Götterhämmerung & Walkürentritt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die beiden Gesangssolisten hatten schon eine längere Bühnenlaufbahn in der Provinz hinter sich, in deren Verlauf sie einigen unbegreiflichen Situationen ausgesetzt waren, allerdings konnten sie sich an keinen vergleichbaren Vorfall in ihrer Karriere erinnern. Völlig verunsichert wussten sie nicht, ob die Dame im schwarzen Minikleid eine wirkliche Konversation führen wollte oder die Frage rein rhetorischer Natur war. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war eine schmetternde Breitseite mit der Handtasche der aufgeregten Besucherin, die den verdutzten Wotan voll auf die Nase traf. Letztere rettete sich vor weiteren Angriffen durch sofortiges, heftiges Bluten. Und wirklich schien das, aus dem Riecher des Sängers schießende Blut, Freyas Angriffslust abrupt zu bremsen.

„Und du willst meine Schwester Fricka sein?“, höhnte sie bedrohlich laut schnaubend. Die Fricka-Darstellerin war vor Entsetzen erstarrt und wimmerte leise vor sich hin: „Tun Sie mir nichts, um Gottes willen, tun Sie mir nichts.“

„Und um wessen Willen?“, wollte Freya wissen. Die Fricka-Frau glotzte sie verständnislos an. Mit weit geöffnetem Mund hörte sie aus der Gasse den verzweifelten Inspizienten kreischen: „Vorhang, Technik, Vorhang!“

Freya wurde sich langsam ihrer Situation bewusst und es tröpfelte die Erkenntnis in ihren Verstand, dass sie gerade einen großen Fehler beging. Sie schaute sich verwirrt auf der Bühne um. Was hatte sie geritten und wie kam sie hierher? Da erblickte sie plötzlich am Kostüm Wotans ein Detail, das ihr bisher nicht ins Auge gefallen war. Sie fürchtete ernsthaft um ihren Verstand. Dort hing im Gürtel des schmerbäuchigen Götterdarstellers nichts anderes als Mjöllnir. Es war nicht zu fassen, Thors furcht- und segenspendender Hammer baumelte von dieser Witzfigur herab, die sich immer noch laut jammernd die Nase hielt. Freya schrie schrill auf: „Wie kommst du zu Thors Hammer, du ekle Missgeburt?“

Sie schickte sich an, das blutverschmierte Gesicht des Sängers mit Kratzspuren ihrer frisch manikürten Fingernägel zu versehen. Seine Kollegin knickte theatralisch in die Knie und ließ sich sachte in eine rettende Ohnmacht gleiten.

Freya zerrte den Hammer aus dem Gürtel.

Der Vorhang fiel.

Sabrina staunte.

Lehmann rieb sich die Wange.

Horst Kindler filmte.

Enrico drückte auf den Auslöser.

Der Dirigent träumte von der Mailänder Scala.

Die japanische Geigerin verwünschte Europa.

Der Inspizient plumpste auf seinen Stuhl.

Das Publikum klatschte.

Erst verhalten, dann immer stürmischer.

Hammers Suche

Nordhausen (dpa) Eine scheinbar geistig verwirrte Theaterbesucherin sorgte im Stadttheater der Harzgemeinde Nordhausen für einen handfesten Skandal. Sie stürmte während einer Opernaufführung auf die Bühne und schlug auf mehrere Darsteller ein, denen sie unterstellte, den sagenhaften Hammer Mjöllnir des germanischen Gottes Thor gestohlen zu haben. Der entstandene Sachschaden beträgt nach ersten Angaben der Theaterleitung mehrere tausend Euro. Durch das brutale Vorgehen der Randaliererin im Orchestergraben gingen eine ganze Reihe teurer Instrumente zu Bruch. Die Frau konnte mit dem wertlosen Theaterrequisit unerkannt entkommen.


abrina war verärgert über die Nachricht, die schon am nächsten Morgen auf der überregionalen Klatsch- und Tratschseite ihrer Zeitung unter ‚mixed pickles‘ stand. Der Stil war ihr zu reißerisch und die ganze Nachricht so endgültig und rechthaberisch abgefasst. Wieso eine ganze Reihe teurer Instrumente? Da war doch lediglich die Geige der kleinen Japanerin, oder? Und es klang arrogant. ‚Harzgemeinde‘ für eine Kreisstadt mit fast fünfzigtausend Einwohnern war frech. Und überhaupt: Diese Geschichte hatte sie bringen wollen, verflixt noch mal!

„Da war einer sehr schnell, was Schätzchen?“, lachte Henriette, die Sabrina beim Lesen beobachtet hatte und ihre Gedanken erriet.

„Wie konnte das schon in die heutige Ausgabe kommen?“, wunderte sich Sabrina.

„Ich schätze, da war gestern abend jemand in der Vorstellung, der einen extrem guten Draht zur Nachrichtenagentur hat. Pech für dich, das hätte deine Supermeldung sein können. Aber du weißt ja, der Markt ist hart umkämpft, die Leser wollen Sensationen. Und ob es stimmt spielt eine untergeordnete Rolle. Es will auch keiner mehr lesen, wenn es sich schließlich als Falschmeldung entpuppt.“

Sabrina brummte nur etwas Unverständliches von wegen, dass es ja leider keine Ente wäre.

„Ach Schätzchen, nun sei nicht traurig, du kannst doch noch etwas richtig Großes daraus machen. Finde die Frau und frage sie, was das sollte, dann bist du voll im Geschäft. Oder du knöpfst dir ihren Begleiter vor, der gestern Abend so herumlamentiert hat“, tröstete Henriette ihre junge Kollegin.

„Das gibt es doch nicht“, polterte Enrico hinter seinem Rechner. „Ich glaube, ich werde verrückt.“

„Zu dieser letzten Bemerkung möchte ich keinen Kommentar abgeben“, frotzelte Henriette.

„Spar dir bitte deine Sprüche“, rief Enrico aggressiv. „Sie ist weg.“

„Wer oder was ist weg?“, mischte sich Sabrina ein.

„Die Frau von gestern abend aus dem Theater“, brüllte Enrico verzweifelt.

„Das wissen wir auch, du Bunte-Bilder-Knipser“, schnappte Sabrina wütend zurück.

„Sie ist vom Foto verschwunden“, heulte Enrico auf, ohne auf die verbale Attacke einzugehen, die für einen Fotografen als schlimmste Beleidigung gilt.

„Sie ist auf keinem Einzigen der Fotos zu sehen, die ich gestern im Theater geschossen habe“, jammerte er.

„Das zeugt nicht von deiner Professionalität, mein Lieber.“ Sabrina war stocksauer. Auch das noch. Jetzt konnte sie ihre Exklusivgeschichte nicht mal bebildern. Es war wirklich zum Heulen.

„Du verstehst nicht, was ich meine“, sagte Enrico. „Sie müsste hier drauf sein, die anderen beteiligten Leute aus dem Theater sind ja alle drauf. Ich habe sie immer im Bildmittelpunkt gehabt, das könnt ihr ruhig glauben. Und nun ist sie einfach verschwunden.“

„Das klingt ja wie in einem schlechten Horrorfilm“, schaltete sich Henriette wieder ein.

„Komm her“, forderte Enrico Sabrina auf. „Schau dir die Abzüge an, dann kapierst du, was ich meine. Als wäre sie gar nicht da gewesen.“

Sabrina und Henriette flitzten um den Tisch.

„Ich glaub es nicht“, hauchte Sabrina, während sie die einzelnen Fotos durchklickte. „Sie ist tatsächlich nicht zu sehen. Aber wie kann das sein?“

„Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler“, sagte Enrico.

„Oder auch nicht!“, ergänzte Henriette in einem unheimlichen Tonfall.


Knapp achtzig Kilometer von Nordhausen entfernt las ein drahtiger, sportlich wirkender Mann mit einem gepflegten Kurzhaarschnitt und einem von Pockennarben übersätem Gesicht beim Frühstück seine Zeitung und vergaß plötzlich das Kauen. Nach einer kurzen Weile angestrengten Nachdenkens schien er sich wieder gefasst zu haben und lächelte schief. Bedächtig ging der Mann zum Telefon, wählte eine Nummer und sagte: „Ich bin’s. Komm bitte sofort rüber. Es geht los.“ Dann legte er wieder auf und schritt zurück zu seinem Frühstückstisch.

In einer schmucken, kleinen Villa in Berlin-Willmersdorf stand der junge und dynamische CIA-Mitarbeiter David Cordner in seinem seidenen Morgenmantel mit dem „Tagesspiegel“ in der Hand an der Eingangstür und deutete auf eine kleine Notiz, die auf der Magazinseite stand. Sein treuer, seit Jahren vertrauter Mitarbeiter William Banfield überflog die Nachricht und erblasste.

„Ich werde sofort in Langley anrufen“, sagte er in fast akzentfreiem Deutsch. „Operation Donnerschlag läuft unverzüglich an.“ Cordner nickte knapp und schloss die Tür wieder.

In Tel Aviv stutze Josip Ben Goldman in seinem Mossad-Büro beim flüchtigen Blick auf sein Notebook. Wie jeden Morgen kontrollierte er die Online-Ausgaben deutscher Tageszeitungen auf verwertbare Hinweise oder verschlüsselte Botschaften palästinensischer Extremisten. Eine dpa-Meldung in der FAZ ließ ihn innehalten. Ben markierte sich den Ausschnitt, den er vergrößern wollte. „Thors Hammer“, murmelte er überrascht. „Sieh an, sieh an.“

Er druckte die Nachricht aus.

In London ließ sich ein distinguierter Gentleman in einem kleinen Zimmer einer unscheinbaren Wohnung in einem völlig unauffälligen Haus nahe des Towers eine Verbindung mit Deutschland herstellen.

„Was heißt, es geht niemand ran!“, schnauzte er die Telefonistin an. „Dann probieren Sie es weiter, bis er rangeht und stellen Sie ihn unverzüglich durch.“ Der Mann war ganz offensichtlich nicht amüsiert.


Horst Kindler setzte sich bequem zurecht. Selten hatte er so gelacht wie in der letzten Nacht. Dieses herrliche Chaos im Theater war wirklich einmalig gewesen und er hatte die Exklusivbilder. Nur noch schnell die entscheidenden Stellen ranspulen, dann kopieren und ab damit an RTL, SAT 1 und die BILD-Zeitung. Das war der Durchbruch, Kindler konnte es spüren. Er zitterte regelrecht vor Aufregung.

Diese Stelle war es noch nicht. Das Bild wackelte auch ein bisschen. Ach, kackegal. Noch eine Minute vorspulen und dann hätte er die perfekten Bilder. So, stopp, Wiedergabe; ab geht er, der Peter. Nee, das war nicht die richtige Stelle, da war dieses scharfe Weib ja gar nicht mit drauf. Musste es doch weiter vorn gewesen sein, dachte Horst und spulte erneut.

 

Zwei Stunden und eine Schachtel Zigaretten später dämmerte ihm die Gewissheit, dass er nicht ein einziges Bild mit der verrückten Frau gefilmt hatte. Aber wie war das möglich? Die anderen Heinis waren doch auch im Bild und reagierten auf ihre Aktionen. Er hatte den ganzen unglaublichen Auftritt gewissenhaft mitgedreht, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Er war doch nicht total verblödet.

Oder?

‚Tolle Wurscht!’, dachte Kindler und machte sich eine neue Bierdose auf.


„Sollten Sie sich nicht kooperativ zeigen, so könnte es schon in kurzer Zeit möglich sein, dass Sie in den richtigen Umgang mit einer Schnabeltasse eingewiesen werden müssen“, sprach der vornehm gekleidete junge Mann langsam und deutlich. Er war Anfang dreißig, hatte einen gepflegten Kurzhaarschnitt und war ordentlich rasiert. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug in einem gedeckten Blauton und ein sichtbar teures Hemd mit moderner Krawatte. Lehmann wand sich unter dem Würgegriff, mit dem ihn der unbekannte Angreifer aus dem Hinterhalt gepackt hatte. Sein Peiniger versprühte einen sehr angenehmen Duft, der nach Lehmanns Einschätzung von einem Rasierwasser herrühren musste, für das er einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Arbeitslosengeldes hätte hinlegen müssen.

„Und Sie können mir glauben, dass es absolut nicht in unserem Interesse liegt, erfahren zu müssen, dass Sie Ihre Wohnung letztmalig mit den Füßen voran verlassen hätten“, formulierte der andere Eindringling etwas blumig und mit einem leichten englischen Akzent seine mörderischen Drohungen. Was Lehmann am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass der Hinterhalt in seinen eigenen vier Wänden stattgefunden hatte. Als er in seine Wohnung gekommen war, hatte nichts darauf hingedeutet, dass er nicht alleine war. Und auf einmal schleuderte ihn irgend so ein Brutalinski gegen die Wand und drehte ihm den Arm auf den Rücken in Richtung Schulterblatt. Im ersten Moment hatte er an einen Raubüberfall von Pennern oder Junkies gedacht, doch dann war dieser adrette, junge Mann in seinem Gesichtsfeld erschienen und hatte sich förmlich für das unerlaubte Eindringen und den Schreck, den sie ihm versetzt hatten, entschuldigt. Es ging um Frieda Lusan, über die seine Besucher alles wissen wollten, was auch er wusste. Wahrheitsgemäß hatte er ihnen von seinen beiden Begegnungen mit der Lusan erzählt. Unglauben und spöttischer Hohn war die Ernte, die er für seine offenherzige Ehrlichkeit einfuhr.

„Sagen Sie uns einfach alles, was Sie über diese Dame wissen und Sie sehen uns nie wieder.“ Der Herr überprüfte freundlich lächelnd den tadellosen Sitz seiner Krawatte.

„Andernfalls sehen Sie uns zwar auch nicht wieder –“, David Cordner legte eine kleine Pause in seiner im harmlosesten Plauderton geführten Konversation ein, „– aber wir sind dann nicht die einzigen, die Sie nie mehr sehen werden, falls Sie verstehen, was ich meine.“

„Hmpf“, sagte der halb erstickte Lothar Lehmann, was dem sportliche, n jungen Mann als Antwort vorläufig genügen musste.

„Wann haben Sie die Frau zuerst gesehen? Wo war das? Was hat sie gesagt?“

Lothar hatte auch einige Fragen an die Frau, die er gern losgeworden wäre, doch er befürchtete, dass seine Neugier den beiden Besuchern relativ egal war.

„Sehe ich so aus, als könnte eine superhübsche Blondine mit einer Figur wie die Schiffer ernsthaft an mir interessiert sein?“, trat Lehmann ächzend die Flucht nach vorn an.

„Welchen Grund sollte ich haben, Ihnen etwas zu verheimlichen?“

„Oh, da fiele mir eine ganze Menge ein“, sagte sein freundlicher Foltermeister und faltete seine sauber manikürten Hände zusammen. „Und Sie dürfen mir ruhig glauben, Herr Lehmann, mir fällt auch eine ganze Menge ein, um Ihrem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen. Wir wollen aber nichts überstürzen. Deshalb verlassen wir Sie jetzt“, fügte Cordner süffisant hinzu. Lehmann atmete innerlich auf und begann seine verkrampften Muskeln langsam zu entspannen. Er konnte sein Glück kaum fassen.

„Allerdings muss ich Sie eindringlich davor warnen, dritten Personen von unserer kleinen Zusammenkunft heute Bericht zu erstatten. Andernfalls können Sie mit Sicherheit davon ausgehen, dass über die Hälfte Ihres Jahresloses bei der Fernsehlotterie verfällt. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“, wollte der junge Mann lächelnd wissen.

„Ja“, krächzte Lothar Lehmann und flog mit dem Kopf voran auf seinen Kleiderschrank aus massiver Kiefer zu. Das war für den Moment die letzte Erinnerung, die er hatte.

Er erwachte mit dem Gefühl kalt abgeduscht worden zu sein und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er klitschnass war und gefesselt in einer Pfütze an seinem Kleiderschrank lehnte. Vor ihm standen zwei Männer, die sich von seinen vorherigen Besuchern grundlegender kaum unterscheiden konnten. Vier Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln in denen zwei Drillichhosen in Tarnfarben steckten, darüber kamen zwei schwarze Bomberjacken, aus deren oberen Enden zwei stämmige Hälse ragten, die jeweils mit einer dunklen Wollmaske bedeckte Köpfe trugen. Selbstverständlich kahle Köpfe, durchfuhr es Lehmann, der sich fatalistisch in sein Schicksal fügte, auch weil seine Widerstandskräfte stark nachließen. Nicht einmal die gigantischen Baseballschläger, die ihm drohend entgegengereckt wurden, konnten größere Schrecken bei ihm auslösen. Sein Schädel brummte wie ein alter Dieselgenerator und er wollte nur noch schlafen. Dagegen sprach sich ein dritter Neonazi aus, der hinter seinem Rücken stand und ihm jetzt einen Tritt in die Seite versetzte.

„So, Lehmann, genug gepennt!“, knarrte eine unangenehme Stimme im Befehlston. „Nun pack mal aus, wo ihr den Hammer versteckt habt.“

‚Oh Gott‘, dachte Lehmann. ‚Was sind denn das für Spinner?‘ Er schwieg.

„Ich will wissen, wo du mit deiner Gespielin den Hammer versteckt hast!“, bellte die Stimme gebieterisch.

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen“, antwortete Lothar Lehmann, „empfehle Ihnen aber dringend, sich mit meinen letzten Besuchern kurzzuschließen. Vielleicht seid ihr ja erfolgreicher, wenn ihr gemeinsam sucht“, schlug er vor.

„Werde nicht unverschämt, du miese, kleine Ratte, sonst zermatschen dir meine beiden Kameraden deine hohle Birne!“, drohte die Knarzstimme. Lehmann glaubte, eine gewisse Unsicherheit in der Stimme seines Peinigers erkannt zu haben und hakte schnell nach: „Der Hammer hat absolut nichts Mystisches und ist ein Theaterrequisit, das eigens für diese Inszenierung angefertigt wurde. Da könnt ihr den Requisiteur selbst fragen. Das hat die Polizei heute Nacht schon gemacht. Warum die durchgeknallte Frau ihn mitgenommen hat, ist allen ein Rätsel. Vielleicht wollte sie sich nur den Weg freihämmern, bei ihrem Amoklauf gegen die Kunst“, mutmaßte Lehmann. „Oder sie ist eine Fetischistin und sammelt ausgefallene Souvenirs. Oder sie hat nicht mehr alle Latten am Zaun, was weiß ich.“ Die Angreifer schwiegen und Lehmann plapperte weiter. „Glaubt ihr eigentlich, ich springe oft mit dem Kopf gegen meinen Schrank?“, fragte er. „Da waren gerade schon zwei Kerle hier, die mir die gleichen Fragen gestellt haben. Allerdings etwas höflicher, das muss ich schon sagen.“

Ein brennender Schmerz durchzuckte seine linke Schulter, auf die soeben ein Baseballschläger herabgesaust war. Lothar Lehmann schrie laut auf. Das war ja ein Albtraum aller erster Güte. Erst traktierten ihn diese beiden vornehmen Sadisten und erwürgten ihn fast und nun wollte ihm ein Sturmkommando aus der rechten Szene offenbar alle Knochen zerschmettern. Das reizende Fräulein Frieda hatte eine ganze Masse Verdruss über ihn gebracht. Sein Entschluss stand fest: Er würde kooperieren und bei der Suche nach ihr helfen. Das sagte er dann auch den vier Springerstiefeln in seinem Gesichtsfeld.

Unter dem Sofa leckte sich eine kleine Promenadenmischung intensiv die Pfote und dachte gar nichts, als sie die folgenden Worte eines der Fremden vernahm: „Mich interessiert nur eines: Der Hammer Thors. Und zwar der richtige. Wer immer ihn in seine Gewalt bringt, der ist in der Lage, unendliche Macht auszuüben. Man muss nur wissen wie. Also noch einmal: Wo ist der Hammer?“


„Da ist das Hackebeilchen“, sagte Sabrina gutgelaunt und wuchtete das schwere Teil auf den Schreibtisch im Büro des Museumsdirektors. Hier sah es aus, als hätte in den letzten Wochen eine Ausgrabung in den Schreibtischschubladen stattgefunden oder ein Überfallkommando der Drogenmafia habe nach verräterischen Tütchen gesucht. An der Wand hing reichlich schief ein gerahmtes Foto, welches einen sehr hageren Mann mit Tropenhelm und im unvermeidlichen khakifarbenen Safarianzug gemeinsam mit einigen Ägyptern vor der Gizeh-Pyramide zeigte. Der dünne Mann hatte eine große Schaufel in der Hand. Die Fotografie sollte wohl den Anschein erwecken, er habe diesen riesigen Steinhaufen eben erst eigenhändig ausgegraben. Der Weiße lächelte verklärt in die Kamera. Die Ägypter lächelten nicht.

Dr. Markus Meier-Püttenhausen, ein blasser, schmächtiger Mann mit schütterem Haar und um die 50 Jahre alt, zog die Augenbrauen hoch. Er holte sein Lorgnon aus der Westentasche und setzte es sich umständlich auf den Nasenrücken. ‚Das Hackebeilchen‘, dachte er verzweifelt. ‚Sollte das jetzt ein Witz von diesem aufgeblasenen, jungen Ding sein? Die Leute hier sind so laut und ordinär‘, sinnierte er weiter und verzog die Mundwinkel. Er hatte es, nach den vielen Jahren der Entbehrung, endlich verdientermaßen zum Museumsdirektor gebracht. Das war schon ein sehr erfreulicher Umstand. Aber musste das Schicksal ihn hierher verschlagen, in dieses ostdeutsche Provinzkaff? Er wurde den Verdacht nicht los, dass diese Ossis sich heimlich ihren Honecker und seine Verbrecherbande zurückwünschten. Keine Dankbarkeit war zu spüren, nur immer der Geist der Unzufriedenheit und der Rebellion. Und was hatten sie nicht alles für Segnungen empfangen! Und die Opfer, welche die deutsche Bevölkerung nach dem Anschluss erbracht hatte, um den Ostdeutschen aus ihrem, zu großen Teilen selbstverschuldeten, Chaos herauszuhelfen! Kein Wort des Dankes, nur diese ewigen Forderungen. Außerdem schienen sie alle unter einer Decke zu stecken. Das hatte Dr. Meier-Püttenhausen am ersten Tag seiner Anwesenheit gemerkt und es war in den letzten beiden Jahren nicht besser geworden. Die Meier-Püttenhausens hatten ein schönes Häuschen im reizenden Walkenried gefunden, einem durch sein historisches Klostergebäude sehr geschichtsträchtiges Örtchen gleich an der ehemaligen Grenze, aber bis heute hatte er seine Frau nicht zu einem Besuch der Ostzone überreden können. Sie stammte aus Kreisen der besseren Gesellschaft und lehnte es kategorisch ab, ihren Fuß in diesen heidnischen Landesteil mit seinen Millionen Kommunisten und PDS-Wählern zu setzen. Meier-Püttenhausen hatte einige Male versucht, sie wenigstens bei größeren gesellschaftlichen Anlässen ausnahmsweise von ihren Grundsätzen abzubringen, aber vergebens. Sie blieb konsequent. Seine Mitarbeiter wunderten sich darüber, dass er ständig von seiner Frau und ihrer blaublütigen Familie sprach, aber niemals eine Frau Meier-Püttenhausen auftauchte. In ihrer proletarisch direkten Art stellten sie dieses Unverständnis auch offen zur Schau. Für die meisten von ihnen wäre es allerdings geratener gewesen, sie hätten sich um sich selbst gekümmert und beispielsweise ihre beruflichen Abschlüsse zum Anlass genommen, sich Sorgen zu machen. Jeder konnte hier scheinbar alles werden, es war die reinste Anarchie. Er hatte in Hamburg und München zwanzig Jahre hart gearbeitet, mehrere ausgedehnte Studienreisen in ferne Länder unternommen, an weltberühmten Museen hospitiert und sich unzählige Male beworben, bis er ein eigenes Museum leiten durfte. Hier aber konnte jeder Krethi und Plethi alles Mögliche werden. So wie sich diese Person hier vor ihm Journalistin nannte, obwohl sie doch sicherlich gar nicht die Ausbildung dafür hatte und für diese unsägliche Gazette arbeitete, die hier dem Volk als einzige Informationsquelle genügen musste. Jetzt donnerte sie ihm dieses dreckige Fundstück auf seinen neoklassizistischen Schreibtisch und wollte eine Expertise von ihm. Als könne man zwischen Tür und Angel eine Expertise anfertigen. Frühzeitliche Streitäxte aus der Bronzezeit waren auch absolut nicht sein Fachgebiet. Er konnte ja schließlich nicht alles wissen. Meier-Püttenhausen fuhr mit den Fingern über den hölzernen Stiel.

 

„Es ist nicht so leicht zu bestimmen, welcher Epoche und welchem Volk wir diese Streitaxt zurechen müssen. Möglicherweise der frühen Bronzezeit. Da wäre es hilfreich, wir wüssten, wo sich der tatsächliche Fundort befindet. Möglicherweise stieße man bei exakter Untersuchung des uns ja wohl verborgenen Ortes“, er machte eine demonstrative Pause und sah Sabrina erwartungsvoll an, die sich in dem chaotischen Raum umsah und nicht auf die unausgesprochen Frage antworten wollte, „auf weitere Gegenstände, die uns ein genaueres Bild von dieser, nun ja, Axt, oder sollte ich sie besser als einen Hammer bezeichnen, verschaffen können“, fuhr der Doktor der Museologie enttäuscht fort. „In der frühen Bronzezeit waren solcherart Äxte weit verbreitet und wir können sie wohl ebenso den slawischen Stämmen, als beispielsweise auch den germanischen oder keltischen Volksgruppen zurechnen. Es kann aber auch eine erbärmliche Fälschung sein, meine Liebe“, belehrte er die Journalistin.

„Leider kommt es heute oft genug vor, dass sich geschickte Fälscher einen Spaß daraus machen, seriöse Wissenschaftler an der Nase herumzuführen. Wir müssen das Fundstück deshalb in ein Labor für eine gründlichen Untersuchung geben. Das Alter des Holzes sollte sich mit labortechnischen Methoden ebenso gut bestimmen lassen wie das des metallischen Kopfes der Axt. Ich schlage vor, Sie lassen das Stück hier und ich kümmere mich persönlich darum, Gnädigste.“ Sabrina bemerkte zum wiederholten Male, dass der Kerl wie ein übergeschnappter Professor aus dem 19. Jahrhundert wirkte. Sie filterte den tieferen Sinn aus seiner Rede und kam zu dem Schluss, dass er offenbar keine Ahnung hatte, worum es sich bei dem Fundobjekt handelte und Zeit gewinnen wollte. Sabrina war egal was mit der Axt geschah, sie war nur froh, sie endlich los zu werden und verabschiedete sich schnell von diesem realitätsfremden Intellektuellen, der so gestelzt daherreden konnte.

‚Adieu, kleines Fräulein‘, dachte Meier-Püttenhausen selbstgefällig. ‚Deine Axt werde ich meiner frühgeschichtlichen Sammlung hinzufügen, die ich hier habe. Oder meinst du wirklich, ich würde meinen mickrigen Etat mit Expertisen derart gewöhnlicher Objekte belasten?‘, schloss er seine Überlegungen zufrieden mit sich und der Welt ab.

Sabrina waren solche Gedanken völlig egal. Sie war froh, dass sie diese unheimliche Waffe losgeworden war. Draußen im Wagen erwartete sie schon Alfred, der sich überraschend als Chauffeur angeboten hatte und ihr irgendwas erzählen wollte. Was wichtiges. Das hatte er noch nie gemacht und Sabrina fragte sich, was das bedeuten könnte. Er würde sich doch nicht etwa in sie verguckt haben? Anzeichen dafür hatten ihre feinfühligen Sensoren bisher nicht empfangen, aber bei Männern wusste man nie so recht, was sie wirklich wollten. Seit mehr als zwei Jahren wohnte sie mit dem jungen Mann Tür an Tür in ihrer kleinen Mietwohnung in der Oberstadt. Alfred arbeitete als Techniker in einem Hausmeisterservice und war immer freundlich. Annäherungsversuche hatte er noch nie gestartet und Sabrina wusste auch gar nicht, wie sie darauf reagieren würde. ‚Vielleicht sollte ich ihn einfach mal fragen‘, dachte sie und Alfred sagte: „Du wirst dich sicherlich schon fragen, warum ich dich sprechen will und so herumdruckse.“

Sabrina fragte nicht.

„Es ist sehr verrückt und ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“

Pause.

„Ich denke, du glaubst mir kein Wort von dem, was ich dir erzählen will“, sagte Alfred.

„Fang doch erst mal an!“, ermunterte ihn Sabrina und schnallte sich an.

„Dieser Barbarossa“, fragte Alfred, „war doch ein deutscher Kaiser, oder nicht?“

Sabrina hasste es, wenn er sinnlose Füllworte an die eigentliche Frage anhängte. Als Journalistin tat es ihr geradezu weh, wenn sie sinnentleerte Wörter in Texten bemerkte. Sie litt in letzter Zeit leider immer öfter an diesen Schmerzen. Sie betrachtete Alfred aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, wer dieser Mensch da neben ihr war. „Sabrina?“, ließ sich Alfred wieder vernehmen. „Ich würde mich freuen, wenn du mir eine Antwort geben könntest. Das ist doch nicht zu viel verlangt, stimmt’s?“

Da war es schon wieder. Sabrina seufzte: „Entschuldige, ich war in Gedanken. Was wolltest du wissen?“, antwortete sie gereizt.

„Ob dieser Barbarossa ein deutscher Kaiser war oder nicht.“

„Ja.“

„Was ja, war er oder war er nicht?“

„War er“, sagte Sabrina.

Männer konnten so nervend sein, dass sie wirklich froh war, keinen Vertreter dieser Spezies tagtäglich um sich ertragen zu müssen. Wollte er nicht langsam losfahren?

„Sabrina, was ist denn mit dir los?“, schimpfte Alfred. „Hat Madam heute keine Muße mit einem einfachen Vertreter der arbeitnehmenden Bevölkerung zu sprechen?“

„Entschuldige“, sagte sie, „Das ist irgendwie nicht mein Tag heute. Also dieser Barbarossa hieß eigentlich Friedrich I. Die Italiener haben ihm den Namen wegen seines roten Bartes verpasst. Er war einer der ersten Hohenstaufferkönige, der zum deutschen Kaiser gewählt wurde und hier ganz in der Nähe, nämlich in Tilleda, unterhielt er eine Kaiserpfalz. Er war an den Kreuzzügen beteiligt und hat sein Leben damit verbracht, mal hier und mal da seine Macht zu sichern. Meist aber in Italien, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt. Als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation war er naturgemäß viel in Italien unterwegs. Er hatte mit mehreren Päpsten viel Ärger. Damals gab es Päpste und Gegenpäpste und die haben sich dann gegenseitig exkommuniziert. Muss im Mittelalter ganz schön chaotisch gewesen sein. Eine zweite Kaiserpfalz war übrigens in Goslar. Die kann man heute noch besichtigen. Ist ganz interessant, könntest du dir ruhig mal anschauen. Aber so genau weiß ich das mit dem Barbarossa auch nicht mehr. Ist alles schon ein paar Tage her, dass ich das lernen musste.“

„Machst du Scherze? Du weißt es nicht genau? Ich habe mir den Namen von dem Typen kaum merken können“, staunte Alfred.

„Am Ende ist er dann beim Baden in einem Fluss irgendwo in Arabien ertrunken, wenn ich mich recht erinnere“, redete Sabrina weiter. „Um Gottes Willen, woher weißt du das nur alles?“ Alfred starrte Sabrina ungläubig an.

„Es heißt, er würde in einem Felsen im Kyffhäuser so lange schlafen, bis das Heilige Römische Reich deutscher Nation wieder hergestellt wäre. Da kann er allerdings warten, bis er schwarz wird, glaube ich.“

Alfred schwieg und drehte den Zündschlüssel gedankenverloren in den Händen.

„Warum interessiert dich das eigentlich so plötzlich?“, wollte Sabrina wissen.

„Naja, es ist so“, stammelte Alfred. „Mich hat da vorgestern ein komischer Typ besucht und mir ein merkwürdiges Angebot gemacht.“

Sabrina blickte Alfred erwartungsvoll an. „Ja, und?“

„Naja“, sagte Alfred, „Er hat mir einen Job angeboten.“

„Das ist doch erst einmal nicht schlecht“, meinte Sabrina. „War es denn ein lukratives Angebot?“

„Teils, teils, würde ich sagen“, antwortete Alfred.

„Ach, nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“, riss Sabrina der Geduldsfaden. „Was hat er denn von dir gewollt?“

„Ich soll den Barbarossa machen“, hauchte Alfred.

„Was sollst du?“, fragte Sabrina nach.

„Den Barbarossa. Ich soll mich in eine Höhle legen und den Mythos vom schlafenden Kaiser aufrecht erhalten oder so ähnlich.“

Alfred schaute Sabrina an.

Sabrina schaute Alfred an und sagte tonlos: „Und was verdienst du dabei?“

„Kein Geld“, murmelte Alfred und verstummte.

„Sondern?“, wollte Sabrina jetzt endlich wissen.

„Ich würde unsterblich werden und könnte nach dreihundert Jahren wieder raus aus der Höhle und so lange leben, wie ich will“, sprach Alfred wie ein gescholtener Chorknabe, dem das hohe C für immer abhanden gekommen ist.

„Ich weiß ja, wie albern das klingt, aber der Typ war sehr überzeugend, das kann ich dir sagen. Er war groß und sah furchterregend aus. Einen langen, roten Bart und sehr lange, feuerrote Haare hatte er.“

Sabrina schwieg ihn verblüfft an.

„Und Handschuhe aus Eisen, wie sie die Ritter früher angehabt haben müssen“, fuhr Alfred fort. „Ich habe ihn ja auch ausgelacht, jedenfalls innerlich. Doch der Kerl kann Gedanken lesen und hat mir bewiesen, was er alles drauf hat. Er hat mein Meerschwein in eine Schlange verwandelt, in den Fernseher einen komischen Film gezaubert, der in keinem Programm kam, und lauter solche Sachen.“