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Von unserem Pariser Korrespondenten
(statt eines Vorworts)

Wer in Frankreich lebt und liest, was Frankreich-Korrespondenten der deutschsprachigen Zeitungen über Frankreich schreiben, der staunt. Der fragt sich, wie so viele Korrespondenten so regelmässig so gouvernemental über ein Land schreiben können, das so unablässig so subversive Themen anbietet. Und er fragt sich: Wie kommt das?

So kommt das:

Der Korrespondent erwacht knapp vor sieben Uhr. Mit täglich neuer Zielstrebigkeit treibt es ihn zum nächsten Kiosk, wo die Zeitungsfrau ihm schon alle Morgenzeitungen entgegenstreckt (oder fast alle, denn auf «Libération» und «Humanité» verzichten viele). Das macht also immerhin drei Morgenzeitungen, welche der Korrespondent nun in seiner Gewissenhaftigkeit studiert. Mit einem Ohr hört er dabei die Morgennachrichten. Nachdem er die frischen Zeitungen ausgeweidet hat, welche ideologisch alle ungefähr zwischen dem «Bayernkurier» und der «Frankfurter Allgemeinen» liegen, wenn nicht sogar rechts vom «Bayernkurier», konsultiert er noch die Abendzeitungen vom Vortag: «Le Monde», «La Croix» und «France-Soir». Nun hat er also sein beruhigend breites Meinungsspektrum vor sich: vom rassistisch geifernden «Parisien libéré» über den neokolonialistischen «Aurore», den stockkonservativen «Figaro», den gaullistischen «France-Soir», die katholische «La Croix» bis hin zum linksbürgerlichen «Le Monde» sind alle Schattierungen innerhalb des bürgerlichen Schattens vorhanden. Da unser Korrespondent der Objektivität verpflichtet ist, berücksichtigt er in seiner Bouillabaisse alle Ingredienzen, an manchen Tagen sogar die «Humanité». Unter kräftigem Umrühren mischt er die Zutaten zu einem völlig neuen Brei, so dass die ursprünglichen Brocken nicht mehr erkennbar sind und sein Eintopfgericht riecht, als ob es eine originale Schöpfung wäre.

Dieser Originaleffekt wird mit geheimnisvollen Andeutungen erzielt, im Stil von «Aus Regierungskreisen verlautet», oder «Aus Oppositionskreisen verlautet», oder «Im Elysée denkt man», oder «In Gewerkschaftskreisen ist man der Ansicht». So dass der Leser daheim sich über den direkten Draht freut, welcher den tüchtigen Korrespondenten mit Giscards braintrust oder mit Mitterrands Politdenkern verbindet.

Um zehn oder halb zehn Uhr hat unser Mixer dann seine Mixtur parat, die paar Schreibmaschinenseiten, welche ausschliesslich aus schon Geschriebenem zusammengestoppelt sind (wobei in den meisten Fällen die Quellen nicht zitiert werden), zusammengestoppelt aus Tageszeitungen, die in ihrer Mehrheit gouvernemental sind oder noch reaktionärer als die Gaullisten, zusammengebraut aus Nachrichten des reaktionären Radios und Fernsehens und des «freien» Kommerzradios («Luxembourg» und «Europe 1»). Etwa um halb elf also ist der Prozess des Wiederkäuens abgeschlossen, der Artikel kann nach Hause telefoniert oder telexiert werden. So geht das jeden zweiten oder dritten Tag, manchmal auch täglich, je nach «Aktualität». Nun kann der Korrespondent sich ausruhen, manche allerdings erst, nachdem sie denselben Artikel noch zwei oder drei anderen Zeitungen durchgegeben haben (es gibt einige, die bis zu sieben Zeitungen mit demselben Artikel beliefern: Im Gegensatz zu den Krämern kaufen die Korrespondenten «en détail» ein und verkaufen «en gros»). Bestenfalls ein Halbtags-Job, wenn einer mal ein bisschen Routine hat. Dazu sehr flott honoriert: unter viertausend Francs verdient keiner. Damit gehören sie in Frankreich zu den Privilegierten.

Die Korrespondenten der deutschsprachigen Tageszeitungen könnten sich zu einem «pool» zusammenschliessen, und zwar so, dass einer von ihnen periodisch alle Zeitungen mit den Routineberichten beliefert, damit die andern frei werden für Recherchen und Reportagen, Erlebnisberichte, Analysen, Glossen, Interviews. Oder die Redaktionen könnten Agenturberichte abdrucken und damit ihre Korrespondenten für kreativen Journalismus freimachen. Denn was die Haupt- und Staatsaktionen betrifft, die sogenannte grosse Politik, auf die sich unsere Korrespondenten fast immer beschränken, so orientieren die Agenturen ja doch umfassender, schneller und besser als so ein Korrespondent-Kopist, dem nicht ein Viertel der Quellen eines Agence-France-Presse-Mitarbeiters offensteht. Aber die meisten Tageszeitungen wollen auf «unseren Pariser Korrespondenten» nicht verzichten, jedes rechte Blatt ist sich diesen Mythos schuldig, auch wenn es seinen Korrespondenten mit vier andern Blättern teilen muss. Der Mythos überlebt nur deshalb, weil der Durchschnittsleser in der Heimat keine französischen Zeitungen liest und also nicht weiss, welch abgeschmackter Aufguss oder Absud ihm serviert wird. Die Korrespondenten in ihrer unermüdlichen Faulheit (faul hinsichtlich des Denkens, unermüdlich in bezug auf ihre ständig ratternden Kopiermaschinen) sind einfach zu bequem oder zu schüchtern, um in die Fabriken, zu den Bauern, in die Provinz zu gehen, in die politischen Versammlungen, in die Gerichtssäle, wo ihnen jeden Tag Anschauungsunterricht geboten wird; zu bequem sogar, sich in den Ministerien selbst zu erkundigen. (Bei den Veranstaltungen der grotesken Ausländerkolonien in Paris hingegen, da sind sie, bei den teuren Banketten und Ministervisiten.) Manche sind schon jahrelang in Paris und haben noch nie mit einem Arbeiter gesprochen. Ihre Kontaktschwierigkeiten sind allerdings begreiflich, wenn man weiss, wie schlecht sie französisch sprechen: sie wollen sich nicht blamieren und lernen die Sprache also lieber überhaupt nicht. Wenigstens nicht so, dass sie ein Interview oder Gespräch ohne Hemmungen führen könnten. Ihr Wortschatz datiert noch aus der Schulzeit. Ihr Verhältnis zu Frankreich ist gespannt, falls überhaupt von einem Verhältnis gesprochen werden kann. Sie leben weder in Frankreich noch in der Heimat, sondern in einem geheimnisvollen Zwischenbereich, im Ausguck der neutralen Beobachter, weit oben, wo sie nichts mehr erschüttern kann ausser der Erhöhung des Hypothekenzinses ihres Häusleins. Ihre politischen Oberflächenkenntnisse stossen nicht zu einer kohärenten Analyse vor. Alles wird aufgefasert in Tagesneuigkeiten, ohne geschichtliche Tiefe. Zum Herz der Dinge, zur Ökonomie, zur Arbeitswelt, haben sie keinen Zugang. Darüber schreiben die Wirtschaftskorrespondenten, die spezialisierten Volkswirte, welche dafür von der Politik abstrahieren. Die kulturelle Dimension der Politik entgeht ihnen, ebenso die politische Dimension der Kultur. Denn für Kultur, oder was man sich so unter Pariser Kultur auf den Redaktionen vorstellt, sind die Kulturkorrespondenten zuständig, die kultivierten Theaterrezensenten und Besprecher von Ausstellungen …

Und die konkreten Probleme der leibhaftigen Franzosen? Wer schreibt Berichte über das trostlose Leben in der Pariser Agglomeration? Nicht jene Korrespondenten, die bequem im Grünen wohnen und dort ihr Gärtchen pflegen. Wer produziert einen Artikel über Willkür und Allmacht der französischen Polizei, dazu einen politischen Erklärungsversuch der Polizeistaatlichkeit? Nicht jene gepflegten Herren, welche noch nie erlebten, wie man nach einer friedlichen Demonstration zusammengedroschen wurde und wie man auf den Kommissariaten behandelt wird. Polizeiwillkür gibt es für unsere Korrespondenten erst, wenn auch die grossen Zeitungen wie «Figaro» die Methoden etwas zu brutal finden. Wer hat, in Ermangelung eigener Erlebnisse, wenigstens das Buch von Denis Langlois über die Foltermethoden der Polizei besprochen? Wer von den wackeren Greisen liest überhaupt Bücher, einen Bruchteil wenigstens aus der historischen, politwissenschaftlichen und soziologischen Jahresproduktion? Dabei haben sie die Bücher gratis, mit ihrem Presseausweis. Wer liest die sogenannt linksextremen Zeitungen, Zeitschriften und Revuen, von «Politique Hebdo» bis zu «Partisans»? Oder doch hin und wieder «Esprit»? Wer ist auf die verlässliche, wenn auch linke «Libération» abonniert, die immer wieder vom Los der Fremdarbeiter, von der Misere auf dem Land, von unbekannten Streiks und aus den Bidonvilles berichtet? Sicher nicht jene selbstzufriedenen Idylliker, die noch nicht bemerkt haben, dass ihr Koordinatensystem die wichtigsten Fakten eliminiert, die auch nicht spüren, wie sehr das etablierte Informationssystem sich selbst reproduziert, wie schlecht es unmittelbar bevorstehende Erdbeben vorausspüren kann (ein berühmter Artikel von Viansson-Ponté in «Le Monde», unmittelbar vor dem Mai 1968, unter dem Titel: «La France s'ennuie»).

Es geht ihnen einfach zu gut, unsern dickhäutigen Schreibkräften, sie haben ein für allemal ihren objektiven und gepolsterten Standpunkt, oberhalb aller Standpunkte (meinen sie), und betrachten von hoher Warte die hohe Politik, freuen sich über den atlantisch gesinnten Giscard, welch ein Aufschnaufen nach de Gaulle, haben Mitleid mit Jean-Paul Sartre, der wie Sokrates die Jugend verführt, kennen ihn und seine Schriften aber nicht, finden die Sozialpolitik des Chirac eine fortschrittliche Sache, haben aber nicht darunter zu leiden, bei ihrem beinahe diplomatischen Status, bewundern die neuen Quartiere rund um Paris und die lebhafte Bautätigkeit allenthalben und die Renovierung der alten Quartiere, Sanierung überall: entzückend die neuen Fassaden, Notre-Dame im neuen Kleid. Gewiss, von der dynamischen Modeschnüfflerin, die das Büro eines grossen Verlages am Quai Voltaire leitet, kann man eine kritische Berichterstattung nicht erwarten, die beschäftigt sich mit Mireille Mathieu und Johnny Halliday, zu diesem Zweck wurde das Mädchen nach Paris geschickt; aber von den seriösen Korrespondenten könnte man doch hoffen, dass sie nicht nur über die Johnny Hallidays der Politik berichten, dass sie ihre Augen öffnen, ihre Ohren, eventuell mal ihren Kopf zu einer persönlichen Reflexion benützen, bevor ihnen die bürgerliche Presse den Artikel vorgedacht hat. Oder man erwartet, dass sie mal in die unterentwickelte und kolonisierte Provinz reisen oder in die französischen Kolonien, die zum Schein selbständig geworden sind. Man hofft auf einen Bericht über das Leben in den Kohlebergwerken, über die Verhältnisse bei Citroën, einen Blick auf die Pariser Stadtplanung, auf die unerhörte diktatorische Machtkonzentration in den Händen Giscards, auf die Beschreibung eines Regionalpräfekten, der seine Provinz wie ein Vogt regiert.

 

Vielleicht, wenn die Korrespondenten wirklich mit dem Volk korrespondierten und ins Leben tauchten, würde ihnen der Zusammenhang zwischen Alltag und Agitation aufgehen. Sie würden bemerken, dass Millionen von Franzosen nur die Wahl haben zwischen Lethargie und Revolte, zwischen Spiessbürgerlichkeit und Barrikade und dass der radikale Zynismus der Besitzenden die radikale Wut der Unterdrückten ständig neu produziert.

Aber ach, von all dem werden die Korrespondenten unserer Tageszeitungen nichts schreiben. Es wird auch nicht von ihnen verlangt. Die Redaktionen wollen Artikel über den letzten Brandt-Besuch, über die Pressekonferenz des Präsidenten – welche der Korrespondent am Fernsehen verfolgt. Warum sollten Zeitungen, die einen Helmut Kohl im Inlandteil mit Samthandschuhen anfassen, im Ausland einen Bericht über die wahre Natur des Giscard d'Estaing abdrucken, das heisst über die Natur seines Herrschaftssystems? Oder etwa eine Aufklärung über die Machenschaften der «Compagnie Général Electrique (CGE)» oder der «Banque de Paris et des Pays-Bas», da sie ja auch über die Deutsche Bank oder Siemens nicht allgemeinverständlich orientieren, sondern nur im Latein ihrer undeutlich murmelnden Volkswirte? Ausserdem fühlen sich die Korrespondenten in Frankreich zu Gast, allzu deutlich darf man sich gegenüber dem Gastgeber nicht räuspern (sind sie bei der Regierung oder beim Volk zu Gast?). Und schliesslich, so jammern unsere Korrespondenten, haben unsere Artikel ja doch keine Konsequenzen; in Frankreich werden sie nicht gelesen und in der Heimat fast nicht (kein Wunder, bei dem Stil).

Man sieht also, dass die Pariser Korrespondenten in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden können. Am besten beruft man sie in die Heimat zurück, welche sie mental nie verlassen haben. Dort reserviert man ihnen auf den entsprechenden Redaktionen einen gemütlichen Raum, darin ein Fernsehgerät mit Spezialantenne, ein gutes Radio und ein Abonnement auf alle Pariser Zeitungen, mit Express-Luftpost-Zustellung. Also präzis dieselbe Umwelt wie in Paris. Ausserdem eine Sekretärin, deren Parfum ihnen Pariser Atmosphäre garantiert. Nun dürfen sie in Zürich, Frankfurt oder Hamburg ihre Kopistenarbeit verrichten anstatt in Paris, das sie bei dieser Arbeit nur stören kann. Auch können sie an ihren freien Nachmittagen noch für redaktionelle Arbeiten herangezogen werden, Umbruch und so. Das bedeutet eine gewisse Ersparnis für die meisten Zeitungen, weil ja die Spesen und Auslandsentschädigungen wegfallen.

Eine andere Möglichkeit: Die Korrespondenten verlassen, turnusgemäss, ihre feinen Wohnungen, lassen sich eine ganz andere Luft um die Nasen streichen.

Der Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» arbeitet einen Monat bei Renault als «O. S.» (ouvrier spécialisé), der Mann vom «Echo der Zeit» geht als Landarbeiter in die Bretagne, der FAZ-Berichterstatter geht auf den Bau und wohnt mit Portugiesen im Bidonville, der von der «Welt» verdingt sich auf der Werft von Dünkirchen.

Die Überlebenden schreiben einen Erlebnisbericht.

NB: Herr W. I., Korrespondent einer grossen Zürcher Zeitung, der diesen kleinen Aufsatz hatte, rief mich an; er beglückwünschte mich (zu meinem Erstaunen) und sagte, im wesentlichen sei die Lage richtig analysiert, auch er leide unter den sterilen Bedingungen des Journalistendaseins in Paris. Was hatte ich falsch gemacht, dachte ich, dass mich ein Vertreter der konservativen Presse beglückwünschte.

Auf einem fremden STERN, 1983

«Ich persönlich gestehe, dass ich schwer über solche Zusammenstösse mit dem landläufig Menschlichen, dem naiven Missbrauch der Macht, der Ungerechtigkeit, der kriecherischen Korruption hinwegkomme.»

Thomas Mann, «Mario und der Zauberer»

Man kann die 206 Seiten von Erich Kuby – «Der Fall STERN und seine Folgen» –, der 15 Jahre lang beim STERN tätig gewesen ist, nicht ohne Emotion lesen, auch wenn man nur neun Monate bei der Illustrierten als Pariser Korrespondent angestellt war. Alle paar Seiten denkt man, mit einem Gefühl der Befreiung: «Genau so!» – zum Beispiel, wenn Kuby über den weiland Chefredakteur Peter Koch, der das Hitler-Tagebuch-Schlamassel mit angerichtet hat und dann mit drei Millionen Mark Abfindung (Schweigegeld?) gefeuert worden ist, schreibt: «Peter Koch, der mit dem Auftreten eines Kompaniefeldwebels aus Journalisten Befehlsempfänger machen wollte, was ihm zum Teil auch gelungen ist.» Kann man wohl sagen; kann wohl jeder sagen, der Koch und die Redaktionskonferenzen und die demütigenden Abbürstungen erlebt hat, die sich kein Primarschüler von seinem Lehrer, aber fast alle STERN-Leute von ihrem Koch haben bieten lassen, oder auch von Felix Schmidt, dem anderen Chefredakteur und Drei-Millionen-Empfänger. Man fragt sich nur: Warum hat es Kuby in diesem Betrieb so lange ausgehalten? Da war also eine Redaktion mit zahlreichen brillanten (aber auch einigen andern) Köpfen, die oft für Demokratie, gegen Militarismus, Folter, Rüstungswahnsinn kämpfte – nach aussen, das heisst im Blatt sichtbar; und die innerlich-unsichtbar organisiert war wie eine Kaserne, eine luxuriöse allerdings, mit prima Psycho-Folter.

Das Hitler-Tagebuch-Schlamassel ist von diesem Organisationsmodell des STERN nicht zu trennen. Eine halbwegs demokratisch funktionierende Journalistengruppe wäre trotz allen Abschottungsmechanismen von Chefredaktion und Verlag den kriminellen Tagebuch-Veröffentlichungsplänen beizeiten auf die Schliche gekommen und nicht erst nach der Enttarnung dieser doofsten aller Fälschungen. Aber Rebellion, das heisst demokratische Debatte, war der Redaktion von ihren Chefen mit dem eisernen Besen der Chefarroganz abgewöhnt worden, als einfacher Schweizer möchte ich beinahe sagen: mit deutscher Grosshans-Arroganz. Und erst im Mai 1983 wurde dann doch rebelliert, zum erstenmal seit dem Hinauswurf Bissingers (1978), und es durfte eine Woche lang gegen zwei ehemalige Chefen, Koch & Schmidt, die nicht mehr regierten, und gegen zwei zukünftige, Scholl-Latour & Gross, die noch nicht regierten, gemotzt werden.

Von Toten nur Gutes, und auf Ambulanzen soll man nicht schiessen; ich weiss.

*

Ist es hämisch, sich über die Methoden dieser Chefredaktion jetzt, nachdem Schmidt und Koch abgesetzt sind, zu äussern? Schwieriger war es damals während der sogenannten Heftkritik an einem Freitag im letzten November (immer am Freitag ist Heftkritik beim STERN, das neu erschienene Heft wird von einem Mitglied der Redaktion oder von einem speziell eingeflogenen Prominenten, Lothar Späth z.B. oder Intendant Stolte vom zdf, kritisiert). An jenem Freitag war ich mit der Heftkritik betraut und gedachte, nicht aus heroischen Motiven, sondern, weil ich aus meinem Magen keine Geschwürgrube machen wollte, als einfacher Schweizer meine Eindrücke mitzuteilen (Heidi bei Fam. Sesemann). Im betreffenden Heft war u.a. ein Interview mit dem spanischen Ministerpräsidenten, an dem Koch, der Redakteur Bindernagel, Fotograf Lebeck, eine Dolmetscherin und ich mitgewirkt hatten. Ich erzählte der sehr zahlreich erschienenen Redaktion, etwa 100 Leute, Koch & Schmidt inklusive, dass wir mit einem Lear-Jet, Kosten 18'000 Mark, nach Madrid geflogen waren (Unruhe bei den weniger gut bezahlten, zum Sparen angehaltenen Kollegen). Das Interview war von Willy, wie Koch sagte, ANGELEIERT worden; ist natürlich Willy Brandt damit gemeint. Mit González hätte man spanisch oder französisch reden können, Koch konnte weder noch, darum eine teure Dolmetscherin. Der Lear-Jet war auch unabdingbar; Chefen haben bei solchen Reisen ein Anrecht darauf. Um 7 Uhr waren wir auf dem Flughafen verabredet, Koch am Vorabend: «Bitte pünktlich.» Koch war dann um 7.30 Uhr zur Stelle, die andern pünktlich. Wegen dieser Verspätung und weil wir viel Gegenwind hatten und weil das falsche Lear-Jet-Modell gechartert worden war, verpassten wir den Termin in Madrid um eine halbe Stunde. Die Sekretärin von González: «Zu spät, nichts mehr zu machen.» Koch zu Bindernagel: «Erklären Sie ihr, dass wir eigens einen Lear-Jet gechartert haben. Und rufen Sie doch Willy nochmals an, er soll intervenieren.» Ein bisschen bedeppert gingen wir in die nächste Taverne, Koch zu Bindernagel: «Reservieren Sie doch im Restaurant XY einen Tisch für später, dort gibt es die besten Spanferkel.» Nachdem González, evtl. unter Druck von Willy, ein Einsehen hatte, konnte doch noch interviewt werden. Koch hatte, selber unvorbereitet, im Lear-Jet die Fragen studiert, welche Bindernagel und ich präpariert hatten. Koch zu Bindernagel: «Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihre ersten vier Fragen stelle?» Bindernagel: «Nein.» Koch stellte, die Dolmetscherin dolmetschte: Ohne Dolmetscherin hätten wir zweimal soviel Zeit für das Gespräch gehabt. Die Spanferkel waren dann besser als das Interview.

Ich fand es ganz natürlich, der Redaktionsversammlung, im Rahmen der Heftkritik, diesen Vorgang zu erläutern. Es wurde ziemlich still dabei, manche Kollegen sahen mich entsetzt an, Koch rutschte unruhig hin und her – und nach meinem Vortrag meldete sich ein einziger, der diese interessanten Interview- und Flugbräuche kritisieren wollte. Der Mann wurde von Koch barsch zum Schweigen gebracht. Nach der Heftkritik kamen zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in mein Büro und gratulierten; droben in der Konferenz hatten sie geschwiegen.

*

Ach, es war eine schöne Aufstandswoche, damals im Mai 1983, und auch ich habe einige Tage lang gemeint, die Redaktion sei zu sich selbst gekommen: zu ihrem Bewusstsein. Waren nicht alle Ressortchefs, einer nach dem andern, aufgestanden, und hatten sie nicht beteuert, Gross und Scholl-Latour (im Hause Schmoll-Lamour genannt) kämen sozusagen nur über ihre Leiche ins Haus? Unterdessen sitzt Gross ganz oben im Konzern, in der Nähe von Gottvater Mohn, und Scholl-Latour ist Chefredakteur (unterdessen, 1985, auch schon wieder nicht mehr), und keiner von den Ressortchefs ist eine Leiche, ganz im Gegenteil. Es war eine Revolution der deutschen Art (Bitte Rasen nicht betreten). Einige von den ganz grossen Rebellen haben sich seither finanziell verbessert und prächtige Verträge mit der neuen Hierarchie ausgehandelt. Ich persönlich gestehe, dass ich darüber schwer hinwegkomme, unter den Aufgestiegenen sind solche, die man früher respektieren konnte. Die Saugkraft dieses Betriebs ist enorm, und wohin soll man, wenn man beim STERN gewesen ist, als wieder zum STERN? Wo garniert man so tüchtig, wo kann man sich so bedeutend vorkommen, wo hat man als Redakteur schon fast ein Ministergefühl und als Chefredakteur eine schimmernde Staatspräsidentenaura? Man ist nicht ungestraft bei der «grössten und besten Illustrierten der Welt» (wie Foto-Chefredakteur Gillhausen einmal sagte).

*

Wer zum STERN geht weiss, dass ihn keine Konfirmandenschule erwartet. Als Gillhausen mich anheuerte, war ich auf Einiges gefasst: Ellenbogenmanieren, rauhe Sitten, harte Konkurrenz im Haus. Aber totale Unterwürfigkeit? Kasernenhofton? Blinde Autoritätsgläubigkeit? Permanentes Austricksen der Kollegen? Kann sich die kühnste Phantasie nicht ausmalen. Hätte mir einer 1982 gesagt: Bald wird das Blatt gefälschte Hitler-Tagebücher publizieren, dann wäre er ausgelacht worden.

*

«Durch alle Stockwerke des Redaktionsgebäudes war immer das Murren und Schimpfen über die Selbstherrlichkeit der Chefs zu hören, aber es hatte nicht mehr Bedeutung als die Raunzereien der Soldaten im Krieg – sie kämpfen doch –, und die STERN-Leute haben niemals eine Nummer ausfallen lassen – auch im Mai 1983 sind sie vor dieser Möglichkeit entsetzt zurückgeschreckt.» Da hat Kuby schon wieder recht; leider. Im November 1982, ich war zur Vorbereitung auf den Pariser Korrespondentenposten im Mutterhaus an der Alster eingeliefert worden, habe ich den STERN täglich so erlebt. Diese geballten Fäuste! (im Sack). Diese unbändigen Wütchen! (als Geschwür in der Magengrube). In jedem Betrieb wird gegen die Hierarchie gemotzt, aber soviel Hohn für die Chefen (in ihrer Abwesenheit) und soviel Strammstehen (in ihrer Anwesenheit) habe ich nirgendwo sonst erlebt. Respekt empfand man nur für Gillhausen. Und zugleich soviel Desinteresse für das Gesamtprodukt, für den STERN als Ganzes – «weil es jedem von ihnen letzten Endes Wurst ist, woraus die ‹Mischung› besteht, solange sein eigenes Produkt angemessen präsentiert wird» (Kuby). Niemand, auch keine von den engagierten Frauen, fühlt sich betupft oder gar mitverantwortlich, wenn wieder eine nackte Zwetschge aufs Titelblatt kommt (welche immer kommen, wenn die Auflage ein bisschen sinkt). «Da kann man nichts machen, wir haben da gar nichts zu bestimmen», hiess es jeweils, «das Titelbild wird allein von der Chefredaktion ausgewählt.» Niemand fühlte sich betroffen, wenn wieder einmal der Kollege X oder Y in der Redaktionskonferenz perfid zusammengestaucht wurde, von oben. Der STERN kam mir vor wie ein Haifischaquarium, wo jeder nach dem fettesten Brocken und jeder nach jedem schnappt und wo die Haifische sich in Sardinen verwandeln, sobald die obersten Chef-Haifische erscheinen. Über die unsägliche Bachmeier-Serie (eine Mörderin wurde glorifiziert, der STERN spielte Justiz, griff in ein schwebendes Verfahren ein) haben alle intelligenten Kollegen gestöhnt, aber auch da «konnte man nichts machen», man hatte eben der Bachmeier, so hiess es, 100'000 Mark hingeblättert für die Exklusivität ihrer Lebensbeichte, die sie dem Journalisten G. flüsterte (der sich selbst als «Edelfeder» bezeichnet). Überhaupt der Checkbuch-Journalismus: Man ist nicht einseitig, alle politischen Strömungen werden berücksichtigt, Carter, Hitler, Caroline von Monaco, russische Dissidenten. Carter hat für ein (sehr mittelmässiges) Interview, das der STERN mit dem pensionierten Präsidenten machte, 125'000 Mark gekriegt, das heisst, damit sicherte sich der STERN das Alleinabdrucksrecht von Carters Memoiren im deutschen Sprachraum: Auf welchen Abdruck der STERN sodann verzichtete, weil man ja schon ein Exklusivinterview hatte … Für alle andern deutschsprachigen Zeitungen waren die Memoiren damit blockiert. Man nennt das beim STERN: Den Markt leerkaufen. Ein anderer interner Fachausdruck heisst: WITWEN SCHÜTTELN. Damit ist jene Taktik gemeint, welche den Angehörigen von Katastrophen-Opfern, z.B. nach dem Massaker auf dem Oktoberfest in München, Fotos und Personalien der Opfer entlockt, wenn nötig mit Geld. Siehe auch den internen Fachausdruck: SÄRGE ÖFFNEN.

 

Als Breschnjew starb, wurde beim Dissidenten Sinjawski in Paris ein kurzer Nachruf bestellt (für 10'000 Francs), in dringender Nachtarbeit von einer Kollegin aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt: und anschliessend nicht gedruckt, weil man gleichzeitig bei Kopelew einen Nachruf bestellt hatte, der gedruckt wurde.

Zwei hatten nicht Platz … Einer netten Madame, die während der Dioxin-Geschichte im Pariser Büro des STERN erschien (zur Zeit der aufgeflogenen Hitler-Tagebuch-Geschichte), welche vorgab, den Standort der Giftfässer zu kennen (wie schön, wenn der STERN, nach den falschen Hitler-Tagebüchern, die echten Dioxin-Fässer gefunden hätte), wurden, auf Weisung eines unterdessen versunkenen Chefredakteurs, 90'000 Franc versprochen, worauf sie den STERN-Fotografen samt STERN-Redakteurin an einen Ort führte, wo sich keine Fässer, wohl aber ein bösartiger Hund befand, der den STERN gebissen hat. Endlich eine Reportage mit Biss.

Die Verfügbarkeit der Welt, die Beliebigkeit der Themen. Für Geld ist alles zu haben, nur manchmal ist nicht alles echt, auch wenn die Chefredaktion denkt: je teurer; desto echter. Aber immerhin schreibt auch Moravia für den STERN, Böll, Jens, Enzensberger – ein Supermarkt. Vor einiger Zeit hat Marlene Dietrich mit dem STERN-Büro Paris telefoniert – vielleicht wird sie nächstens ihre Tagebücher anbieten. Manchmal ist es auch billig und echt: Ein Artikel der Caroline von Monaco, kurzer dummer Schmus über einen italienischen Sänger, aus einer französischen Zeitung nachgedruckt, hat nur 15 000 Franc gekostet. Im STERN wurde er eingeleitet mit der Zeile «Von unserer Mitarbeiterin Caroline von Monaco». Wer gegen solchen Schabernack protestierte, stiess auf taube Ohren. «Bei einer Produktion, die gewöhnlich um das Doppelte grösser ist als das Aufnahmevolumen der einzelnen Ausgabe, haben die Redaktionskonferenzen eher den Charakter von Ausscheidungskämpfen, der einzelne Autor oder Fotograf und insbesondere die verschiedenen Ressortchefs kämpfen einer gegen den andern um den Platz im Heft, und das um so rabiater, als es keinerlei objektive Kriterien für die Auswahl dessen gibt, was schliesslich in Druck geht» (Kuby). Wenn Caroline von Monaco von einem besonders rabiaten oder schlauen Ressortchef gesponsert wird, geht sie in Druck. Es kann aber auch Böll sein, wenn der von einem noch rabiateren Ressortchef gepusht wird. Gedruckt wird, wer prominent ist, gleichgültig, in welchem Sektor er prominent ist.

Star-System, Nannen-System. Kuby sieht auch noch den STERN von 1983 als totales Nannen-Produkt und Nannen als totalen Opportunisten – man könnte auch sagen: als journalistischen Triebtäter; der sich um die politische Linie des Blattes foutiert: «Sein Bauch, oder sagen wir jetzt, sein Instinkt, war durch keine Erkenntnis von gestern oder gar von einem Leitgedanken, einem Konzept, irgendeiner durch Nachdenken vor sich selbst eingegangenen Verpflichtung zum Handeln in einer bestimmten Richtung eingeengt. Er war bedingungslos offen, um herauszufinden, wohin der Hase mutmasslich gerade laufen würde.» Mutmasslich lief er in Richtung Hitler-Tagebücher; d.h. in Richtung Publikumsinteresse für Hitler-Intimitäten, also zahlte man «dem besten Spürhund unter den deutschen Journalisten», den man zuerst in schwindelnde Höhen hinaufgejubelt und dann gerichtlich belangt hat, eine Million nach der andern, und mit jeder Million, die der Journalist Heidemann einsteckte, wurden die Tagebücher authentischer; bis am Schluss «auf keinen Fall an ihrer Echtheit gezweifelt werden soll» (Chefredakteur Felix Schmidt in einer Redaktionskonferenz).

*

Wenn man den STERN an dem misst, was er sein könnte, mit seinem grossen Potential an liberal-kämpferischen Köpfen (Jaenecke, Kromschröder, Fabian, Petschull, Liedtke, Almquist, Joedecke etc.), dann ist er eine schlechte Zeitschrift. Das Gesamtprodukt wird von den grossen Schreibtalenten nur wenig geprägt. Zu oft erdrückt das Bild den Text: Artikel als Anhängsel der Bilder («Lesen Sie weiter auf Seite 127»). Niemandem würde es einfallen, eine Bildreportage vorn im Heft anzufangen und irgendwo hinten weiterlaufen zu lassen – aber mit dem Text wird das immer wieder gemacht.

Wenn man den STERN aber an den andern deutschen Illustrierten misst, ist er natürlich eine hervorragende Erscheinung. (Die andern sind allerdings so fürchterlich, dass man nichts an ihnen messen sollte.) Kuby verschweigt das nicht, er hebt die Leistungen des Blattes immer wieder hervor: die Serie von Koch über den Rüstungswahnsinn (derselbe, jawohl, welcher «Rasierklingen an den Ellbogen hatte», wie DIE ZEIT geschrieben hat), die sehr anständige Berichterstattung über Baader-Meinhof, Rudi Dutschke, die Studentenbewegung – aber «der Riss geht durch die Person», schreibt Kuby, «derselbe Bissinger, der ein persönlicher und selbstverständlich auch ein politischer Freund Rudi Dutschkes wird – was der Millionenleserschaft des STERN durchaus nicht verborgen bleibt –, ist imstande, zu dem Börsen- und Wertpapierabenteurer Bernard Cornfeld zu fliegen» und diesen im Ton des «billigen, unkritischen Illustriertenjournalismus» zu beschreiben. Solche zerrissene Personen habe ich beim STERN nicht wenige getroffen, den grossen Gillhausen zum Beispiel, Foto-Chef und einziger Überlebender (unterdessen, 1985, auch schon nicht mehr) der ehemaligen Führungs-Troika (Schmidt-Koch-Gilhhausen), der letztes Jahr kreative Vorstellungen für den Pariser Korrespondentenjob entwickelte und mich damit angeheuert hat (über das sozialistische Frankreich müsse ausführlich und seriös im STERN berichtet werden, hiess es damals) – und der dann vor kurzem jene Schicki-Micki-Fotoreportage ins Blatt hievte, die mit den billigsten Mitteln der bildlichen Persiflage eine Pseudo-Bilanz des neuen Mitterrand-Regimes präsentierte; als Wurmfortsatz dazu ein kleiner Text von Katharina H., der auch im «Figaro» hätte erscheinen können: insgesamt eine unseriöse Angelegenheit, wie Alfred Grosser dem STERN-Büro Paris telefonisch mitteilte.