberstanden und am Streik von 1918 in dieser oder jener Form teilgenommen hatten; auch der einstige Vorsitzende der Berliner Streikleitung, der Kommunist geworden war, war darunter. Diese Zeugen betonten, dass der sozialdemokratische Parteivorstand aus höchst eigensüchtigen Motiven zur Streikleitung gestoßen sei, um das Ansehen der Mehrheitspartei in den Augen der Arbeitermassen zu heben; in den Jahren zuvor habe die Partei infolge ihrer überpatriotischen Haltung schwere Einbußen erlitten. Außer einem einzigen Zeugen, der inzwischen zur extremen Rechten abgeschwenkt war, bestätigten diese Linken bereitwilligst, dass Ebert – wenn auch vergebens – versucht habe, die Forderungen der Streikenden abzumildern; von ihrem Standpunkt aus war Ebert damit nur noch mehr als »Sozialpatriot« belastet. Mit dieser Version stimmte die Darstellung eines parteilosen Zeugen überein, der Eberts Treptower Rede vom 31. Januar als Journalist gehörte hatte. Eberts Dilemma, meinte er, habe darin bestanden, dass er sich einerseits gegen eine äußerst kritische Zuhörerschaft habe durchsetzen müssen, ihr aber anderseits nicht allzu sehr habe entgegenkommen können, um sich nicht mit seiner eigenen Politik in Widerspruch zu setzen: einer Politik der entschiedensten Landesverteidigung bis zu einem Zeitpunkt, zu dem der Abschluss eines ehrenhaften Friedens möglich geworden wäre.

Die größte öffentliche Beachtung zog die dritte Gruppe auf sich, die gleichsam bestellten Zeugen. Sobald das politische Potential des Prozesses in Rechtskreisen erkannt worden war, unternahm es ein als Berliner Lokalgröße bekannter deutschnationaler Landtagsabgeordneter, im Nebenberuf Pfarrer, Zeugen zu suchen, die mit »interessanten« Aussagen aufwarten könnten. Mit ihrer Vernehmung verschob sich das Schwergewicht der Beweisaufnahme von Eberts umstrittenen Beweggründen und Zielen zu den konkreten Vorgängen in der Versammlung vom 31. Januar. Jetzt tauchte die Behauptung auf, Ebert habe in Treptow auf eine schriftliche Frage, wie sich die Arbeiter gegenüber Einberufungsbefehlen zu verhalten hätten, antworten müssen. Ohne Zweifel war die Frage von brennendem Interesse, denn die Behörden hatten seit Kriegsbeginn »Rädelsführer« der Unzufriedenen und Murrenden dadurch mundtot zu machen gesucht, dass sie sie als Soldaten einzogen. Nun hieß es, Ebert habe den Streikenden den Rat gegeben, Gestellungsbefehle nicht zu beachten. Ebert selbst konnte sich an den Vorgang nicht mit voller Klarheit erinnern. Allerdings widersprachen solche zweifellos präparierten Aussagen nicht nur der bis dahin bekannten Gesamtlinie der Ebertschen Politik, sondern auch dem, was bei Diskussionen im sozialdemokratischen Parteivorstand zu diesem konkreten Punkt geäußert worden war. Überdies wurde das Hauptparadepferd unter diesen organisiert zusammengesuchten Zufallszeugen, dessen Behauptungen den politischen Bedürfnissen der äußersten Rechten am ehesten entgegenkamen, so gründlich diskreditiert, dass das Urteil seiner Aussage keine Beachtung schenkte.

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