Götterhämmerung & Walkürentritt

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„Und hat er sich auch vorgestellt?“, wollte Sabrina wissen, die nicht recht wusste, ob sie Alfred auslachen oder sich vor ihm fürchten sollte. „Er nannte sich Thor und sagte, er sei auf der Suche nach seinem Hammer, deshalb müsse er seine Rolle als Barbarossa aufgeben und brauche einen geeigneten Vertreter.“ Sabrinas entschied sich jetzt doch für Furcht und verbannte das Lachen in den hintersten Winkel ihrer Magengrube. „Thor?“, brachte sie mühsam hervor. Alfred nickte. „Das hat er gesagt: Thor!“


Das waren eindeutig menschliche Behausungen, die sich da links und rechts des breiten, staubigen und ausgefahrenen Weges an den Hang schmiegten. In Modi breitete sich ein Gefühl tiefer Zufriedenheit aus, wie es immer dann der Fall war, wenn er eine besonders komplizierte Aufgabe souverän gelöst hatte. Sein Vater würde stolz auf ihn sein sein und seine Mutter und natürlich sein Großvater Odin, der Einäugige. Sein Bruder Magni hingegen würde wohl nie stolz auf ihn sein, grübelte er enttäuscht, weil der stets dachte, er hätte einen entscheidenden Anteil an Modis Verdiensten.

Das sah Modi grundlegend anders. Bei diesem letzten kleinen Versehen, als sie knapp eintausend Jahre zu weit gekommen waren, hätten sie ohne Modis tiefe Kenntnisse der Astromystik niemals diesen Ort verlassen können und würden wer weiß wann noch in dieser menschenleeren Zeit herumirren.

Beide Göttersöhne konnten nicht wissen, dass im Jahre 3012 nach christlicher Zählart der südliche Harz schon längst von seinen Bewohnern verlassen und nicht mehr besiedelt war. Um diese Zeit hatte die Ökologische Einheitspartei Europas das ganze Gebiet als großen Nationalpark ausgewiesen. Das bedeutete nichts anderes, als dass es bei Strafe verboten war, irgendetwas im Wald zu tun. Weder für den Wald noch gegen ihn.

Magni hatte die Hütten zuerst gesehen und seinen Bruder darauf aufmerksam gemacht. Er wollte die Taktik bei einem möglichen Kontakt mit den Bewohnern durchbesprechen, die sich in seinen Augen darauf konzentrieren sollte, so lange auf die anzutreffenden Menschen einzuprügeln, bis sie den Raub von Thors Hammer gestanden.

Modi bevorzugte eine feinfühligere und schmerzfreiere Vorgehensweise, was zu leichten Verstimmungen unter den Brüdern geführt hatte. Modi wollte erst Fragen stellen, ehe Magnis Überredungskünste ins Spiel kämen. Modi war auch der Meinung, es bestünde die Möglichkeit, die Menschen in diesem Tale wüssten wirklich nichts vom Diebstahl des Hammers. Diese Theorie erschien Magni sehr unwahrscheinlich, wenn sie in der richtigen Zeit wären. Den Rest des Tages hatten sie damit verbracht, einige Vermutungen darüber anzustellen, wann sie gerade wären. Im Schutz der Dunkelheit wollten sie die menschlichen Behausungen unter die Lupe nehmen. Das Zwielicht warf diffuse Schatten durch die Wipfel der großen Kiefern, als die beiden Göttersöhne sich auf den Weg machten und nicht eben vorsichtig durch das Unterholz brachen. Bald schon konnten sie die kleinen Häuschen besser erkennen, die hangseitig einen Hof hatten, wo sich die letzten Hühner eben zur Ruhe begaben. Eine Hütte, aus der ein heller Lichtstrahl drang, erregte ihr besonderes Interesse, weil sie eine der wenigen war, in denen überhaupt Leben zu sein schien. Langsam schlichen sie sich an die Rückseite des Hauses an. Dort angelangt stimmten die Brüder ihr Vorgehen mit einem Kopfnicken ab. Magni holte seinen Hammer aus dem Gürtel und verstaute dafür sein großes Schwert. Modi stand bereits angriffsbereit neben dem rückwärtigen Verschlag und gab Magni ein Handzeichen.

‚Rums‘, machte die Tür und hörte splitternd auf, als solche zu existieren. In den Angeln hingen zerfaserte Überreste der einstmals massiven Füllung, der Rahmen hing bedrohlich in den Raum hinein. Drei Männer in einfacher Kleidung sprangen erschrocken auf und griffen nach ihren bereitliegenden Waffen. Einer wollte einen Morgenstern an einem dicken Holzprügel ergreifen, kam jedoch nicht dazu, ihn in die Höhe zu heben. Modis Schwert hatte den Stiel blitzschnell zerschmettert. Ein zweiter grabschte nach seinem Schwert, fasste aber nur schmerzhaft in die Schneide von Magnis Dolch, der soeben das Schwert vom Tisch gefegt hatte. Der dritte Mann war schnell aufgesprungen, wobei sein Kopf heftig mit Magnis Hammer kollidiert war, den der Götterspross noch in seiner rechten Pranke hielt. Daraufhin hatte sich der so Angegriffene neben dem Tisch zu einer kurzen, aber intensiven Ruhepause hingelegt und nahm am folgenden Disput nicht aktiv teil.

Das alles ging rasend schnell und keiner der drei angegriffenen Bauern konnte sich später daran erinnern, was zuerst passiert war: Ihre Entwaffnung oder die Zerstörung der Tür. Die beiden Brüder richteten ihre Waffen drohend auf die vernehmungsfähigen Kämpen, die keinen sehr professionellen Eindruck machten und deutliche Anzeichen von lähmendem Entsetzen aufwiesen.

„Was begehrt Ihr, Herr?“, fragte der eine von ihnen mit zittriger Stimme. Er war wohl auch deshalb eingeschüchtert, weil er Modis Schwertspitze an seinem ungewaschenen Hals spürte. Modi zog die Waffe zurück und steckte sie wieder in den Gürtel. Er öffnete in der festen Absicht den Mund, nun mit dem Verhör zu beginnen.

„Wir wollen nur wissen, wann wir sind?“, fragte Magni dazwischen und Modi dachte: ‚Oh nein, nicht schon wieder.‘

„Ich verstehe Euch nicht, Herr“, antwortete der Mutigere der beiden Überfallenen ehrlich. „Was meint Ihr mit: Wann wir sind?“

„Vergiss es“, sagte Modi grollend, „und stell hier keine Fragen, das ist unser Part. Sag uns, welches Jahr wir schreiben.“

„Welches Jahr?“, echote der aufständische Bauer, denn um niemand anderes handelte es sich bei den hier Versammelten. Er blickte verblüfft vom einen zum anderen der beiden Eindringlinge.

„Es ist das Jahr des Herrn 1525“, sagte der Mann betont langsam, als spräche er mit einem besonders dämlichen Stadtbewohner.

„Welches Herrn?“, donnerte Modi jetzt, obwohl er die kommende Antwort schon zu kennen befürchtete.

„Unseres Herrn Jesus Christus“, erwiderte der Bauer ungläubig über so viel Blödheit.

„Ich habe es gewusst“, brüllte Magni und zerteilte den massiven Eichentisch in der Mitte des Raumes mit einem einzigen, wütenden Hieb seines Riesenschwertes.

Modi sagte etwas kleinlaut: „Lass uns bitte einfach gehen, ja?“

„Wollen wir große Steine suchen?“, höhnte sein Bruder und verließ die Hütte.

„Nichts für ungut“, entschuldigte sich Modi bei den beiden Bauern, die ihn ungläubig anglotzten, und folgte Magni ins Freie.

Es war eine wundervolle, sternenklare Nacht über dem kleinen Örtchen Stolberg im südlichen Vorharz. ‚Zu schade, dass wir keinen Steinkreis in der Nähe haben‘, dachte Modi und seufzte.


Friedhelm Fürchtegott litt unter seinem Namen, seit er ein kleines Kind war. Jetzt war er schon lange kein Kind mehr, aber zu seinem Bedauern immer noch klein. Sein Körper hatte bei einer lichten Höhe von 1, 63 m das Wachstum eingestellt und ließ sich weder mit chemischen Mittelchen noch Dehn- oder Streckübungen zu einer weiteren Längenausdehnung überreden. Durch die moderne Schusterkunst konnte sich Friedhelm um knapp zehn Zentimeter erhöhen. Das war wenigstens etwas, doch eine Frau kennen zu lernen, war nach wie vor schwierig. Ein kleiner Trost war für Friedhelm, dass er wenigstens nicht kugelrund geworden war. Sport bestimmte sein Leben, so lange er denken konnte. Er war ein exzellenter Läufer über längere Strecken und im Fliegengewicht, seiner Gewichtsklasse, ein durchaus passabler Boxer. In seiner Jugend hatte er mehrmals Kreismeistertitel errungen, sowohl im Langlauf als auch im Faustkampf. Intensiv hatte er sich mit asiatischen Kampfsportarten auseinandergesetzt, was ihn wenigstens teilweise die Mängel seiner Körpergröße kompensieren ließ, wenn es gegen Kanaken, Türken oder Jugos zur Sache ging. Seit seiner Realschulzeit war Friedhelm Fürchtegott Mitglied verschiedenster Parteien und Aktionsbündnisse der nationalen Bewegung. Hin und wieder verbot der feige deutsche Verräterstaat eine dieser politischen Gruppierungen, aber wenn es etwas Brauchbares an der Demokratie gab, so war es die Tatsache, dass sich die aufgelösten nationalen Vereinigungen sofort wieder unter einem anderen Namen reorganisieren konnten. Friedhelm hatte den Beruf eines Wirtschaftskaufmannes erlernt, weil er glaubte, man müsse in die Strukturen des desolaten Staates eindringen, um den Feind von innen her, praktisch aus seinen Eingeweiden heraus, zu besiegen. Bald schon stellte er fest, dass eine neue Ordnung in Deutschland nicht so einfach herzustellen war, wie er in seiner jugendlichen, idealisierenden Jahren gehofft hatte. Selbst die langhaarigen, arbeitsscheuen, ständig bekifften Achtundsechziger hatten es in diesem Land zu Karrieren gebracht. Und er, Friedhelm Fürchtegott, vegetierte als Versicherungsvertreter dahin und schwatzte den Leuten nutzlose Policen auf. Durch seine hohe Stellung in der Hierarchie der nationalen Bewegung konnte er immerhin auf seine Kameraden als Kunden zurückgreifen und hatte ein relativ gesichertes Einkommen. Im Laufe der Zeit gewöhnte er sich daran, alles und jeden aus seiner Froschperspektive ansehen zu müssen. Entscheidend war, dass seine Kameraden ihm Achtung und Respekt entgegenbrachten. Sie akzeptierten ihn als Volksgenossen, so wie er war. Und dafür war ihnen Friedhelm dankbar. Seit mehreren Jahren lebte er unabhängig und von der verlogenen, bürgerliche Scheindemokratie zurückgezogen in einem kleinen Häuschen am Rande Südniedersachsens. Eben dort, wo bis vor wenigen Jahren noch der Schutzwall gegen die slawischen Bolschewistenhorden gestanden hatte. Doch das Ende der DDR hatte auch gute Seiten gehabt, denn viele wahre Freunde der Bewegung konnten endlich aus ihrem Kerker heraus und stärkten nun die nationale Sache. Friedhelm Fürchtegott hatte eine zahlenmäßig beeindruckende Gruppe junger Kämpfer um sich versammelt, die weit verstreut in den umliegenden Bundesländern der Gemeinschaft dienten und die echten deutschen Werte hochhielten.

 

Einer seiner besten Informanten, der als Polizist in Sachsen-Anhalt seinen Dienst versah, hatte ihn gerade angerufen. Im Kyffhäuser war ein Toter gefunden worden, der offenbar vor ein bis zwei Tagen von einem Felsen gefallen oder gestürzt worden war. Er hatte nichts weiter bei sich gehabt, als ein Opernglas, ein Handy und einen Zettel mit der ausführlichen Beschreibung einer Streitaxt. Der Informant dachte, es könnte seinen Gruppenführer Fürchtegott vielleicht interessieren.

„Das ist wirklich sehr interessant, Rainer. Ich danke dir für diese Nachricht“, sagte Friedhelm und zündete sich mit der freien Hand eine Zigarette an. Er blies den Rauch stoßweise durch die Nase aus. „Aber sag mir noch eins. Wen hat der Tote zuletzt angerufen?“

Auf der anderen Seite der Leitung trat ein beredtes Schweigen ein.

„Rainer, bist du noch da?“, setzte Friedhelm nach.

„Ja“, sagte Rainer kleinlaut. „Natürlich bin ich noch da.“

„Und?“, bohrte der Gruppenführer weiter.

„Ich weiß es momentan nicht. Ich rufe dich gleich zurück, okay?“

Friedhelm Fürchtegott legte auf. ‚Idioten‘, dachte er, ‚Das ist doch das Erste, das man überprüft.‘ Langsam fügte sich ein Steinchen des Mosaiks an den anderen: Erst terrorisierte diese Verrückte im Theater die Sänger und klaute einen wertlosen Hammer, dann war bei ihrem dicken Begleiter die CIA oder MI-5 zu Gast und nun tauchte eine Leiche mit der Beschreibung eines alten Streithammers auf. Fürchtegott dachte so intensiv nach, dass es ihm physisch anzusehen war. „Thors Hammer“, murmelte er immer wieder vor sich hin. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Ein Kultobjekt der alten Götter, ach was, das Kultobjekt schlechthin! Damit hatte der große Donnergott über das Wetter geboten, Blitz und Donner erzeugt und unzählige Feinde des göttlichen Asengeschlechts waren dem Hammer unerbittlich zum Opfer gefallen. Einmal war er sogar von einem Riesen gestohlen worden, glaubte sich Friedhelm zu erinnern, aber Thor hatte ihn sich zurückgeholt und den feigen Dieb niedergestreckt. Wer diesen Hammer in seinen Besitz brächte, würde früher oder später auch herausfinden, wie er benutzt werden konnte. Macht würde der Hammer seinem Besitzer verleihen, undenkbare, gewaltige Macht. In den richtigen Händen könnte der Hammer den Beginn eines neuen, von der nordischen Heldenrasse geprägten, Zeitalters bedeuten. Und es würde endlich beweisen, dass es andere Götter neben diesem jüdischen Hänfling aus Arabien gab. ‚Das ganze verlogene Christentum würde ins Wanken geraten und unsere nordischen Menschen hätten ihre guten, alten Götter wieder‘, dachte er. Aufgeregt lief Friedhelm mit kräftigen, großen Schritten in seinem Wohnzimmer auf und ab, die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf mit dem kurzgehaltenen Igelschnitt und den Pockennarben im Gesicht weit nach oben gereckt, wie er es sich schon vor langer Zeit angewöhnt hatte. In diesem Moment und mit diesen Posen gab er das klassische Klischee eines großen Strategen oder Heerführers ab, der einstmals ganz Europa unterjochen wollte. ‚Und wenn ich den Hammer finde‘, überlegte Friedhelm weiter, ‚dann bin ich auch der legitime Vertreter der Götter auf Erden. Sozusagen der nordische Papst‘, schoss es ihm durch den Kopf, aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Schließlich war der Papst auch doof und ein Ausländer.

Das Telefon klingelte. Friedhelm ging schnell zum Schreibtisch und nahm nach dem dritten Klingelzeichen ab.

„Ja“, sagte er langgezogen.

„Ich bin es, Rainer“, antwortete sein Polizeispitzel. „Wir haben die Nummer gecheckt. Es ist der Kreisanzeiger in Nordhausen, Apparat Donath. Dort hat der Tote vorgestern Nachmittag angerufen.“

„Wer ist Donath?“, wollte Friedhelm gereizt wissen, der sich über Anglismen wie ‚gecheckt‘ schwarz ärgern konnte.

„Eine junge Redakteurin, wir überprüfen sie gerade. Soll ich später die Jungs zu ihr schicken?“, erkundigte sich Rainer.

„Um Gottes willen, nein“, brüllte Friedhelm jetzt fast in den Hörer. „Wir beobachten die Sache von hier aus. Ich habe vor, die Geschichte mit Verstand anzugehen. Eine halbtote Journalistin nützt uns dabei nichts. Wir werden warten. Auf Wiedersehen, mein Freund.“

Jetzt hatte er schon so lange auf seine Chance gewartet, da kam es auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht an. Er musste nur alles genau im Auge behalten. Vorerst zufrieden mit dem Verlauf der Dinge setzte er sich in seinen Schreibtischsessel. ‚Eine junge Redakteurin namens Donath‘, dachte er, ‚Sehr interessant.‘


Sabrina saß wie vom Donner gerührt und las den Polizeibericht immer wieder, den sie vor fünf Minuten in ihrem E-Mail Postfach gefunden hatte:

Der leblose Körper einer nicht näher identifizierten, männlichen Person wurde am Fuße eines Abhangs im Kyffhäusergebirge festgestellt. Scheinbares Alter der Person 45 – 50 Jahre. Die tote Person führte einen Feldstecher, ein Mobiltelefon der Marke Panasonic und einen Zettel mit Angaben über eine alten Streitaxt mit sich. Nach ersten Untersuchungen ist die Person seit etwa zwei Tagen tot. Vermutlich stürzte der Mann beim Klettern von einem Felsvorsprung. Die Ermittlungen laufen. Sachdienliche Hinweise zum Tathergang können unter (034652) 88 12 88 oder bei der zuständigen PI gemeldet werden. Sabrina wusste sofort, dass der Tote der Kerl war, der sie zu dem Treffen bestellt hatte. Sie war sich absolut sicher. Todsicher, wie sie mit einem Anflug von verzweifeltem Galgenhumor dachte. Die Zeit stimmte, der Ort stimmte, er hatte ein Handy, er hatte die Beschreibung einer Axt in der Tasche. Es war entsetzlich.

„Sabrina, Telefon für dich“, rief Enrico aus dem Büro und sie setzte sich mit dem Fax in der Hand wie in Trance in Bewegung. Im Büro schaute sie Enrico an, deutete auf den Hörer und verzog fragend den ganzen Körper. Enrico zuckte mit den Schultern und flüsterte: „Hab’s nicht genau verstanden, Treitmann oder so.“

Sabrina setzte sich steif auf ihren Stuhl und nahm den Hörer zitternd zwischen Daumen und Zeigerfinger, den kleinen Finger spreizte sie weit nach außen ab.

„Ja, Donath“, hauchte sie in den Hörer.

„Guten Tag, Frau Donath, mein Name ist Zeitzmann“, ließ sich eine volltönende Stimme am anderen Ende vernehmen, „Kripo Sangerhausen.“

Sabrina erblasste in Rekordzeit und hätte fast den Hörer fallen gelassen.

„Ich möchte Sie nicht lange aufhalten und Ihnen nur einige Fragen stellen“, sagte der Kriminalbeamte freundlich.

„Wir untersuchen einen Todesfall, vermutlich ein Unfall. Beim Opfer fanden wir ein Mobiltelefon. Die letzte gewählte Nummer war Ihre Büronummer. Können Sie sich an einen Anruf erinnern, der Sie vorgestern Nachmittag um 14 : 36 Uhr in Ihrem Büro erreicht hat?“

Sabrina riss kleine Fetzen von ihrer Schreibtischunterlage ab. Wenn sie zugäbe, sich mit dem Mann getroffen zu haben, würden sie ihr vielleicht einen Mord in die Schuhe schieben. Andererseits wusste sie nicht, was die Polizei schon herausgefunden hatte. Sie hatten ein Handy gefunden und ihre Nummer entdeckt. Was war das für ein Handy und konnten die Polizisten erkennen, ob sie den Anruf entgegengenommen hatte? Vermutlich ja, sonst würde dieser Zeitzmann nicht so scheinheilig fragen. Sie entschloss sich, es mit einer teilweisen Wahrheit zu versuchen und genau darauf zu achten, dass sie die Fragen so kurz wie möglich beantwortete.

„Ja, wissen Sie, bei uns rufen täglich eine Menge Leute an und wollen alles Mögliche wissen oder uns melden oder sich beschweren. Haha, ja meistens beschweren sich die Leute über irgendetwas, was wir sowieso nicht ändern können“, hörte sich Sabrina schwatzen und merkte, wie ihr Blut wieder in den Kopf zurückkehrte. Offensichtlich im Eiltempo und alle acht Liter auf einmal, denn sie meinte, ihr müsse jeden Moment der Schädel zerspringen. Sie schielte zu Enrico hinüber, aber der war eingetaucht in die virtuelle Welt des Internets und kümmerte er sich nicht um ihr Gespräch.

„Kurz und gut“, sagte Sabrina mit trockenem Mund, „ich kann mich an keinen speziellen Anrufer erinnern.“

„Er könnte Ihnen eventuell eine Mitteilung über eine Art Axt gemacht haben“, half der Polizist am Telefon mit freundlicher Stimme weiter.

„Ein seltenes Stück vielleicht, das er Ihnen zeigen wollte?“, fragte er nach.

‚Oh Gott‘, dachte Sabrina mit einem Anflug von Panik, ‚Die wissen alles. Ich komme ins Gefängnis für eine Tat, die ich gar nicht begangen habe. Die verurteilen mich wegen Mord und Raub und Raubmord.‘

Eine andere Stimme kämpfte sich aus ihrem Unterbewusstsein nach oben und rief: ‚Bleib ganz ruhig, Schätzchen, die wissen gar nichts und du hast nichts getan. Also hast du auch nichts zubefürchten. Wimmle den Bullen jetzt freundlich ab und die Sache ist ausgestanden. Er hat doch selbst gesagt, es wäre nur Routine. Also los!‘ Sabrina straffte sich und packte den Hörer fest in ihrer schweißnassen Hand.

„Jetzt, wo Sie es sagen, fällt mir ein, da war tatsächlich ein Anruf“, sprach sie mit gefasster Stimme. „Ein Mann, der sich Hauser oder Häuser oder so ähnlich nannte, rief mich an und fragte, ob sich jemand bei uns gemeldet hätte, der eine alte Kampfaxt oder so etwas gefunden hat. Ihm sei eine gestohlen worden. Natürlich hatte niemand bei uns so einen Fund gemeldet und ich sagte ihm das auch. Solche Spinner haben wir immer wieder an der Strippe. Andere fragen uns dauernd, wann denn das regionale Fernsehen wieder sendet. Dabei ist das doch schon vor Jahren Pleite gegangen.“

Sabrina staunte über die Dreistigkeit, mit der ihr die Lügen über die Lippen kamen.

„Dann hat er wieder aufgelegt und nichts weiter gesagt“, sagte Sabrina und überlegte, ob sie die Vermutung laut äußern sollte, dass er sich wahrscheinlich anschließend aus Verzweiflung das Leben genommen hatte und von der Klippe gesprungen war. Sie entschied sich im letzten Moment dagegen.

„Häuser, sagten Sie?“, übernahm der Polizist wieder die Dialogführung.

„Ja, oder Häusler oder Hauser, irgendetwas in der Art“, antwortete Sabrina schnell.

„Vielen Dank, Frau Donath, Sie haben uns sehr geholfen.“

„Nichts zu danken, auf Wiederhören.“

Sabrina legte den Hörer hin und pustete laut die angestaute Luft aus. Ihr war unendlich heiß und ihre Kehle fühlte sich wie ein Reibeisen an. Die Tür flog auf und Henriette Wildt kam hereingestürzt.

„Puh, das war anstrengend!“, rief sie aufgeräumt in den Raum und nahm sich die Tasche mit dem Aufnahmegerät von der Schulter.

„Sag mal Enrico, von diesem Meier-Püttenhausen haben wir doch noch Fotos im Archiv?“

„Und wenn nicht?“, fragte Enrico zurück.

„Dann müsste ich dich bitten, den eitlen Fatzke in seinem Museum aufzusuchen, um uns ein wunderschönes Foto zu dem Interview zu schießen, das ich gerade geführt habe“, säuselte Henriette in freudiger Erwartung auf Enricos Reaktion.

„Nur das nicht!“, stöhnte der Fotograf. „Und wenn ich ein Bild von ihm malen müsste, aber kein Shooting mit diesem Oberlehrertyp.“

„Ich wusste, du kannst mir helfen“, lachte Henriette und machte sich daran, ihren Rekorder auszupacken.

„Dann können wir ja schon in der Wochenendausgabe die weisen Sprüche unseres Museumsdirektors bewundern und haben sogar ein Bild von ihm vor Augen. Der Chef hat mich zu drei Spalten á 120 mm verdonnert. Wir können das Foto also schön groß machen“, grinste sie.

„Sabrina-Schätzchen, du siehst blass aus“, flötete Henriette gut gelaunt weiter. „Was machen deine Ermittlungen wegen der Hammerdiebin?“

Sabrina wurde schlecht. Sie schätzte ihre Chancen ab, die nächste Toilette zu ersprinten oder sich gleich hier auf den Tisch übergeben zu müssen. Wenig später hatte ihr Reinlichkeitssinn gesiegt und sie kniete vor der Kloschüssel, um einen Chicken-Döner mit Kräutersaucen-Dressing erleichtert. Die ganze Aufregung der letzten beiden Tage war etwas zu viel für ihr zartes Gemüt. Und für ihren Magen.


Alles lief wie geschmiert. Friedhelm Fürchtegott war froh darüber, dass er einer Eingebung folgend am Mittag nach Nordhausen gekommen war. Er kaufte sich den Kreisanzeiger im Bahnhofskiosk und Bingo, gleich auf der zweiten Seite der Lokalausgabe war ein Interview mit dem Museumsdirektor Meier-Püttenhausen, dem er erst kürzlich eine Hochwasserversicherung für sein Haus in Walkenried verkauft hatte. Dabei hatten sie auch über das Museum gesprochen und Meier-Püttenhausen hatte ihm in Aussicht gestellt, demnächst eine Einbruchsversicherung für die Immobilie bei ihm abschließen zu wollen.

 

Im Interview erwähnte der überkandidelte Einfaltspinsel Beispiele seiner ständigen Bemühungen die Exposition zu erweitern. Unter anderem war von einer Streitaxt die Rede, die er erst dieser Tage erworben hätte und ab kommender Woche in der frühgeschichtlichen Abteilung zeigen wollte.

‚Daraus wird nichts‘, dachte Friedhelm sofort und hätte fast laut losgeschrien vor Freude. Dieser Holzkopf stieß ihn ja geradezu mit der Nase auf Thors Hammer. Es wunderte Friedhelm nicht, dass der verrückte Museums-Doktor keine Ahnung hatte, was er da für einen Schatz gehoben hatte. Dennoch erschien es ihm voller Wunder, wie zielgerichtet das Schicksal ihn zu Thors Hammer führte. Oder waren es gar die Götter selbst, die ihm halfen? War er der Auserwählte, dem es beschieden sein sollte, hienieden die göttliche Macht zu verwalten und das Instrumentarium des großen Donnerers zu erlernen?

Zwei kurze Anrufe und drei Stunden später saß Gruppenführer Friedhelm Fürchtegott mit zwei seiner Gesinnungsgenossen, die sich in der Vergangenheit schon häufig als fähige Einbrecher erwiesen hatten, im Freisitz eines Cafés in der Nordhäuser Altstadt und wartete auf die Nacht. Das Schwierigste war die beiden Skinheads davon abzuhalten sich schon am helllichten Nachmittag hemmungslos alkoholischen Betäubungsmitteln hinzugeben. Doch daran sollte es nicht scheitern, frohlockte Fürchtegott und grinste über das ganze pockennarbige Gesicht, als er der Bedienung winkte, bei der er drei weitere Tassen Kaffee bestellen wollte.


Freya war frustriert. Und sie schämte sich. Sie hatte sich aufgeführt wie eine pubertäre Walküre in der Grundausbildung und nicht wie eine der angesehensten und beliebtesten Göttinnen Asgards. Eine so große Faszination hatte sie dem Theater nach den Erzählungen ihrer Haarschneiderin gar nicht zugetraut. Umso erstaunter war sie gewesen, dass sie trotz ihrer anfänglich freudigen Erwartung auf das Geschehen so zügig eingeschlafen war. Was sie eigentlich in der Aufführung wieder geweckt hatte, wusste sie nicht mehr. Aber dass die Situation so eskalieren würde, war nicht zu erwarten gewesen. Sie hatte völlig die Kontrolle über die Dinge verloren, als die beiden Witzfiguren auf der Theaterbühne ihren obersten Gott Odin und ihre Schwester Fricka so frevlerisch beleidigten. Der Hammer hatte sich natürlich als eine plumpe Fälschung herausgestellt. Sie hatte ihn im Stadtpark, wo sie wieder zum Stehen und zu Verstand gekommen war, in ein Tiergehege geschleudert, den verdutzt wiederkäuenden Rehbock jedoch um einige Meter verfehlt. Das Ding war auch viel zu leicht gewesen. ‚So eine Blamage‘, dachte sie. Wenn sich diese Aktion in Walhalla herumsprach, wäre sie die nächsten tausend Jahre das Gespött aller Götter, versammelter Könige und Helden. Natürlich zusammen mit Thor, der sich schon wieder seinen Hammer hatte stehlen lassen.

Und überhaupt war Thor schuld! Wenn sein Hammer noch da wäre, dann bräuchte sie nicht hier in diesem halbseidenen Wirtshaus sitzen und sich mit diesem schmierigen Menschen treffen, der sie beim Garderobe kaufen am Vormittag in der Stadt so laut und auffällig angepöbelt hatte. Freya seufzte tief. Angeblich hätte er wichtige Informationen für sie und könnte ihr interessante Dinge mitbringen, wenn sie sich nur mit ihm treffen wollte. Freya wollte absolut nicht. Aber der Kerl ließ sich nicht abwimmeln. Andernfalls müsse er die Polizei rufen, weil sie ja als Diebin gesucht würde. Es war zum Verzweifeln, dachte Freya. Wenigstens klappte die Tarnung bestens und die blonde Frau, die sie im Theater noch gewesen war, gab es nicht mehr. Wieder hatte ihr die freundliche Haarschneiderin geholfen. Sie hatte mit einem Zaubermittel Freyas Haarfarbe vom hellen Gelb in seidig schimmerndes Ziegelrot verwandelt. Nun trug sie auch Beinkleider wie so viele Frauen und Mädchen hier. ‚Dschiens‘ nannten die Menschen diese Anziehsachen, die es in verschiedenen Farbschattierungen gab. Freya hatte bei der Auswahl sorgsam darauf geachtet, dass ihre vorteilhafte Figur gut zur Geltung käme. Ausführlich hatte sie sich in mehreren dieser ‚Dschiens‘ vor dem Spiegel in der winzigen Ankleidekammer gedreht und sich den Hals verrenkt, um den Sitz der Hose auf den Pobacken einzuschätzen. Sie hatte sich schließlich für eine knallenge ‚stont woschd‘ Hose entschieden und ein unauffällig blaues, bequemes und weites Sweatshirt dazu ausgewählt. Es war mit einem relativ kleinen, auf Brusthöhe befindlichen Schriftzug versehen, dessen vier Buchstaben das Wort Nike bildeten. Die junge Verkäuferin konnte Freya auf ihre Nachfrage hin nicht erklären, was das für eine tiefere Bedeutung hatte. „Nur so, das ist eben die Marke“, hatte das junge Mädchen nicht sehr ausführlich geantwortet und Freya begriff, dass weitere Erkundigungen bei dieser Person sinnlos waren. An den Füßen trug die Göttin weiße Stoffturnschuhe. Mit denen konnte sie wesentlich besser laufen, als mit den hammerförmigen Schuhen, auf denen sie im Theater herumbalanciert war und die sie letztendlich als Wurfgeschosse zweckentfremdet hatte. Ihre knallroten Haare hatte sie mit einem schwarzen Band im Nacken zusammengefasst und von ihrer Haarschneiderin hatte sie eine sogenannte Sonnenbrille bekommen, die ihre Augen verdeckte. Das war eine gute Erfindung, sagte sich Freya, denn sie konnte die Menschen ungestört beobachten, während die nicht wussten, wo sie gerade hinschaute. Und absolut unauffällig kam sich die Göttin auch vor. So schlicht wie sie nun aussah. Merkwürdigerweise stierten sie die Männer immer noch an, aber das war ihr ja auch nicht wirklich unangenehm. ‚Als Göttin ist man ja schließlich auch eine Frau’, dachte sie geschmeichelt von der Beachtung, die sie von der Männerwelt erfuhr und wünschte sich, dass es in Asgard ähnlich wäre. Der Nachteil der Sonnbrille war lediglich, dass sie die ganze Welt wesentlich verfinsterte und Freya schon sehr genau hinschauen musste, wenn sie etwas erkennen wollte.

Vor ihr auf dem Tisch im Brettel-Fritz stand ein Glas mit einer Flüssigkeit, die ein bisschen wie Met aussah, aber Mehr-Mut hieß und süß schmeckte. Das hatte ihr der Wirt empfohlen, nachdem sie den Geschmack von Met ausführlich beschrieben hatte.

Die verabredete Zeit des Treffens war bereits überschritten und der schreckliche Mensch mit der unangenehmen Stimme hatte sich bisher nicht blicken lassen. Freya bestellte gerade noch einen Mehr-Mut, als Horst Kindler den Brettel-Fritz betrat und sich suchend nach ihr umschaute. Fast hätte er sie nicht erkannt mit den roten Haaren und der Sonnenbrille. Aber wer, außer einer so durchgeknallten Ortsfremden, die ein ganzes Theater aufmischt und dann nicht mehr auf dem Film zu sehen ist, trug schon eine Sonnenbrille in dieser verräucherten Lasterhöhle?

„’n Abend“, eröffnete Kindler und nahm ihr gegenüber Platz. Freya blickte suchend über den Tisch und schob sich die Sonnenbrille nach oben auf die Stirn. Es wurde um einiges heller im Raum, wodurch die Einrichtung aber nicht gewann.

Kindler wäre fast gar nicht zu diesem Treffen hier gegangen. Diese aufreizende Blondine war auch als Rothaarige noch umwerfend und verunsicherte ihn stark. Andererseits spürte er, dass er hier einer ganz großen Sache auf der Spur war. Seitdem er die Frau am Vormittag zufällig im Einkaufscenter gesehen hatte, überlegte er angestrengt, wie er am besten vorgehen sollte. In der kurzen Zeit von nur acht Stunden war ihm leider nichts Gescheites eingefallen. Eine feine rhetorische Klinge zu schlagen war nicht Kindlers Stärke. Das wussten alle, die ihn kannten, nur er selbst sah das etwas anders. Er bestellte Bier. Bier beruhigte, glaubte er. Dann plauderte er über das schöne Frühlingswetter und dass es schon recht warm sei für die Jahreszeit und als sein erstes Bier vor ihm abgestellt wurde, stürzte er es in einem Zug herunter.

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