Götterhämmerung & Walkürentritt

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Im Eingangsrahmen stand ein großer, sehr herrisch wirkender Mann in einem weiten, blauen Mantel. Er trug einen breitkrempigen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte und der voller Spinnweben und staubbedeckt war. Auf jeder seiner Schultern saß ein unnatürlich großer und tiefschwarzer Rabe. Neben seinen Beinen standen links und rechts zwei furchterregend große Wölfe, welche die Lefzen hochzogen und bedrohlich knurrten. Der Mann hob den Kopf und sah aus seinem einen noch intakten Auge in den Saal.

„Oh Gott! Oh Vater! Oh Gottvater!“, stammelte der Kaiser Barbarossa und rutschte auf seinem Empfangssessel zusammen wie ein Ballon, der ein Stachelschwein gestreift hat.

„Es ist schmutzig hier!“, grollte der einäugige Odin wie eine, in sicherer Entfernung zu Tale stürzende, Gerölllawine. „Deinen Gruß hatte ich mir nach über tausend Jahren enthusiastischer vorgestellt. Aber ich kann damit leben, mein Sohn.“

Der so angesprochene Barbarossa, der in Wirklichkeit Odins Sohn und der Donnergott Thor war, zappelte auf seinem Stuhl herum, als gelte es einer Hundertschaft von Skorpionen auszuweichen.

„Bist du gekommen, mich von dieser Maskerade zu erlösen?“, fragte er vorsichtig. Thor wusste sehr genau, dass dies mit Sicherheit nicht der Grund war, weshalb sein Vater aus Walhalla herabgestiegen war. Wenn ihm der Alte eine Nachricht hätte schicken wollen, so wäre einer seiner Wölfe oder Raben ausreichend gewesen, dachte Thor. Nun hatte der oberste aller Götter aber gleich alle vier Tiere mit in diese Höhle gebracht und trug in seiner Rechten zu allem Überfluss den Speer Grungnir, der sein Ziel niemals verfehlte. Thor schwante nichts Gutes. Wenn sein Vater in vollem Ornat anrückte, dann musste etwas Bedeutendes und sehr Beunruhigendes vorgefallen sein. Huginn, derjenige der Raben, der die Gedanken verkörperte, funkelte Thor aus seinen pechschwarzen Augen feindselig an und Munnin hackte sich gerade genüsslich eine große Spinne von seinem Federkleid, um sie kurz darauf seelenruhig zu verzehren. Der Rabe Munnin wirkte alles in allem eher unbeteiligt. Er stand für die Erinnerung und Thor dämmerte es, dass Erinnerungen wohl nicht das Thema der nächsten Minuten wäre. Aber er brauchte Zeit, sich vom ersten Schock zu erholen und seine grauen Zellen wieder neu zu postieren, auf dass er der Auseinandersetzung mit seinem Erzeuger gewachsen wäre.

„Natürlich nicht!“, brüllte Odin. „Und du weißt das ganz genau!“

„Ähem, ich freue mich immer, dich zu sehen, mein Vater, äh, Gott, ich meine – Gottvater“, ruderte Thor hilflos durch das ihm momentan zur Verfügung stehende Vokabular.

„Lass uns die Sache verkürzen“, schaltete sich Odin wieder ein und Thor stellte für sich fest, dass sein Vater noch immer kein Freund der großen Worte und des langen Herumredens war und deshalb gleich auf den Punkt kommen würde.

„Du weißt“, sagte Odin, „dass ich noch nie ein Freund der großen Worte und des langen Herumredens war und deshalb immer gleich auf den Punkt komme.“

„Ja, ich weiß“, sagte Thor wahrheitsgemäß.

„Ich habe nur eine einzige Frage, mein Sohn.“

„Und die wäre, ich meine, bitte, ähem, frag ruhig“, versuchte Thor seinen Vater nur sehr halbherzig zu animieren.

„WO IST DEIN HAMMER?“, schrie der mächtigste aller Götter und betonte die Vokale überaus lange und schrill.

Thor schaute erschreckt an seiner Bettstatt hinunter und stellte fest, dass Mjöllnir, sein alles zerschmetternder Donnerhammer, nicht mehr an der Stelle lag, wo er hätte sein sollen. Thor registrierte mit einem leichten Anflug von Panik, wie sich seine eben neu formierten grauen Zellen schnell wieder hinwarfen und Deckung hinter den Schädelknochen suchten.


Sabrina saß an ihrem Arbeitsplatz vor dem PC mit der Layout-Software, in der sie ihre Artikel gleich in der richtigen Länge einfügen konnte. Eine Tasse kalten Kaffees stand neben ihr und der tägliche, obligatorische Polizeibericht flimmerte grünlich auf ihrem Bildschirm, als fürchte er seine eigene Veröffentlichung. Wenn es wenigstens ein ordentliches Zeilenhonorar dafür gegeben hätte.

Sie hatte aber als fest eingestellte Redakteurin kein Zeilenhonorar als Berechnungsgrundlage ihrer journalistischen Arbeit. Und ihre Bezahlung hatte sie sich während des Studiums auch anders vorgestellt. Mit diesen paar Euro konnte sie jedenfalls noch keine Familie gründen. Ihren Eltern gefiel es überhaupt nicht, dass sie mit 28 Jahren noch keine feste Beziehung eingegangen war und wie Sabrina ihre Mutter kannte, machte die sich bestimmt große Sorgen um den Fortbestand der Familie. Doch Sabrina hatte sich erst einmal andere Prioritäten gesetzt und wollte in der Lokalredaktion der Kreisstadt weiterkommen und Karriere machen. Dann, später einmal, wenn sie bei einem renommierten Blatt beschäftigt war, würde sie eine eigene Familie planen. Je mehr sie aber über diesen, ihren Lebensplan nachdachte, desto unsicherer wurde sie, ob er tatsächlich so perfekt war, wie er ihr noch vor wenigen Jahren beim Studium erschienen war. Inzwischen entließen die großen Verlage und Zeitungen reihenweise ihre Redakteure. Und das waren keine schlechten Vertreter ihrer Zunft, die sich nun um die verbliebenen Plätze an der printmedialen Futterkrippe balgten. Manchmal dachte sie, es wäre besser gewesen, sie hätte damals zur Paläographie gewechselt und würde nun in einer heimeligen Forscherstube eines renommierten Museums sitzen und alte Schriftzeichen des Mittelalters entziffern. Stattdessen lief sie jeden Tag in die langweilige Redaktion der einzigen Tageszeitung vor Ort und wertete Polizei- und Feuerwehrberichte aus. Die Masse der Nachrichten beinhaltete Pressemeldung der Stadtverwaltung mit dem Inhalt, wann welche Straße voraussichtlich für wie lange wegen Bauarbeiten vom Straßenverkehr ausgeschlossen sein würde. Die von ihr zu erfassenden Leserbriefe drehten sich inhaltlich um Hundekot auf öffentlichen Plätzen oder Beschwerden darüber, dass die Sperrung einzelner Straßen nicht pünktlich genug in der Zeitung angekündigt worden war.

Ihr gegenüber saßen ihre Kollegin Henriette Wildt und der junge Fotograf Enrico Neumeister, ebenfalls auf ihren Drehstühlen, und versuchten die morgige Lokalausgabe mit brauchbaren Beiträgen und Fotos zu füllen. Henriette hatte gerade einen Leser am Telefon, der sich offenbar über die schlechte kulturelle Grundversorgung im gesamten Landkreis unter besonderer Berücksichtigung der viel zu dünn gesäten Volksmusikveranstaltungen im Gegensatz zum ewigen Bumbum-Geratter der jungen Generation in diesen grässlich lauten Diskotheken erregte. Am Beginn des Anrufes, der schon einige Minuten zurücklag, hatte Henriette immer laut die wilden Anschuldigungen des Anrufers wiederholt, damit die beiden anderen in der engen Redaktionsstube auch etwas zu lachen hatten. Aber solcherlei Scherze sind kurzlebig und auch Henriettes Gesicht deutete inzwischen nicht mehr auf irgendeine Form von Vergnügen hin. Sabrina sah zum Fenster hinaus, genauer gesagt spähte sie durch einen Schlitz der fast geschlossenen Jalousie und dachte an gar nichts. Ein Zustand, der sich immer dann bei ihr einstellte, wenn sie den Polizeibericht bearbeiten musste. Wie aus weiter Ferne hörte sie Henriette sagen: „Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist wirklich bedauerlich. Ich werde Ihre Anregungen mit in die Redaktionskonferenz nehmen und ganz bestimmt darüber schreiben. Ja, wenn ich es Ihnen doch sage. Verlassen Sie sich auf mich. Nichts zu danken. Wiederhören. Idiot.“

Sie hatte den Hörer auf die Gabel geknallt und stand ruckartig auf.

„Was man sich hier alles bieten lassen muss! Was denkt sich denn dieser Blödmann, was wir hier den ganzen Tag über machen? Er hat doch allen Ernstes behauptet, wir würden absichtlich nichts über Volksmusik bringen, weil wir Absprachen mit den örtlichen Diskotheken hätten und uns von denen bezahlen ließen.“

Henriette war richtiggehend aufgebracht, was ihr nicht oft passierte, denn sie hatte einen eher ausgeglichenen Charakter. Böse Zungen bezeichneten sie als phlegmatisch, ein noch geringerer Teil der Einwohnerschaft hielt sie für schlichtweg faul und desinteressiert. Diese wenigen Leute unterstellten ihr, sie würde in den Redaktionsstuben des Kreisanzeigers nur auf die nahende Rente warten, die in überschaubarer Zeit ihrem journalistischen Treiben ein Ende setzen sollte. So drückte es jedenfalls Henriette selbst aus und wurde nicht müde, ihren baldigen Ruhestand immer wieder ins Gespräch zu bringen. Das hatte zur Folge, dass sie auch in der Redaktion mit keinen großen Sonderaufgaben mehr betraut wurde. Denn sie ging ja ohnehin bald in Rente. Wann genau das war, wusste außer ihr kaum jemand.

Sabrina konnte Henriette gut leiden, ihr gefiel die bedachte, nichts überstürzende Art der älteren Kollegin und ihr Scharfsinn, wenn es um Falschmeldungen ging. Henriette Wildt ließ sich so leicht nichts vormachen. Sie konnte wunderbar im Stile der Yellow-Press schwadronieren und sich über Nebensächlichkeiten unendlich ausbreiten. Sie sagte dann für gewöhnlich: „Nur immer her mit der Nachricht, auch wenn sie noch so unbedeutend ist. Ich blase sie auf, bis sie platzt.“

Aber sie setzte keine Falschmeldungen in die Welt. Für Sabrina war sie eine Arbeitskollegin, von der sie etwas lernen konnte. Und viel konnte sie bei diesem kleinen Wurstblatt nicht lernen. Henriette streifte sich ihren Mantel über und verabschiedete sich zu einer Pressekonferenz im Landratsamt. Auch Enrico nutzte diesen Termin, um aus dem muffigen Büro zu entkommen.

Sabrina hatte den Aufbruch der beiden kaum registriert und starrte immer noch aus dem Fenster, als ihr Telefon klingelte. „Kreisanzeiger, Donath, guten Tag“, sagte sie freundlich. „Was kann ich für Sie tun?“

 

„Mein Name ist Häusler und ich bin Mitarbeiter der unteren Denkmalbehörde im Landratsamt Nordhausen. Wir sind gerade bei einer hobbymäßigen, archäologischen Untersuchung im Kyffhäuser und haben dort eine bemerkenswerte, offensichtlich sehr alte Streitaxt gefunden. Genauer gesagt sieht das Ding aus wie ein Hammer. Sind Sie daran interessiert?“

Sabrina war auf dem besten Weg in die Hörmuschel zu kriechen, sie hegte mehr Interesse an dieser möglichen Story, als sie für einen Sechser im Lotto gezeigt hätte. Dennoch bemühte sie sich eine routinierte Professionalität auszustrahlen und antwortete so kühl und nüchtern sie nur konnte: „Das klingt interessant. Wann und wo kann ich den Fund sehen?“

„Wie wäre es mit sofort?“, fragte der Denkmalpfleger Häusler zurück.

„Das passt mir prächtig“, sprudelte Sabrina viel zu schnell hervor. „Ich bin auf dem Weg. Wo finde ich Sie?“

Am anderen Ende entstand eine Pause, die Sabrina im Bereich einer jungen Unendlichkeit ansiedelte, aber in Wahrheit nicht länger als fünf Sekunden währte. Dann hörte sie klare, detaillierte Instruktionen, wo sie sich einfinden sollte.


Gernot Hübner schaltete sein Handy aus. Er war zufrieden. Schon viele Jahre hatte er seit dem Umsturz der Konterrevolution und dem damit verbundenen Untergang der DDR mit sich gerungen, was er mit dieser merkwürdigen Axt anfangen sollte. Seitdem er sie Anfang der Achtzigerjahre von dem Spezialauftrag aus der Höhle im Kyffhäusergebirge mitgebracht hatte, drängte es ihn regelrecht physisch, sie wieder los zu werden. Dabei würde er immer noch seine gesamte Ordensammlung hergeben, wenn er erfahren könnte, was damals in dieser stürmischen Oktobernacht eigentlich passiert war. Gemeinsam mit zwei anderen Genossen hatte er einem anonymen Hinweis aus der Bevölkerung nachgehen sollen, nachdem sich in den Bergen ein Mann verbarg, der wie der rotbärtige Kaiser Barbarossa aussah und sich verdächtig benahm. Sie hatten tatsächlich einen versteckten Höhleneingang gefunden und waren hinein gegangen. Seine nächste Erinnerung war, wie er wieder in der Einsatzzentrale stand und sein höchst zufriedener Oberstleutnant ihn auszeichnete für die ehrenhafte Ausführung seines Auftrages. Als er schließlich nach Hause gekommen war, hatte er diese riesige Axt auf dem Rücksitz seines Moskwitschs gefunden. Er hatte sie in einem alten Öllappen im Garten vergraben, doch über die Jahre wurde um diese Stelle das Terrain immer größer, auf dem einfach nichts wachsen wollte. So hatte er das Ding schließlich an einem alten, stillgelegten Kiesschacht nahe der Kreisstadt Nordhausen vergraben, wo ohnehin nichts wuchs.

Als die Westdeutschen dann wie die Vandalen über seine sozialistische Heimat herfielen, begann sein eigentlicher, innerer Kampf. Gernot wusste wohl, dass er das Gerät gewinnbringend verkaufen könnte. Nein, nicht an die Holländer, die alles mit sich schleppten, was über dreißig Jahre alt war und dafür nur ein Spottgeld bezahlen wollten. Er würde auf die passende Gelegenheit warten, beschloss er. Lieber schlug er sich noch einige Jahre so schlecht und recht durch. Dieses garantiert sehr wertvolle, alte Stück sollte seine Rentenversicherung sein. Schließlich hatte er seine Knochen immer hingehalten zu DDR-Zeiten und niemand hatte es ihm gedankt.

Aber die Gelegenheit kam nicht und die Jahre vergingen. Gernot wurde immer verbitterter. Sozialhilfeempfänger war er und seine geheimen Reserven neigten sich schon bedrohlich dem Ende entgegen. Da war ihm die Idee gekommen, so zu tun, als hätte er die Axt eben erst gefunden. Dann würde sich herausstellen, wer sich mit wie viel Geld dafür interessierte. Die kleine Redakteurin, die er da gerade an der Strippe hatte, war sofort auf seine Geschichte angesprungen und nun musste er sie nur überreden, das wahrscheinlich frühmittelalterliche Teil zu fotografieren. Er würde ganz ruhig abwarten, welche Reaktionen die Veröffentlichung auslösen würde. Notfalls wäre er gezwungen, die Journalistin rund um die Uhr zu beschatten, aber darin hatte er ja Erfahrung.

In der Ferne hörte er einen Motor brummen und sah auf seine Uhr. Das konnte sie schon sein, wenn sie sich beeilt hätte. Er kletterte vorsichtig von seinem präparierten Fundort hinauf auf den kleinen Felsvorsprung, von dem aus man die Straße überschauen konnte. Ein Kleinwagen näherte sich der Haarnadelkurve und Gernot Hübner, der sich am Telefon als Häusler vorgestellt hatte, griff in seine Jackentasche. Hier befand sich ein Opernglas, womit er das ankommende Auto unter die Lupe nehmen wollte. Das Opernglas hatte sich in der engen Tasche verklemmt und Gernot zerrte wütend und ruckartig daran herum. Zu ruckartig für den vorgeschobenen, Jahrtausende alten Teil der Felsplatte, wie sich unmittelbar darauf herausstellte.

„Verdammt“, fluchte der ehemalige Stasi-Offizier und polterte zusammen mit mehreren Zentnern lockeren Gesteins den Steilhang hinunter. Es war der letzte Fluch, der ihm in seinem siebenundvierzigjährigen Leben vergönnt war.


Sabrina erreichte keuchend vom steilen Aufstieg den Punkt, den ihr der Anrufer beschrieben hatte. In einer kleinen Mulde lag tatsächlich ein großer Hammer oder ein Beil. Es war alles so, wie es der Mann am Telefon beschrieben hatte. Nur von dem Anrufer selbst war weit und breit nichts zu sehen. Sie hatte ihren Elektroschocker in der Hand, die in der rechten Manteltasche steckte. Wenn sie hier einer austricksen wollte oder noch Schlimmeres mit ihr vorhätte, dann würde er sich wundern.

Nach einer Stunde Wartens war Sabrina dann klar, dass der mysteriöse Anrufer nicht nur mal eben für kleine Jungs hinter die Büsche gegangen war. Sie nahm ihr Handy und rief in der Redaktion an.

„Wo bist du, Schätzchen?“, fragte Henriette gelassen. „Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“

Sabrina erzählte ihr die ganze Geschichte und Henriette fing an zu lachen.

„Da hat dich aber einer hochleben lassen, Sabrina“, prustete sie in den Hörer. „Die untere Denkmalschutzbehörde macht doch nie und nimmer hobbymäßige Ausgrabungen. Und selbst wenn, dann würden sie bei einem interessanten Fund sonst wen anrufen, aber nicht uns.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Sabrina, die sich darüber ärgerte, dass sie von Henriette ausgelacht wurde. „Der Hammer liegt aber hier vor mir, das wenigstens wirst du mir doch glauben?“, schimpfte sie in ihr Mobiltelefon.

„Sei nicht sauer, Schätzchen“, sagte Henriette jetzt aus Sabrinas Hörer.

„Ich will dich nicht beleidigen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es das Beste, wenn du sofort von dort verschwindest. Wer weiß, was für ein Verrückter dir da einen Streich spielen will.“

Henriette klang plötzlich wirklich besorgt und Sabrina wurde mit einem Schlag ihre heikle Situation bewusst. Ganz allein stand sie auf einem einsamen Felsvorsprung in menschenverlassener Gegend. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie beeilte sich zu sagen: „Du hast völlig recht, Henriette, ich haue hier ab. Bis gleich!“

„Bring die Axt mit, Sabrina!“


„Wir haben es eben erst erfahren, dass der Donnerhammer verschwunden ist, während du hier schliefst. Huginn sah ihn, als er das Kyffhäusergebirge überflog. Und wie du weißt, irrt er sich nie. Ich glaube aber, Mjöllnir ist diesmal in nicht so großer Gefahr wie damals bei Thrym, dem Eisriesen. Vermutlich hat ihn ein Sterblicher, der doch ohnehin nichts mit ihm beginnen kann und sehr wahrscheinlich einer von denen, die du hier empfangen hast.“

Odin saß auf einem Felsvorsprung und Huginn flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Thor war die ganze Geschichte sichtlich peinlich und er dachte angestrengt nach, was zu tun sei, ohne allerdings dabei irgendein brauchbares Ergebnis zu erzielen.

„Dann werde ich ausziehen und ihn zurückholen wie einstens, da ich als junges Weib verkleidet den Riesen narrte“, warf er sich schließlich in die Brust, weil er fest daran glaubte, dass Angriff die beste Verteidigung sei. „Wie ein Sturmwind werde ich über die Sterblichen hinwegfegen und alle töten, die sich mir entgegenstellen“, legte er in heroischem Tonfall nach, als er sah, dass sein Vater nicht reagierte und angestrengt schwieg.

„Und was wirst du tun, wenn sich dir gar kein Sterblicher entgegenstellt?“, hakte Odin ein. Thor meinte, einen leicht aggressiven Unterton aus der Replik seines Vaters herausgehört zu haben und beschloss, lieber nicht nach Widerworten zu suchen.

„Es hat keinen Sinn, wild um sich zu schlagen und Wut bringt uns hier nicht weiter“, fuhr der Göttervater unbeirrt fort. „Ganz im Gegenteil müssen wir listig vorgehen. Ich habe schon deine Söhne Magni und Modi in Bewegung gesetzt und unweit der Stelle, an der wir hier sprechen, operiert Freya inkognito.“

„Sie tut was?“, fragte Thor bestürzt.

„Sie ermittelt im Verborgenen!“

„Oh, da bin ich aber beruhigt“, atmete Thor auf.

„Du wirst dich ebenfalls in diese Stadt Nordhausen begeben, wo wir den großen Donnerhammer vermuten. Ihr holt ihn auf die gleiche Weise wie damals zurück. Verkleidet euch und erregt möglichst wenig Aufsehen. Das können wir momentan nicht gebrauchen und es darf aus dieser Aktion nicht das Ragnarök, die Götterdämmerung, entstehen.“

Thor stand da wie ein mit verdorbenem Met begossener Bär und brummte zustimmend.

„Du weißt, dass der Zeitfaden an einem Spinnrad der drei Nornen entsteht. Manchmal kann er sich verhaken und dann kann es passieren, dass sich bereits geschehene Ereignisse wiederholen. So ist es nun mit dem Raub Mjöllnirs passiert. Ich hoffe nur, die Heimholung Mjöllnirs gehörte nicht zu den ewig zyklisch wiederkehrenden Dingen“, seufzte der oberste Gott.

Der tiefschwarze Rabe Huginn setzte sich wieder auf Odins rechte Schulter und steckte den Kopf ins Gefieder, wie es sein Artgenosse Munnin schon seit einer ganzen Weile auf der linken tat. Thor erahnte, dass ihr Gespräch damit beendet war und ihm eine anstrengende und aufregende Zeit bevorstand. Er griff sich seine eisernen Handschuhe und beeilte sich, seinem Vater aus der Höhle zu folgen.


Frieda glaubte anfänglich, das Gewand sei nicht in ihrer Größe vorrätig gewesen und sie müsse deshalb ein so kurzes Teil anziehen. Die Haarschneiderin nannte es erst Minikleid und später, recht anzüglich grinsend, „das kleine Schwarze“. So konnte Frieda nun nicht nur ihre eigenen Knie sehen, sondern auch einen Großteil ihrer Oberschenkel. Aber, so stellte sie wohlwollend fest, die konnten es mit allen anderen Frauenbeinen, die hier in der Vorhalle des Theaters herumliefen, ohne weiteres aufnehmen. Ihr blieben die bewundernden Blicke vieler Männer nicht verborgen. Auch nicht die neidvollen und hasserfüllten von deren Eheweibern. Neben ihr schwitzte Lothar Lehmann in einem hochgeschlossenen, schwarzen Zweireiher. Er hatte eine rote Fliege um seinen fetten Hals gewürgt und trug ein schneeweißes Oberhemd. Allerdings roch er schon jetzt entsetzlich nach Schweiß und Frieda mochte nicht daran denken, wie das später im prall gefüllten Zuschauerraum sein würde. Die Friseurin hatte ihr den ganzen Ablauf und alle Räume wahrhaft haarklein beschrieben, sodass Frieda sich nur wundern konnte, wie exakt alles stimmte. Jetzt bogen sie in den Saal ein und hier staunte Frieda über die imposante Bühne, die von einem schweren, samtroten Vorhang verhüllt war, auf dem verschiedenfarbige Scheinwerfer faszinierende Lichtspiele zauberten. Die Bühnenportale waren in schlichtem Grau gehalten und ragten hoch in den Raum. Zwei Ränge überdachten das Parkett zur Hälfte und in der Mitte der Saaldecke prangte ein beeindruckender, gläserner Kronleuchter. Die Sitzreihen waren mit ebenfalls samtigen, in bordeauxrot gehaltenen Sesseln versehen, die man nach unten klappen musste, wenn man darauf sitzen wollte. Von allen Seiten strömten Menschen in festlicher Garderobe zu ihren Plätzen. Der Raum war erfüllt von Getuschel und Gewisper, hin und wieder erklang ein lautes Lachen.

„Im ersten Teil kann sich Wotan also am Ende dank Loges Hilfe gegen Alberich durchsetzen und sie kehren mit ihm zurück auf ihre Burg. Hier nehmen sie Alberich alles wieder ab; den Nibelungenhort, den Tarnhelm und am Ende den Ring. Jetzt verflucht Alberich den Ring und steigt hinab nach Nibelheim“, dozierte Lehmann mit feuerrotem Kopf und steifbeinig stolzierend wie ein Torero, der eben eine Wagenladung wilder Stiere in Hackfleisch verwandelt hatte. Er ging an Friedas linker Seite und war fast einen Kopf kleiner als sie, was auch an Friedas sehr hochhackigen Schuhen lag.

 

„Und das kann man alles singen?“, staunte Frieda und schüttelte ihre aufwendig toupierte Löwenmähne nach hinten.

„Nun, nicht jeder. Oder genauer gesagt: Nur gut ausgebildete Sänger vermögen Wagners genialer Musik gerecht zu werden. Wagner ist sehr schwer zu singen und für das Orchester nicht leicht zu musizieren“, antwortete Lehmann und schielte aus den Augenwinkeln selbstgefällig nach zwei jungen Männern, die ihn neidisch anstierten. Ja, so ein Superweib hatte hier niemand an seiner Seite. Lehmann war absolut glücklich.

„Wann hat die Oh-pär denn angefangen?“, wollte Frieda wissen.

„Angefangen, wieso angefangen?“ Lehmann war verwirrt.

„Na, die Musiker spielen doch schon und im Übrigen nicht sehr schön, muss ich sagen“, warf Frieda ein.

„Aber nein“, lachte Lothar Lehmann. „Die spielen noch nicht, die stimmen nur ihre Instrumente.“

„Warum können sie das nicht in ihrer Garderobe machen, wo sie niemanden stören mit ihrem Gequietsche?“, wollte Frieda wissen.

„Ja, nun, äh … “, machte Lehmann und bemerkte, dass er keine Antwort geben konnte. „Ich habe keine Ahnung!“, sagte er schließlich überrascht.

Sie hatten ihre Plätze erreicht und setzten sich. Friedas Kleidchen rutschte an den Beinen hoch. Lehmann wurde es bei diesem Anblick heiß und kalt, doch gnädigerweise verdunkelte sich der Zuschauerraum kurz darauf. Das Gezischel und Gemurmel der Operngäste erstarb so allmählich, wie sich der Saal verfinsterte. Ein Mann im schwarzen Anzug rumorte im Orchestergraben herum und bahnte sich einen Weg an den Bühnenrand. Die Zuschauer klatschten und der Mann verbeugte sich in Richtung des tiefschwarzen Saals. Er wandte sich dem Orchester zu und bedrohte es mit einem kleinen Stöckchen. Bald schon fuchtelte er ausgelassen mit den Armen in der Luft und schwenkte den kleinen Stab fröhlich hin und her, während das Orchester sich tapfer durch die komplizierten Wagnerschen Noten manövrierte.

„Der Dirigent“, hatte Lehmann Frieda zugeflüstert und sie hatte stumm genickt.

Einige Reihen dahinter stand ein Mann von seinem Klappsessel auf und stellte sich an einen der seitlichen Ausgänge. Er hielt eine Videokamera vor seinem Gesicht. Es war Horst Kindler, der seinen hervorragenden Plan aus der letzten Nacht in die Tat umsetzen wollte. Er hatte keine Drehgenehmigung von der Theaterleitung eingeholt und sich schon vorsichtshalber zurechtgelegt, was er denen erzählen würde, die ihn blöd anmachen wollten. Er war schließlich der Einzige, der überhaupt etwas unternahm. Ohne ihn würde die Stadt und ihr komisches Theater nie in die überregionalen Schlagzeilen kommen. Und da wäre es ja wohl eine Frechheit, wenn er sich noch aufwendig vorher seine Arbeit genehmigen lassen müsste, die er unentgeltlich und aus lauter Enthusiasmus hier leistete.

Im verantwortlichen Musikverlag und auch in der örtlichen Theaterleitung hätten die Verantwortlichen eventuell eine, in einigen Punkten differierende Haltung zu Kindlers Überlegungen eingenommen, aber der Zuschauerraum war dunkel und von beiden Institutionen niemand anwesend. Während das Orchester sich bravourös durch die Ouvertüre tastete, dachte der filmende Kindler mit erheblichem Respekt an die unglaubliche, blonde Sexbombe, die mit dem dicken Lehmann gekommen war. Hatte der alte Halunke also doch nicht zu dick aufgetragen. Kindler verstand nur überhaupt nicht, was eine solche Frau mit einem Typen wie Lehmann anfing.

Noch einige Reihen dahinter massierte sich Sabrina Donath die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen von der ganzen Aufregung im Kyffhäusergebirge. Körperlich erschöpft war sie auch, denn die Streitaxt hatte ein beträchtliches Gewicht und es waren gut und gerne zwei Kilometer vom Plateau bis zu ihrem kleinen Renault gewesen. Sie merkte schon in den Unterarmen, was sie da morgen für ein prächtiger Muskelkater erwartete. Die alte Axt hatte sie erst einmal in der Redaktion gelassen. Henriette wusste auch nicht zu sagen, ob das Ding wertvoll war oder nicht. So blieb ihr nichts anderes übrig, als in den nächsten Tagen den Direktor des städtischen Heimatmuseums darüber zu befragen. Eigentlich war sie ziemlich kaputt und hatte keine Lust gehabt, sich einen tonnenschweren, stundenlangen Wagner anzutun. Aber in der Wochenendausgabe war ihre Kunstkolumne fällig und andere kulturelle Ereignisse hatte es in dieser Woche einfach nicht gegeben. Neben ihr saß Enrico mit schussbereiter Kamera und großem, aufgeschraubtem Objektiv. Er selbst machte auch nicht den frischesten Eindruck, sein Kopf prallte in unregelmäßigen Abständen gegen ihre Schulter, um dann erschreckt zurückzuschnellen. Hoffentlich fängt er nicht an zu schnarchen, dachte Sabrina.

Frieda versuchte der Handlung auf der Bühne zu folgen, was durch mehrere Aspekte erschwert wurde. Die Musik war zu laut.

Die Texte der Sänger waren unverständlich.

Sie spielten keine Geschichte, sondern standen steif herum, klopften sich hin und wieder auf die Brust und rollten furchterregend mit den Augen.

Bisher hatte Frieda folgendes gesehen:

Ein Mann kam schwankend auf die Bühne und sang auf eine Frau ein, die dort schon wartete. Dann erschien ein weiterer Mann, der viel tiefer sang und scheinbar den ersten nicht leiden konnte. Der wiederum zog, als er allein auf der Bühne war, eine Schwerterattrappe aus einer Baumattrappe und anschließend, als hätte sie darauf gewartet, kam die Frau wieder und die beiden fassten sich beim Singen an den Händen. Den weiteren Verlauf der Handlung hätte Frieda auf Nachfrage nicht mehr exakt wiedergeben können, denn ihr waren die Augen zugefallen und sie schlummerte selig.

Ihre nächste Erinnerung war eine wohltönende und sogar verständliche Baritonstimme, die gerade sang:

„not tut ein Held,

der, ledig göttlichen Schutzes,

sich löse vom Göttergesetz.

So nur taugt er zu wirken die Tat,

die, wie not sie den Göttern,

dem Gott doch zu wirken verwehrt.“

Langsam sickerte das Gehörte in Friedas Bewusstsein, ohne dass sie einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Worten herstellen konnte. Sie dachte eine Weile nach und kam zu dem Schluss, dass der Sänger gemeint haben musste, er suche einen Helden, der irgendeinen Auftrag ausführen sollte, den die Götter nicht selbst erledigen wollten. Das erinnerte sie an ihren eigenen Auftrag, den sie hier erfüllen musste, und sie schlug vorsichtig ein Auge auf und blinzelte ins grelle Bühnenlicht. Dort standen jetzt andere Sänger und … bei Odin, das sollte der Göttervater selbst sein! Und das Weib an seiner Seite sollte wohl ihre Schwester Fricka darstellen. Frieda, die eigentlich die Fruchtbarkeitsgöttin Freya war, erschauerte. Das war Blasphemie, das war ganz eindeutig Blasphemie!

„Oh, ihr Götter!“, stöhnte sie und rutschte auf ihrem Sitz herum. Ihr Kleid zog sich noch weiter in Richtung Bauchnabel zurück und Lehmann, von ihren Worten aus dem pompösen Kunstgenuss gerissen, war es plötzlich unmöglich, den Blick von Friedas Schoß zu wenden.

„Jetzt reicht es aber!“, schrie Freya, die auch als Kriegsgöttin einen wohlklingenden Namen hatte. „Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!“

Als sie jetzt sah, wohin Lehmann unverwandt starrte, sprang sie auf und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige mit ihrer kleinen, schwarzen Lederhandtasche. Ein Raunen ging durch das Publikum, der Dirigent wandte den Kopf mit verstörtem Blick.

„Schauen Sie mich nicht so an!“, brüllte die erzürnte Göttin und zwängte sich aus ihrer Sitzreihe heraus. Kaum hatte sie das geschafft, bückte sie sich, ergriff ihren hochhackigen linken Pumps wie eine Schlachtaxt und schleuderte ihn dem verdutzten Orchesterleiter mit voller Wucht ins Gesicht. Es war ein Volltreffer. Dem Musikdirektor wurde plötzlich schwarz vor Augen. Eine Reihe goldener, ausgestanzter Weihnachtssterne drehten sich in dieser Finsternis kurzzeitig vor seinem geistigen Auge im Kreise und dann wurde es Nacht. Der Obermusiker plumpste wie ein prall gefüllter Kartoffelsack kopfüber in Richtung erste Geigen, wo er krachend auf seiner japanischen Konzertmeisterin zu liegen kam. Pling, schnarrte deren Violine und die Seelen mehrerer tausend Euro machten sich auf die Reise in das wunderbare Nirwana des Mammons. Die letzten Instrumente, die bisher tapfer den Anschein einer geordneten Wagneraufführung aufrecht erhalten hatte wollen, brachen jämmerlich mitten im Ton ab. Auf der Bühne glotzte das Sängerpärchen verdutzt in das große, schwarze Loch, aus dem jetzt ein kleiner Gegenstand herangepfiffen kam und den Wotan-Darsteller an der Schulter traf. Es war Freyas rechter Schuh. Wenig später hatte die aufgebrachte Blondine die Bühne erklettert und wäre fast in den Orchestergraben gestürzt, wo eine weinende Japanerin die Reste ihres italienischen Streichinstrumentes wie ein Baby im Arm hielt. Bei den beiden Bühnensolisten angelangt rief Freya: „Ihr jammervollen Gestalten wollt doch nicht die obersten Götter vorstellen?“