Die alten Götter

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Allen Lesern gebieten wir Andacht, Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht; Wir wollen der alten Götter Wirken künden, Die neusten Sagen, der wir uns entsinnen.

– Frei nach Völuspá


1. Auflage April 2014

Copyright © 2014 by Edition Roter Drache für die Gesamtausgabe. Copyright © der einzelnen Geschichten liegen beim jeweiligen Autor.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407

Remda-Teichel

edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Buch & Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache

Titelbild: Voenix

Idee & Umsetzung: Holger Kliemannel

Gesamtherstellung: AALEXX Buchproduktion GmbH

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 9783944180441


Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Zitat

Impressum

Olaf Schulze

Am Brunnen

Luci van Org

Rex Dildo

Patricia Becker

Schicksal

Axel Hildebrand

Nichtraucher

Knut Mende

Die Schwüre meiner Vorfahren

Petra Bolte

Die Norne und der Pilz

Voenix

Loki und der Bauer Geiz

Sebastian Bartoschek

Bielefeld

Fritz Steinbock

Vollversammlung

Elfriede Lack

Hardmors Begegnung

Christopher McIntosh

Die Lektion

Weitere Werke

Olaf Schulze

1961 in Leipzig geboren. Dort aufgewachsen, zur Schule gegangen, Buchdrucker mit Abi gelernt.

Nach dem Armeedienst zum Theater (Verkleiden war er jetzt gewohnt). Externes Studium der Theaterwissenschaft, bis ‘93 Dramaturg, dann verschiedene Jobs in der Kultur: Zeitschriftenverleger, Redakteur, Booker, Künstleragent. Seit 2000 Senderleiter einer lokalen Radiostation, 2004 Erstveröffentlichung Götterhämmerung, 2006 Walkürentritt, Theaterstücke geschrieben und Übersetzungen, arbeitet momentan für mehrere Zeitungen, lebt in Nordhausen in Sichtweite des Kyffhäusers – schöne Aussichten.


Am Brunnen


ie Fahrbahn begann holpriger zu werden. Der Regen wurde heftiger und von Westen zogen bedrohliche Wolkenberge heran, die sich im Dämmerlicht wie eine wilde Reiterschar unaufhörlich näherten. Plötzlich krachte es ohrenbetäubend und ein gewaltiger Blitz erhellte die Umgebung der baufälligen Straße für einen Sekundenbruchteil taghell. Am linken Wegesrand konnte Sabrina eine Hütte erkennen, daneben einen gemauerter Ziehbrunnen. Über dem Brunnen befand sich ein mächtiges Rundholz. Schemenhaft wurden drei Gestalten sichtbar, die dort im Unwetter saßen. Sie kniff die Augen zusammen, um mehr zu erkennen, doch das Unwetter hatte sie endgültig eingeholt: Um sie herum war es stockdunkel.

Der Motor des Leihwagens erstarb stotternd. Das Navigationsgerät pfiff auf und der Monitor erlosch. Christoph, der neben Sabrina saß, fluchte. Die Scheibenwischer, die eben noch in der schnellsten Stufe über die klitschnasse Frontscheibe gejagt waren, blieben mitten auf der Scheibe stehen.

„Wo sind wir hier?“, fragte Sabrina ihren Ehemann, der sich vergeblich bemühte, den Wagen neu zu starten.

„Keine Ahnung“, gab Christoph zurück. „Irgendwo in der Pampa. Habe wohl an der letzten Kreuzung den falschen Abzweig erwischt.“

Sabrina deutete auf die schäbige Hütte. „Wir müssen Hilfe holen“, sagte sie pragmatisch und bemerkte, wie eine leichte Panik sich ihrer bemächtigte. „Lass uns da drüben mal fragen, wo wir hier sind.“

Christoph blickte aus seinem Seitenfenster, wo die drei Gestalten immer noch im Regen saßen. „Keine schlechte Idee“, entschied er.

„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich hier alleine bleibe?“, protestierte Sabrina.

„Gut, dann werden wir eben beide nass“, entgegnete Christoph und öffnete seine Tür. Riesige Tropfen prasselten auf den Boden, als das junge Paar auf die Hütte zulief. Solch einen Sturm hatten sie noch nie erlebt und an manchen Orten der Welt erwartet, nur nicht hier in der Wüste von Nevada. Als sie den Brunnen endlich erreichten, waren sie bis auf die Haut durchnässt.

Die drei Frauen betrachten die Ankömmlinge mit stoischer Ruhe und ohne sichtbares Interesse. Eine jede von ihnen hält ein Wollknäuel in der Hand, so unterschiedlich wie die Frauen selbst. Eine scheint Sabrina uralt zu sein, ihr schlohweißes Haar hängt in triefend nassen Strähnen über ihre Schultern. Zwischen ihren Fingern reicht ein langer dicker Faden bis auf den Boden, der Sabrina an eine tote Schlange erinnert. Die zweite Frau ist jünger und nicht so runzlig wie die Alte und auch sie ist völlig durchnässt. Sie hält einen abgerissenen Faden in der Hand und wirkt auf eine undefinierbare Weise traurig. Die dritte ist eine junge Frau mit langem, strohblonden Haar, das sie in einen dicken Zopf geflochten hat, der ihr weit über die Schulter reicht. Sie lächelt Sabrina schmallippig zu.

„Du kommst früh, Mädchen“, sagt die Alte auf Deutsch. Ihre Stimme klingt knarzig und hat einen leichten Akzent, den Sabrina nicht zuordnen kann.

„Gerade rechtzeitig“, erwidert die zweite und grinst nun auch. Die dritte schweigt und betrachtet die Eheleute nachdenklich.

„Sie sprechen unsere Sprache?“, staunt Sabrina.

Irritiert schiebt Christoph seine Frau ein Stück nach hinten und baut sich zwischen ihr und den Frauen auf. „Entschuldigen Sie die Störung, meine Damen. Wir haben uns wohl verfahren und der Motor unseres Wagens streikt. Dürften wir Ihr Telefon benutzen?“

„Und wo sind wir hier?“, ergänzt Sabrina.

Die jüngste der drei Frauen legt ihr winziges Wollknäuel auf den Brunnenrand und erhebt sich leichtfüßig von ihrem Holzschemel.

„Da müssen wir Mr. Wouden fragen. Der kennt sich hier bestens aus“, sagt sie heiter und mit tiefer Grabesstimme.

Sabrina kommt es so vor, als sei die Blondine überhaupt nicht nass geworden. Diese geht gemessenen Schrittes zur Hütte und pocht energisch mit den Fingerknöcheln gegen das durchweichte Holz. Einige unendlich lange Sekunden passiert gar nichts. Nur der Regen peitscht erbarmungslos weiter auf die Erde nieder. Dann öffnet sich die alte Holztür schwungvoll und ein riesiger Mann steht im Türrahmen. Hinter ihm kann Sabrina weder ein Zimmer, noch einen Gang erkennen. Einzig ein diffuses, schmutzig-gelbes Licht flimmert dort, das einen Eindruck von unendlicher Weite vermittelt.

Die nächste Bemerkung lässt Sabrina zusammenfahren. „Geht nur Sabrina, Mr. Wouden hat schon auf euch gewartet.“ Sie weiß nicht, welche der Frauen gesprochen hat und es ist ihr auch egal. Plötzlich ist die Panik aus dem Auto wieder da.

 

„Woher“, fragt Sabrina alarmiert, „wo - woher kennen Sie meinen Namen?“ Sie ist sich sicher, dass sie ihn nicht genannt hat.

Jetzt mischt sich der Mann ein, der aus der Hütte getreten ist und die Tür hinter sich verschließt. Er trägt einen blauen Regenmantel, der schon bessere Tage gesehen hat, sein Hut verdeckt sein Gesicht fast vollständig.

„Ich kann mir den Wagen ja mal ansehen“, brummt er mit sonorer Stimme, „Habe in all den Jahren schon viele Wagen fahren sehen.“

Die beiden Eheleute sind sprachlos.

„Nun komm, Christoph!“, fordert Wouden den pitschnassen Mann auf. Dabei spricht er den Namen des jungen Mannes so übertrieben betont aus, als könne er die Buchstaben einzeln schmecken. Auch dem mysteriösen Mann scheint der Sturm nichts anhaben zu können. Seine Kleidung bleibt trocken und der Schlapphut soll wohl eher das Gesicht verdecken als vor dem Regen schützen. Verwirrt trabt Christoph mit wackligen Knien hinter dem blauen Mantel her in Richtung Mietwagen. Schon bald ist er im dichten Regenschleier verschwunden. Sabrina sieht ihm nach. Am liebsten würde sie Christoph hinterherlaufen, doch etwas lässt sie nicht. Wie angewurzelt bleibt sie am Brunnen stehen.

„Dein Weg endet hier.“ Sabrina dreht sich zu der zweiten Frau, die gesprochen hat, „Skuld hält nichts mehr für dich in der Hand.“

Wie zur Bestätigung streckt ihr die blonde Frau beide Handflächen entgegen.

„Ich verstehe nicht“, jammert Sabrina. „Was soll das heißen? Mein Weg endet hier?“

„Du bist zu Hause“, besänftigt sie die Älteste. „Sieh nur.“

Sie deutet auf Sabrinas Sommerkleid, das bis eben triefnass an der Haut klebte und jetzt trotz des anhaltenden Gewittergusses trocken ihren Körper umweht.

Erneut rollt ein tosender Donner über den Himmel und eine Serie von Blitzen zuckt auf.

„Bald wirst du mit ihnen reiten“, freut sich die jüngste der Brunnenfrauen. „Und ich weiß, dass du es gut machen wirst.“ Jetzt lacht sie freundlich. „Komm Sabrina, gib mir deine Hand, ich bin deine Zukunft.“

Von der Straße her kommen Mr. Wouden und Christoph zurück. Auch der junge Mann ist jetzt nicht mehr durchnässt, sein weißes Hemd flattert um seine Hüften. Sein Haar scheint im Wind zu wehen, während es weiter gießt, als laufe im Himmel ein Ozean aus. Christoph starrt Sabrina verklärt lächelnd an und schreitet wortlos an ihr vorbei, hinter Mr. Wouden her zur Hütte. Wouden öffnet die Tür und wieder sieht Sabrina dieses ockerfarbene Licht. Doch dieses Mal glaubt sie ganz hinten an einem unfassbar weit entfernten Horizont einen Regenbogen ausmachen zu können. Der Mann im blauen Mantel lässt Christoph durch die Tür treten und blickt ihm nach, bis er im diffusen Licht langsam seine Konturen verliert. Mr. Wouden nimmt seinen Hut ab und dreht sich zu Sabrina um. Er trägt einen weißen Vollbart, hat hohe Wangenknochen und eine mächtige Nase. Ein blaues Auge schaut aufmerksam auf Sabrina herab. An der Stelle, wo das zweite hätte sein müssen, ist im Gesicht des Riesen ein Loch, in dem ockerfarbenes Licht schimmert. Der Mann zwinkert ihr mit seinem intakten Auge aufmunternd zu und geht in die Hütte. Polternd schlägt die Tür zu.


Sabrina schlug die Augen auf. Ihr Hals war trocken, sie tastete nach der Wasserflasche.

„Na, wieder unter den Lebenden?“, wollte Christoph wissen, der das Lenkrad lässig mit der linken Hand umfasst hielt, während er mit der rechten sein Handy bediente.

„Ich habe geträumt“, sagte Sabrina und stellte die Flasche wieder in die Halterung.

„Ach ja?“, fragte Christoph abgelenkt. Die Fahrbahn begann holpriger zu werden. Der Regen wurde heftiger und von Westen zogen bedrohliche Wolkenberge heran, die sich im diffusen Dämmerlicht wie eine wilde Reiterschar unaufhörlich näherten. Plötzlich krachte es ohrenbetäubend und ein gewaltiger Blitz erhellte die Umgebung der baufälligen Straße für einen Sekundenbruchteil taghell. Am linken Wegesrand konnte Sabrina eine Hütte erkennen, daneben einen gemauerter Ziehbrunnen. Über dem Brunnen befand sich ein mächtiges Rundholz. Schemenhaft wurden drei Gestalten sichtbar, die dort im Unwetter saßen. Im Scheinwerferlicht des Wagens war ein querstehender Lastwagen zu sehen. Christoph konnte nicht mehr bremsen.


Luci van Org

Berlinerin mit Jahrgang 1971, trat schon im Alter von 12 Jahren als Sängerin in Blues-Clubs auf. Mit 16 unterschrieb sie ihren ersten Plattenvertrag, sang mit 19 als Eena den Titelsong zum Flim Go Trabi Go und war nebenher Kunst- und Anglistikstudentin, Supermarktverkäuferin und Aktmodell. 1994 wurde sie mit Lucilectric (Mädchen) zum gefeierten Popstar. Heute ist sie als Musikerin die weibliche Hälfte von Meystersinger und Bandleaderin von Üebermutter.

Wenn sie nicht gerade Musik macht, schreibt sie Bücher (u. a. Frau Hölle - U-Books), Drehbücher (u. a. Lollipop Monster, ZDF) oder Theaterstücke (u. a. Die 7 Todsünden), fährt in ihrem alten 190er Mercedes kreuz und quer durchs Land zu ihren Lesungen oder steht als Schirmfrau des VEID. e V allen Rede und Antwort, die sich über das Thema „Verwaiste Eltern“ informieren möchten.


Rex Dildo


y, machssu Stress, oder was?“

„N … nein, nur … also … meine Schwester kommt übers Wochenende und … wir brauchen das Gästezimmer.“

„Ey … kein Problem, ey! Sch … schlaf isch auf Sofa, man!“

Frija, die Huldvolle, atmete durch. Weil es jedes Mal aufs Neue nicht leicht war, die passenden Worte zu finden und weil ihr schon ganz blümerant war, in der qualmgeschwängerten Luft. „Das … meine ich nicht“, ergänzte sie schließlich gepresst. „N … natürlich ist dieses ganze … Gastfreundschafts-Ding uns alles andere als egal, aber … du bist ja jetzt schon mehr als anderthalb Jahrtausende hier und angesichts dieser langen Zeitspanne …“, die oberste Göttin der Asen lächelte etwas gequält, „Angesichts dieser langen Zeitspanne finden auch Wotan und die anderen, dass es bestimmt auch für dich besser wäre, wenn …“

Lautes, langanhaltendes Gurgeln eines tiefen Zuges am grüngläsernen Bong der Marke „Power Tower“. Frija unterbrach ihre Ausführungen, denn während das Blubbern in angestrengtes, auch für geübte Rauschmittelkonsumenten besorgniserregend dauerhaftes Luftanhalten überging, musste sie Halt an der Türklinke suchen, weil ihr vom Zusehen endgültig schwindelig wurde.

Endlich entließen des Logierbesuches Lippen zwei winzige Rauchwölkchen ins nachmittägliche Dämmerlicht. Und drei Worte: „Sch … schwul oder was?“ Empört hüstelnd und mit von der Strapaze knallrotem Gesicht zog Jehova sein Federbett hoch bis ans Kinn und drehte sich zur Wand.


Die Personalkantine des Jobcenters Berlin-Tempelhof-Schöneberg war überfüllt. Wie immer, wenn es Eisbein mit Püree gab, obwohl jedes Mal alle so taten, als würden sie das Zeug nicht mögen.

Dass aber Kadir und Christoph Unterhuber, Sachbearbeiter für Arbeitssuchende mit den Anfangsbuchstaben I bis J beziehungsweise N bis O einander in der Warteschlange wissend zugrinsten, hatte einen anderen Grund.

Kadir und Christoph taten das, weil sie sich liebten. Und weil sie angesichts der Schweinebeine in der Auslage an ihre Väter denken mussten.

Nicht wegen etwaiger optischer oder gar charakterlicher Ähnlichkeiten.

Aber die Tatsache, dass Christophs alter Herr so gut wie täglich riesige Schweinestücke in sich hineinzustopfen pflegte, wohingegen es Kadirs Vater schon vor Abscheu schüttelte beim bloßen Gedanken an das unreine Ekelzeug, belustigte die Liebenden gleichermaßen und war eine von unzähligen Kleinigkeiten, die sie verband.

Eine andere war, dass Kadirs und Christophs Vater damals vor sechs Jahren beide erst einmal keinen Sohn mehr gehabt hatten, nach Erhalt einer Einladungskarte. „Wir trauen uns“ hatte darauf gestanden, dazu Datum und Uhrzeit einer feierlichen Verpartnerungszeremonie im Standesamt Berlin Tempelhof-Schöneberg.

„Des is net gotgwoildt …!“, hatte Christians Vater nach dem Kirchgang über seinen Teller Wellfleisch gebrüllt. Und Kadirs alter Herr hatte geschrien und gewimmert, wie er das denn dem Imam erklären solle am kommenden Freitag und beide Mütter hatten sich dazu auf die Lippen gebissen, leise geschluchzt und geschwiegen.

Ein Verhalten, das – mal abgesehen von etwaigen theologischen Feinheiten – ja durchaus auf bestehende Gemeinsamkeiten zwischen den Bräutigamseltern hätte hinweisen können. Ebenso wie die Tatsache, dass alle vier sich bis heute nicht entscheiden mochten, ob das Schlimmste eigentlich ihr schwuler Nachwuchs an sich war, oder dass dieser sich ausgerechnet in den Sprössling eines bayerischen Katholiken beziehungsweise eines türkdeutschen Muslimen hatte verknallen müssen.

Trotzdem wurde man in den Familien nicht müde bei jedem nur erdenklichen Anlass auf all die vermeintlich so tiefgreifenden, religionsbedingten Unterschiede zwischen ihren Kulturen hinzuweisen. Und dabei gar nicht zu bemerken, wie sehr doch auch dies eigentlich schon wieder verdächtig nach Gemeinsamkeit roch.

Weil elterliche Sehnsucht aber bisweilen stärker war als Gottesfurcht, lud man die Verdammten seit kurzem zumindest ab und zu mal gemeinsam zum Essen ein. Hier zu Schweins- dort zu Lammbraten und an beiden Orten zu Vorhaltungen und Klagen. Darüber, wie oft alle nachts wach lagen vor Gram „ … weil ihr in der Hölle schmoren werdet!“

Schon wieder eine dieser Gemeinsamkeiten. Wobei die eine Hölle natürlich muslimisch und die andere Hölle katholisch war, doch weder Christoph noch Kadir wussten, ob das eigentlich irgendeinen Unterschied machte.

Etwas anderes wussten die zwei Liebenden ebenfalls nicht. Nämlich, dass sie auserwählt waren. Nicht vom Gott der Christen. Auch nicht vom Gott der Muslime. Aber vom Schicksal.

Weil das Schicksal eben tat, was es wollte. Völlig egal, ob das den Göttern, den Menschen oder sonst irgendwelchen Bewohnern der neun Welten nun passte oder nicht.


„Es … reicht!“ Die sommersprossigen Nasenflügel bebend vor Zorn baute Frija, die Huldvolle, sich vor ihrem Göttergatten Wotan Allvater auf. „Wat …?“, ächzte der ein wenig verdattert und ohne von seiner Portion Chickenwings aufzublicken.

„Na alles!“, schnaufte seine Frau. „Wie er da rumliegt und jammert und … und … dieses primitive Gequatsche und dieser süßliche Mief überall.“ Angeekelt schnüffelte sie an ihrem Wollcape. „Es muss etwas passieren. Sofort!“

„Dit fällt Dir ja früh ein …“, entfuhr es dem Allvater leise.

Was er schon im nächsten Augenblick bereute.

Weil Frija, der Allwissenden, natürlich nichts, absolut gar nichts, einfach so einfiel, weder früh noch spät. Wie denn auch? Hatte die Huldvolle doch bereits vor Jahrtausenden alles gewusst, was jemals geschehen war, gerade geschah oder aufgrund desselben noch geschehen mochte bis ans Ende aller Tage, weil das ja nun mal ihre göttliche Superkraft war.

Genau dies würde sie ihrem Mann in spätestens einem Wimpernschlag nun wieder einmal ebenso empört wie besserwisserisch aufs Brot schmieren, verbunden mit der Feststellung, dass sie für ihre Allwissenheit ja nun wohl alles andere als etwas konnte, weshalb es absolut unfair sei, ihr jedwelche Verantwortung zuzuschieben, nur, weil sie die Arschigkeiten ihrer Mitlebewesen immer vor allen anderen auf sich selbst und die Welt zukommen sah, bla, bla, bla, bla …

Dabei hatte Wotan doch nur anmerken wollen, dass Jehova ja nicht erst seit gestern in der oberasischen Behausung logierte! Zugegebenermaßen kein angenehmer Zustand, aber im Laufe der Jahre hatten sich doch alle irgendwie arrangiert mit dem Elend.

 

„Duu …“, zischelte die Huldvolle. Untrügliches Anzeichen einer direkt bevorstehenden verbalen Detonation, weshalb Wotan noch schnell in einen Hühnerflügel biss, um Frijas Wutausbruch wenigstens nicht mit leerem Magen überstehen zu müssen.

„Du …“, schnaufte es ein weiteres Mal und des Allvaters Schultern wanderten ängstlich ein Stück nach oben in Richtung seiner Ohren. Worüber er sich derart zu ärgern begann, dass er die Sensation zunächst sogar überhörte.

„Du hast ja recht …“

„Was?!“

„Du hast recht. Was dagegen?“

„N … nein! Ich meine nur – So was sagst du doch … sonst nicht.“

„Sonst hast du ja auch nicht recht.“


Die Indoor-Strandbar Mykonos auf dem Fabrikgelände der Schöneberger Motzstraße war überfüllt. Wie immer am Freitagabend, obwohl jedes Mal alle so taten, als wäre der Hype darum, in künstlich aufgeschütteten Sanddünen nackt Cocktails zu schlürfen, zu kiffen und zwischendurch anonymen Safer Sex zu haben, nun wirklich so was von gestern.

Dass aber Kadir und Christoph Unterhuber, Sachbearbeiter für Arbeitssuchende mit den Anfangsbuchstaben I bis J beziehungsweise N bis O einander in der Warteschlange wissend zugrinsten, hatte einen anderen Grund. Sie taten das, weil sie sich liebten. Und weil sie – angesichts der immer länger werdenden Reihe Wartender – mit geübten Augen den Personalengpass am Kassentresen bemerkten. Nur ein einziger junger Mann versuchte dem Ansturm der unzähligen Gäste Herr zu werden. Schweiß rann von seiner Stirn auf seinen nackten Oberkörper, was recht vielversprechend aussah. Allerdings nur, wenn man seine grünlich-blasse Gesichtsfarbe ignorierte. Typisches Anzeichen schwerer Kreislaufprobleme, sicherlich ausgelöst durch die zum Schneiden dicke, Marihuana geschwängerte Luft, von der jeder Besucher schon beim Betreten der Fabrikshalle eingehüllt wurde.

Eigentlich, so hatten anfangs alle befürchtet, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Laden nach einer Drogenrazzia würde schließen müssen. Aber irgendwie schien es seitens des männlich-heterosexuellen Teils der Berliner Polizei gewisse Berührungsängste zu geben. Und wenn Homophobie ja auch sonst zu wirklich gar nichts nutze war, so bescherte sie zumindest dem Besitzer des Mykonos seit fast zehn Jahren eine sichere Existenz und halb Schöneberg damit einen entspannten Feierabend.

Probleme hatte der Betreiber trotzdem. Weil es kaum jemand vom Service lange aushielt, zwischen den Sandhügeln. Der Stundenlohn war zwar ordentlich und das Nacktsein in der Hitze fanden viele sogar reizvoll. Dass aber spätestens nach einer halben Schicht die Knöchel schmerzten vom Laufen in den Dünen unterschätzten die meisten ebenso, wie die Auswirkungen einer täglichen Überdosis THC.

Immer wieder gab es deshalb regelrechte Hilferufe ans Jobcenter, weil jemand kurzfristig gekündigt hatte. Doch auch wenn Kadir und Christoph ihren Beruf wirklich ernst nahmen und sich bemühten – so lange es offiziell nicht möglich war „langjähriger Kiffer mit kräftigen Fußgelenken“ in die Liste der geforderten Qualifikationen aufzunehmen, blieb die Vermittlung neuer Servicekräfte ein Lotteriespiel.


„Dann rede halt einfach noch mal mit ihr.“ Wotan Allvater atmete durch. Weil er ja niemanden beleidigen wollte. Aber – da konnte sein Freund und Lehrmeister noch zehnmal den Ruf haben, das weiseste Wesen aller neun Welten zu sein – es gab Dinge, von denen hatte Mimir, der Riese, nun wirklich absolut keine Ahnung!

Was man in gewisser Weise ja hätte voraussehen können. Zwar fand das meiste Weibsvolk Status wichtiger als Optik, aber nur ein Kopf reichte den Damen dann eben doch nicht und etwas anderes war Mimir schließlich nicht geblieben, nach diesem einen verhängnisvollen Schwerthieb im großen Asen-Vanenkrieg.

Dass er sich noch dazu nicht einmal regelmäßig die Haare schneiden oder den Bart stutzen ließ, weil er dererlei „Chi Chi“ vollkommen überflüssig fand, trug ebenfalls nicht gerade zur Erweiterung seines Erfahrungshorizonts im Umgang mit dem anderen Geschlecht bei. Weswegen Mimir wohl tatsächlich glaubte, man könne „noch mal reden“ mit einer Frau, die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Ganz im Gegensatz zum Allvater und seinem besten Kumpel Donar Hammerträger, die diesen Sachverhalt nun wirklich beurteilen konnten, nach über viertausend Jahren Ehemännerdasein. „Vergiss es!“, schnauften sie deshalb beide gleichzeitig in Mimirs Richtung, denn da gab es nichts zu diskutieren! Wenn eine Frau beschlossen hatte, es sei Zeit ausgerechnet jetzt ein Problem zu lösen, dann war es Zeit, ausgerechnet jetzt ein Problem zu lösen, selbst wenn das Problem bereits seit über tausendsechshundert Jahren in ihrem Gästezimmer lag.

„Und wenn du einfach mal Klartext mit ihm redest!“

„Ganz tolle Idee …!“, grollte Wotan, der die nicht wenig beschwerliche Reise hierher zu Mimirs Brunnen der Weisheit langsam zu bereuen schien. „Was glaubst du denn, was ich gemacht habe, die letzten tausendsechshundert Jahre?!“

„Echt?“ Der Riese schien ehrlich verwundert. „So: Schluss, aus, pack deine Sachen, du Penner, verpiss dich und so …?“

„Bist du irre?“, fiel Donar Hammerträger dem Weisen ins Wort. „Den darfste nich’ aufregen, Mann! Auf keinen Fall aufregen! Der knallt total durch, der Spacko!“

„Also bitte!“, murrte Wotan verdrossen. Weniger über Donars Bemerkung als darüber, dass ihm auch nichts Vernünftiges einfiel – aber irgendwo musste der Ärger ja hin.

„Ich sach nur, wie’t is“, murrte Donar zurück,

„Trotzdem nennt man so einen nich’ ‚Spacko‘, sondern höchstens ‚Individuum mit gestörter Impulskontrolle‘“, verbesserte der Allvater.

„Gestör … wat?“ Wotans Wortwahl schien der eher gemütlichen Auffassungsgabe des Hammerträgers nicht unbedingt entgegenzukommen.

„Impulskontrolle, Mann! Wenn … wenn die gestört is’, dann kann man sich nich’ zusammenreißen. Also in nem Streit oder so. Dann macht man halt immer nur das, wonach einem gerade is’. Zum Beispiel eben … voll ausrasten.“

„Aaaah … so“, Donar nickte beflissen, wenn auch noch sichtlich beschäftigt mit dem Verarbeitungsprozess der eingegangenen Information.

„Und was macht der dann so, wenn der ausrastet?“, hakte Mimir nach.

„Na voll rumbrüllen und alles!“ Mit einem Ruck war der Hammerträger aus seiner Denk-Trance erwacht und ehrliche Empörung zerfurchte seine Züge. „Da … da musste nur ma ganz freundlich sowas sagen wie ‚Hey, Jehova, wie wärs’n mal mit aufstehen?’ oder so, dann komm’ da gleich so Sachen, wie ‚Ey, schwul oder was?’ oder ‚Ey, scheiss ich deine Mutter in Briefkasten, Alter!’ Widerlich, Mann! Total widerlich!“

„Das ist alles?!“ Fassungslosigkeit ließ Mimirs Brauengestrüpp zu einem Balken zusammenschnurren, bis er aussah, als habe man ihm eine Gemüsebürste über die Nasenwurzel geklebt.

„Nein, Mann!“, knurrte Wotan und warf Donar einen mitleidigen Blick zu. Es war ja liebenswert, wie des Hammerträgers unschuldiges Gemüt sich schon an derartigen Kleinigkeiten aufrieb. Aber natürlich ging es hier um etwas ganz anderes.

Um Vorsicht und Besonnenheit nämlich, weil dem Wüstengott, schon eine Ewigkeit bevor er an der oberasischen Behausung geklopft und Obdach eingefordert hatte, ein Ruf wie Donnerhall vorausgeeilt war! Ganze Städte habe er einfach mal so in Schutt und Asche gelegt und einen gesamten Kontinent elendiglich ersaufen lassen – nur, weil ihm die Menschen dort nicht genügend untertan gewesen waren. Weswegen die Bewohner Mittel- und Nordeuropas sich dann ja auch tunlichst beeilt hatten, bloß nicht denselben Fehler zu machen – und Wotans Götterkarriere dieser Knick verpasst worden war, von dem sie sich bis heute nur zaghaft erholte.

„Hm …“ Die Gemüsebürste über des Riesen mächtiger Nase wanderte langsam nach schräg links oben bis fast zu seinem struppigen Haaransatz, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. „Ich weiß ja, was die Menschen über ihn erzählen, aber … seit er bei euch ist, hat er nur geschimpft und gejammert, nichts weiter. Richtig?“

„Ja, richtig“, knurrte Wotan trotzig. „Und das is’ ja wohl auch sehr gut so!“

Schließlich war es ja auch nicht zuletzt Wotans Verdienst!

Hatte doch der Allvater selbst den Wüstengestörten sofort nach dessen Auftauchen vorsorglich mit den beruhigenden Eigenschaften des Hanfrauches bekanntgemacht. Dass Jehova mittlerweile nur noch aus dem Haus ging, um sich Rauschmittel-Nachschub zu besorgen, war natürlich nicht die schönste Begleiterscheinung dieser kleinen Vorsichtsmaßnahme. Aber was war ein bisschen Kiffer-Hängertum schon gegen die Rettung ganz Mittel- und Nordeuropas durch gemilderten Aggressionstrieb?

„Hmm …“, machte der Riese ein weiteres Mal, ließ die Gemüsebürste zur Abwechslung nach schräg rechts oben wandern und eine quälende Pause entstand. Mal ehrlich – für das weiseste Wesen der neun Welten war Mimir heute wirklich beschissen in Form! Entnervt begann Wotan in Gedanken die Zugverbindungen für eine möglichst baldige Rückreise durchzugehen.

„Wasn, wenn wa einfach die Tür zumachen, wenn er das nächste Mal Dope holen geht?“, nuschelte Donar, der die Stille nicht mehr ertrug.

„Also echt ma!“, protestierte Wotan. „Ich meine – gibt ja wohl noch sowas wie Gastrecht!“

„Gastrecht?!“ Mimirs Augen weiteten sich zu Tennisbällen vor Empörung. „Unsere Heiligtümer plattmachen, unsere Bräuche klauen, unsere Freunde abmetzeln – verhält sich so’n Gast, oder was?!“

„Aber wir können ihn doch nich’ dafür verantwortlich machen, wenn seine Leute sich schlecht benehmen!“

„Aber doch wohl dafür, dasser sie nich’ dran hindert!“

„Versucht er ja!“, hielt Wotan dagegen. „Ich meine, vielleicht is’ Jehova bisschen irre und so, aber … es is schon so, dass er das echt Kacke findet, wie sich alle beklauen und bekriegen in seinem Namen! Aber die … die hörn ihm ja nie zu, wenn er denen das sagt!“

„Is doch kein Wunder, so wie der redet, Mann!“ Erneut verdüsterte Entrüstung die Miene des Hammerträgers. „’Ey, Lan, stressma nich so krass rum, ey!’ oder ‚Ey, is deine Fresse krass voll Scheiße, Alter!’ Da … da würd ich mir auch nich’ zuhör’n, Mann! Ich meine, das klingt doch … wie’n Drogendealer!“

Wotan entfuhr ein Seufzer. Weil ihm soeben klar geworden war, dass der Fünf-Uhr-Rückreisezug nicht mehr zu schaffen war und weil sein Kumpel Donar ja nun wohl offensichtlich die Tatsachen verkannte.

Hatte doch jahrhundertelang Jehova ganz allein das gesprochen, was heutzutage als „Kiezdeutsch“ in aller Möchtegern-Ghettokids Munde war. „Weil ich krasser Gangster bin, ey!“, war die Antwort gewesen, als der Allvater irgendwann einmal nach dem Grund für diese Eigenart gefragt hatte. Und auch wenn Wotan bis heute rätselte, was das wirklich bedeutete – er musste zugeben, dass dieser Wüstengangster ihn zumindest am Tag seiner Ankunft nach allen Regeln der Kunst kriminell überrumpelt hatte: „Ey, ey …, w … wohn isch ma bei dir, Alter!“ – während Wotan noch gegrübelt hatte, was diese geheimnisvollen Worte wohl bedeuten mochten, war der Fremde ja schon dabei gewesen, im Gästezimmer seine Sachen auszupacken!

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