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Der Intellektuelle hat bei dieser «Schreibung» nicht mehr die Funktion des allmächtigen, einsamen Interpreten und Schreibtisch-Strategen, er spürt nur die Leute auf, die sich genau erinnern, und überlässt ihnen das Wort. Er ist eine Art von Mikrophon, funktioniert vor allem als Zuhörer, wie der Psycho-Analytiker. Durch geduldiges Zuhören bringt er die widerborstige Wahrheit an den Tag. Natürlich montiert er die verstreuten Aussagen schlussendlich zu einem Ganzen. Aber wenn diese subjektive Montage im Widerspruch steht zur Grundströmung der objektiv geäusserten Meinungen, dann blamiert er sich selbst vor dem Leser (oder Zuschauer).

Übrigens sei natürlich nichts gegen die Verwendung von schriftlichen Quellen gesagt: Sie dürfen nur keine Exklusivität beanspruchen, sollen in einem dialektischen Verhältnis zu den mündlichen Zeugnissen stehen.

«Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» Ich finde es – wenn ich an die Reaktion bürgerlich-konservativer Kreise denke – sehr bemerkenswert, wenn ein Historiker vom Rang Bonjours eine solche Feststellung macht. Bemerkenswert ist allerdings auch das hier deutlich werdende Verständnis von «Tendenz». Jeder Historiker – auch einer, der das Volk reden lässt – hat bekanntlich eine Welt-Anschauung, eine politische Farbe, welche abfärbt auf seine Produktion, eine Tendenz. Aber die Produktion kann umgekehrt auch die politische Farbe verändern. Ich kenne einen bürgerlichen Zeitgeschichtler im Bundesarchiv von Bern, Spezialist für die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz, der mir kürzlich sagte: Bei der Entdeckung von gewissen Dokumenten, die eine schlimme Nazifreundlichkeit unserer einheimischen Wirtschaftsführer verraten, sei es ihm oft kalt den Rücken heruntergelaufen und der Gedanke an das Schicksal der Schweiz, das zum Teil in den Händen dieser problematischen Leute gelegen habe, könne einen schon tüchtig radikalisieren.

Ich habe meine Meinung ebenfalls durch Faktenzwang revidiert und eine Entwicklung durchgemacht im Laufe der Recherchen über Ernst S. Eine gewisse Radikalisierung war nicht aufzuhalten, wenn man das haarsträubende Gutachten des Psychiaters Hans-Oscar Pfister durchgeblättert hat und mit den Geschwistern des Erschossenen viel und gründlich diskutierte. Ich habe dann dank dieser Tendenz, die von Fakten geschaffen wurde, wieder neue tendenziöse Fakten gefunden, das Verhalten des nazifreundlichen Industriellen Mettler zum Beispiel.

Bonjour hat ebenfalls eine Tendenz, er tendiert unter anderem auf eine, wenn auch gemässigte, Armee-Gläubigkeit. Wenn er zum Beispiel schreibt: «Korpskommandant Wille war durch unzweifelhafte Meriten als militärischer Erzieher zu sehr mit der Schweiz verbunden, als dass man in seiner Handlungsweise landesverräterische Motive sehen dürfte», dann liegt seinem Gedankengang eine deutliche Tendenz zugrunde: a) die Armee ist in jedem Fall ein Teil des Volksganzen und handelt im Interesse der Nation, b) Wille hat für die Ausbildung dieser Armee in der Zwischenkriegszeit viel geleistet, c) also kann er keine Handlungen begehen, welche das Land sabotieren und eventuell landesverräterisch sind. (Es kann nicht sein, was nicht sein darf.)

Man mag jedoch in guten Treuen über diese Armee tendenziell auch anders denken: die Büezer, welche den unsäglich preussischen Drill im Militär erdulden mussten, werden Oberstkorpskommandant Wille kaum einen «Soldatenerzieher» genannt, sondern vermutlich einen wüsten, eventuell juristisch fassbaren Ausdruck gebraucht haben. Und es ist auf dem Hintergrund von neueren geschichtlichen Erfahrungen durchaus möglich, dass eine Offizierskaste vor allem ihre Spezialinteressen vertritt, welche mit dem Nationalinteresse nicht identisch sind. So waren die französischen Generäle Challe, Salan, Jouhaud, Zeller, die kurz vor dem Ende des Algerienkrieges gegen die Republik putschten, bestimmt auch gute «Soldatenerzieher» (das heisst Soldatenschleifer) mit unzweifelhaften Meriten gewesen – und trotzdem musste de Gaulle sie dann als Verräter einsperren. Bei Ulrich Wille sehe auch ich keine landesverräterischen Motive. Aber ich sehe sie nicht deshalb nicht, weil der Korpskommandant Soldatenerzieher gewesen ist …

In jedem Adjektiv, das ein Historiker benützt, spiegelt sich also die Tendenz, und auch in den Substantiven. Und die wollen wir ihm nicht ankreiden und halt nur hoffen, dass er die andern Historiker nicht im abwertenden Sinne «tendenziös» nennt.

PS: Weitere Notizen zur schriftl. und mündlichen Überlieferung: «Frau Arnold reist nach Amerika».

Die beste Zigarette seines Lebens

Schläpfer ist als fünftes von sieben Kindern einer Familie im Aargauischen geboren, im schönen Bauerndorf Oettingen* * Orts- und Familiennamen wurden in den meisten Fällen verändert.. Die Gemeinderatskanzlei von Oettingen gibt folgende Auskunft zuhanden des Grossrichters der 8. Division: «Obgenannter Schläpfer Johann ist bei seinen Eltern wohnhaft. Bis heute ist über dessen Lebensweise nichts Nachteiliges bekannt. Dessen Eltern besorgen das Schulhaus, und Vater Schläpfer ist nebst dem Strassenarbeiter. Dieselben wie auch der Sohn Johann sind vermögenslos und sind unbedingt auf ihren Verdienst angewiesen. Die Familie ist finanziell immer etwas knapp. Immerhin ist bei denselben in dieser Richtung nie etwas Unregelmässiges vorgekommen. Bei Johann Schläpfer handelt es sich um einen Mann, der bestrebt ist vorwärtszukommen. Schliesslich ist noch zu bemerken, dass der Angefragte gerne viel redet, so dass man seinen Aussagen nicht immer vollen Glauben schenkt. 3. März 1942. Die Gemeinderatskanzlei.»

Johann Schläpfer war bestrebt vorwärtszukommen. Er besuchte zwei Jahre lang die Sekundarschule in der nahen Kantonshauptstadt, machte ein Welschlandjahr, beides war für den Sohn des Strassenputzers nicht selbstverständlich. Dann musste er verdienen, um Eltern und Geschwister zu unterstützen. Für eine richtige Zahnpflege war in der Familie nicht genügend Geld vorhanden, Johann hatte mit 21 Jahren schon ein künstliches Gebiss. Ein Gefängnisaufseher erinnert sich an dieses Detail, weil er ihm am Abend vor der Hinrichtung sagte: Morgen musst du auf die Zähne beissen, worauf Johann sagte: Das kann ich leider nicht. Weil Johann Schläpfer sofort verdienen musste, war er immer in untergeordneten Stellungen tätig, Hilfsbuchhalter, Hilfsmagaziner, Hilfsbürolist, Hilfsarbeiter. Eine Lehre lag nicht drin. Kurze Zeit arbeitete er als Bürokraft in der Chemikalienhandlung Zuppinger in Oettingen. Der alte Zuppinger sagt heute über Johann Schläpfer: Er war nicht einmal fähig, einen Frachtbrief korrekt auszufüllen, der Johann war sicher kein grosser Spion, aber irgendwann hat man ja anfangen müssen mit den Erschiessungen, obwohl man vielleicht auch an einem andern Ort hätte anfangen können, der Bundespräsident von damals war auch nicht der Sauberste gewesen. Im Dorf habe das Todesurteil nicht besonders viel Aufsehen erregt, in der struben Zeit damals sei das Ereignis in den Kriegsmeldungen untergegangen.

Kurz vor dem Krieg wurde Schläpfer stellungslos, von Zuppinger wegen mangelhafter Leistungen entlassen. Deshalb habe er Freude am Militär gehabt, sagt die Schwester Frieda, die noch heute in Oettingen lebt. Das Militär bot ihm Aufstiegsmöglichkeiten und eine Sicherheit, die er im Zivilleben nicht hatte. Er rückte in eine Verpflegungsabteilung ein und konnte die Fourierschule besuchen, allerdings nur als Magazinfourier. Die Schwester lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen in der alten Schläpferschen Wohnung, wo sich seit dem Aktivdienst nicht viel verändert hat. Sie bittet inständig, in Oettingen um Himmels willen nicht nach ihrem verstorbenen Bruder zu forschen, sie würde es nicht ertragen, wenn wieder «davon» gesprochen würde, sie sei sonst mit den Nerven schon ganz unten. Der Vater sei damals aus Gram über die Schande gestorben, bald nach der Erschiessung. Er habe den letzten Rappen dem Advokaten Sonderegger gebracht. Es sei ihnen damals vorgekommen, als ob der Johann mit einem Stein am Hals im Meer versenkt worden sei, er sei einfach verschwunden. Die Familie habe keine Akten gesehen und gar nicht richtig gewusst, was eigentlich passiert sei. Sie seien gänzlich ohne Protektion dagestanden, und die Richter werden gedacht haben: Das ist nur ein Arbeitersohn, den nehmen wir jetzt.

Es gibt einen Brief von Johann aus dieser Zeit, der in der Untersuchungshaft geschrieben wurde: «Meine lieben Eltern und Geschwister! Ich muss zur Feder greifen um einige liebe Worte mit Euch meine Lieben zu berichten. (…) Wie geht es Euch? Ich hoffe gut und es seien alle gesund. Die Behandlung und die Kost hier sind gut, aber wisst ich habe immer so ein furchtbares Heimweh nach Oettingen. Ich bin durch einen Kameraden in eine sehr unangenehme Sache verwickelt. Ich kann Euch nicht schreiben was es ist. (…) Ich weiss nur dass es überhaupt keine Kameraden gibt, auch im Militärdienst nicht. Jeder schaut den andern wenn möglich ins Unglück zu stürzen. Ja nun, es ist jetzt schon so. Hoffen wir dass die ganze Sache doch nicht zu schlimm werde. Ich habe Gottvertrauen und bete viel und ich bitte Euch betet recht viel für mich damit die Sache gut gehe. Ich wünsche Euch allen meine Lieben eine schöne Ostern und ganz besonders meinem lieben Mueti und dem lb. Vater und bitte Euch nochmals betet für mich, damit ich nicht ganz unglücklich werde. Jetzt eine Bitte. Sendet mir Wäsche und zwar: 1 Hemd (nur ein älteres), 2 Paar Socken, und ein Nastuch. Damit ich Euch die schmutzige Wäsche bald wieder zustellen kann, so sendet mir alles in einem Schachteli. Sendet mir noch einen alten Kamm, wenn es auch nur ein Stück ist von einem Kamm. Ich musste meinen bei der Verhaftung abgeben und habe jetzt keinen, ich habe mich noch nie gekämmt. Johann.»

Vor seiner Verhaftung war Schläpfer im Militär recht glücklich gewesen, er hatte endlich eine feste Stelle und blühte auf. Nur der Urlaub machte ihm Sorgen, da war er arbeitslos. Deshalb verdingte er sich in den Militärferien im Zivilverhältnis als militärische Bürohilfe, bezog vom 3. Armeekommando einen Monatslohn von 320 Fr., wovon er den Eltern 150 Fr. ablieferte und ausserdem für seine Geschwister etwas Sackgeld beisteuerte. Sein Urlaubsvorgesetzter war mit «seinen Leistungen und seiner Führung ausserordentlich zufrieden, und können wir auf Grund dieser Tatsache Herrn Schläpfer für jede einschlägige Stelle, die sein Fach betrifft, nur bestens empfehlen». Als Schläpfer später in den Geruch des Landesverrats kam, lautete das militärische Führungszeugnis seines Kompaniekommandanten Rupp ganz anders: «Charakter: Jung und unfertig. Dienstliche Führung: Unzuverlässig. Eignung: Unselbständig. Disziplinarstrafen: 1941 drei Tage scharfen Arrest wegen Alkoholgenusses während der Arbeitszeit. Signiert: Hauptmann Rupp, Verpflegungsabt. 9.» In der Verpflegungsabteilung 9 hatte Schläpfer bei seinen Kollegen einen guten Ruf, er war als hilfsbereit bekannt.

 

Schläpfer befreundete sich schon in den ersten Monaten des Aktivdienstes mit dem Fourier Zaugg. Dieser sei immer «gut bei Kasse» gewesen, was auf den bedürftigen Schläpfer Eindruck machte. Auch habe er immer sehr hübsche Freundinnen gehabt, während Schläpfer auch in dieser Beziehung nicht viel Erfolg hatte. Als nun Schläpfer wieder einmal Dienst hatte im Minenbüro, wo die Pläne für alle Sprengobjekte der Innerschweiz ausgearbeitet wurden, fragte Zaugg ihn beiläufig: Wenn es jetzt «klöpfen» würde, ob dann die Sprengobjekte geladen seien? Schläpfer antwortete, seines Wissens nicht. Im Laufe der Zeit kam Zaugg dann noch mit weiteren Fragen betreffend Munitionsdepots, Sprengobjekte und Truppenstandorte, auch die Zusammensetzung der Sprengstoffe Trotyl und Chlorat interessierte ihn. Die gewünschten Informationen lagen offen herum auf den Pulten des Minenbüros, und Schläpfer wollte seinem Freund den Gefallen gern tun. Er überreichte ihm einige handgeschriebene und maschinengeschriebene Zettel, ohne Geheimnistuerei, manchmal in einem Restaurant, manchmal auf dem Bahnhofperron, jedenfalls ziemlich naiv. Dafür bezog Schläpfer von Zaugg insgesamt 150 Franken, die er aber später zurückzahlen wollte. Er habe das Geld lediglich bei Zaugg gepumpt, gab er zu Protokoll. Manchmal habe er die Informationen auch Zauggs Braut übergeben, als Belohnung durfte er dann ein wenig mit ihr ausgehen. Diese schöne Begleitung für einen Abend hat ihn immer ganz aufgestellt. Jedenfalls habe er bei der ganzen Sache nicht recht gewusst, dass es um Spionage gegangen sei, er habe gar nichts dahinter vermutet. Unter Fourieren, die ja öfter unterwegs waren, habe man sich gern mit Angaben über Truppenstandorte und andern geographischen Hinweisen ausgeholfen. Wenn es ihm ums Geld gegangen wäre, so hätte er vielleicht 4000 bis 5000 Franken verlangt, und dann wäre ihm finanziell geholfen gewesen. Politische Interessen habe er auch nicht, die diesbezügliche Einstellung des Zaugg sei ihm unbekannt gewesen. Jedoch «jetzt ist mir klar, warum Zaugg ein so guter Kamerad zu mir war, damit er mich ins Unglück stürzen konnte und unser liebes schönes Vaterland verraten. Nie hätte ich an einen Verrat meines schönen Vaterlandes gedacht. Meine finanziellen Verhältnisse sind nicht so gross …, aber nicht im geringsten habe ich an Landesverrat gedacht.» Nachdem Schläpfer vom routinierten Untersuchungsrichter lange genug verhört worden und «weinend zusammengebrochen war und vor sich hin sinniert hatte», gibt er zu Protokoll: «Ich wusste, dass ich einen Verrat militärischer Geheimnisse mit der Abgabe der Auskünfte an Zaugg begangen habe. Ich habe einfach zu wenig überlegt …» Dieses Geständnis wurde später vom Divisionsgericht so interpretiert, dass Schläpfer «objektiven und subjektiven Landesverrat» betrieben habe. Schläpfer hat dieses Geständnis widerrufen, was aber keinen Eindruck auf das Gericht machte. Der Auditor (= Staatsanwalt) beantragte, ihn zum Tode und zu den Kosten zu verurteilen; eventuell zusätzlich zur Degradation, zum Ausschluss aus dem Heer und zu zehn Jahren Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit …

Die Meinung der militärischen Experten über den Stellenwert der verratenen Objekte war geteilt. Major Vontobel, im Zivilberuf Bauingenieur, sagte: «… Menznau ist ein Armeedepot, von dem übrigens jedes Kind Kenntnis hat … Das Chlorat ist zusammengesetzt aus 90 Prozent Kalium oder Natriumchlorat und 10 Prozent Parafin … Jeder Mineur sollte die Zusammensetzung wissen. An der Instruktion wird das mitgeteilt. Das gehört zu Waffenlehre und Sprengstoffkenntnis.» Der Oberstleutnant Troxler war anderer Ansicht: «Der Landesverrat beginnt mit der unbekümmerten ersten Diskussion über militärische Belange mit unbekannten Dritten, er steigert sich zur bewussten Bekanntgabe gleicher Tatsachen an Drittpersonen, die als Agenten oder Vertreter fremder Nachrichtendienste erkannt sind, und gipfelt in der Entgegennahme von Entschädigungen für solche Dienstleistungen … Versetzen Sie sich einen Augenblick in den Gedankenkreis des Objektchefs, dessen Name nebst andern auf einer Liste gegen ein paar lumpige Franken verschachert wurde, damit ihn gegebenenfalls irgendein anderer verräterischer Schurke vor Erfüllung seiner soldatischen Aufgabe hinstrecken könne aus Deckung und Hinterhalt, dann werden Sie leicht ermessen können, was er von Ihrem Richtspruch erwartet.»

Das Divisionsgericht 9 «erkannte mit Urteil vom 25. Sept. 1942 Schläpfer der wiederholten Verletzung militärischer Geheimnisse schuldig und verurteilte ihn, gestützt auf Art. 2 Ziff. 1 und 8, 3 Ziff. 1, 218, 86, 106, 27, 49 MStrG, Art. 6 der Verordnung des Bundesrates vom 28. Mai 1940 betr. Abänderung und Ergänzung des MStrG, 1. zum Tode durch Erschiessen, 2. zu den Verfahrenskosten, inbegriffen eine Gerichtsgebühr von 100 Fr., zusammen 549.75 Fr.» In der Urteilsbegründung heisst es unter anderem: «… Aber auch subjektiv wiegt das Verbrechen nicht weniger schwer: Schläpfer hat als Fourier eine vermehrte militärische Ausbildung genossen, und er hat den von ihm geleisteten Fahneneid auf das schändlichste gebrochen. (…) Zu diesem Entscheide gelangt das Gericht nicht etwa, um einer vorhandenen Strömung im Volke zu willfahren, sondern weil es der Auffassung ist, dass die Ausfällung der Todesstrafe im Interesse der Armee und Unabhängigkeit des Landes nicht umgangen werden kann.»

Dem Zivilverteidiger Schläpfers, Kuno Sonderegger, wurden zwei Tage eingeräumt zur Begründung der Kassationsbeschwerde. In einem Brief, der an den Grossrichter der 9. Division gerichtet ist, begründet Sonderegger die Beschwerde. Erstens sei ihm nur ein Auszug aus den Akten freigegeben worden, damit würden wesentliche Vorschriften des Verfahrens verletzt. Zweitens sei Schläpfer offensichtlich der Verführte gewesen, seine Kenntnisse über die Verwendung der von ihm gemachten Angaben seien völlig unabgeklärt, und er habe sein Geständnis aus glaubhaften Gründen widerrufen. Eindeutig stärker belastete Angeklagte seien zu milderen Strafen verurteilt worden. Eine Verletzung der gesetzlichen Gleichheit beweise auch der Fall eines Hauptmanns, dessen Name der Öffentlichkeit nicht bekannt wurde. Drittens habe Schläpfer in einer unklaren Ideologie gehandelt, wie solche im politischen Leben häufig seien. Viertens könne Schläpfer höchstens nach Kenntnis der Tatbestände, die ihm erst in der Untersuchung klar geworden seien, einsehen, dass seine Handlungen in Wirklichkeit Landesverrat waren.

Die Kassationsbeschwerde ging mit einem Schreiben des Grossrichters, der Nichteintreten empfahl, an den Oberauditor der Armee nach Bern und von dort mit einem Schreiben des Oberauditors, der Nichteintreten empfahl, an den Präsidenten des Militärkassationsgerichts. Der Oberauditor schrieb unter anderem: «… Vergleiche mit den Straftaten anderer Verurteilter können im Kassationsverfahren, das lediglich Rechtsüberprüfung ist, keine Berücksichtigung finden. Die Beschwerde des Fouriers Schläpfer ist aus diesen Gründen in vollem Umfang abzulehnen.»

Das Kassationsgericht lehnte die Beschwerde in vollem Umfang ab. Jetzt musste Schläpfer in vollem Umfang den Tod erwarten. Nur die Bundesversammlung stand noch zwischen ihm und den Henkern. Aber sie war eben in die Sommerferien gegangen, als das Urteil eingetroffen war. Also musste Schläpfer auf die Herbstsession warten, wo er auf der Traktandenliste stand. Auf Antrag der Begnadigungskommission der Vereinigten Bundesversammlung lehnte die Vereinigte Bundesversammlung in einer Geheimsitzung (geheim wie die Militärgerichtsverhandlungen) das Gnadengesuch Schläpfers ab. Es war soweit. Nach der Vereinigten Bundesversammlung kommt nichts mehr.

*

In seiner Villa über dem Vierwaldstättersee sitzt der pensionierte Staatsanwalt Dr. Schoch und erklärt bei einem kühlen Bier, wie korrekt und sorgfältig er damals richtete, zusammen mit den sechs andern Divisionsrichtern. Schoch war damals Sekretär der Staatsanwaltschaft in einem innerschweizerischen Kanton, im Militär Wachtmeister. Die Divisionsgerichte waren stets aus drei Offizieren und drei Unteroffizieren zusammengesetzt, dazu der Grossrichter. Fünf von den Richtern waren gelernte Juristen, damit habe eine besondere Garantie bestanden für ein sachgemässes Urteil. Die Voruntersuchung sei sehr speditiv erledigt worden von Hauptmann Mahler, im Zivilleben Bezirksanwalt in Zürich. Die polizeilichen Ermittlungen seien bei der Heerespolizei auch in guten Händen gewesen. Die Vorakten sind nur dem Grossrichter, dem Auditor und den Anwälten, nicht aber den sechs übrigen Divisionsrichtern bekannt, damit sie unbefangen bleiben. Da es im Militärgerichtsverfahren keine Appellation, sondern nur die Nichtigkeitsbeschwerde gebe (wenn z.B. Begriffe zu eng oder falsch gefasst wurden), hätten sie ihre Aufgabe besonders ernst genommen. Vier Tage hätten sie gebraucht bis zum Todesurteil. Am ersten Tag instruierte der Grossrichter den Prozess, legte Akten vor, vernahm Zeugen. Am zweiten Tag konnten die sechs Divisionsrichter durch den Mund des Grossrichters Fragen stellen lassen. Am dritten Tag kamen die Verteidiger zu Wort (Schläpfer und Zaugg wurden gemeinsam abgeurteilt, dazu noch einige leichtere Fälle mit langjährigen Zuchthausstrafen, alles in vier Tagen erledigt). Am vierten Tag war Urteilsberatung, am fünften Tag die Urteilseröffnung. Von sieben Richtern müssen sechs für den Tod stimmen, damit ein Todesurteil zustande kommt. Dr. Schoch, ein «ausgesprochener Strafrechtler», wie er sagt, hat in beiden Fällen für den Tod gestimmt. Das würde er auch heute wieder tun. Die Schwere des Falles sei ausschlaggebend gewesen, aber auch die «Schimpflichkeit des Delikts». In jener historisch-konkreten Situation sei kein anderes Urteil möglich gewesen. Das Urteil habe den Zweck der allgemeinen Abschreckung und der Sühne gehabt. Schweres Urteil, aber notwendig. Die heutige Tendenz gehe darauf, nur den Angeklagten zu sehen, damals habe es aber noch ein Staatsethos gegeben. Beim Ausbruch eines neuen Krieges würden dieselben Strafen wieder verhängt, und das sei richtig. Die Gerechtigkeit solle nicht emotional vor sich gehen. Im ganzen Prozess habe alles gut funktioniert, exakte Anklage des Auditors, prima Verteidigung, ein Musterprozess. Die Angeklagten? Zaugg ein vitaler Typ, intelligent, aber niedergeschlagen. Schläpfer eher ein Männchen als ein Mann, eine halbe Portion. Hätte Schoch auch für den Tod gestimmt, wenn er anschliessend selbst auf Zaugg und Schläpfer hätte schiessen müssen? Das sei eine dumme Frage, meinte Dr. Schoch.

*

Im Bahnhofbuffet Solothurn ein Gespräch mit Alt-Ständerat Dr. Pfenninger, der damals zur Begnadigungskommission der Bundesversammlung gehörte. Vierzehn Mitglieder hatte die Begnadigungskommission, und etwa die Hälfte davon war auch im Zivilleben für die Todesstrafe. In normalen Zeiten war das keine wichtige Kommission, deshalb wurden auch immer junge Frischlinge hineingewählt. Sie hatte meist Schmuggler zu begnadigen, die zu hohen Geldstrafen verurteilt waren. Dann plötzlich der Bundesratsbeschluss über die Todesstrafe, und über Nacht waren sie zu einer wichtigen Kommission geworden. Pfenninger war überdies in einem Divisionsgericht tätig, welches Urteile gegen Spionage fällte, aber nie über zwanzig Jahre Zuchthaus hinausging. Im Militär führte er als Oberst eines der neugeschaffenen Flabregimenter. Pfenninger hat die Mutter eines Landesverräters gut gekannt, dessen Fall ihm zur Begutachtung vorgelegt wurde.

Wie in allen Fällen hat er auch damals die Begnadigung abgelehnt, hingegen hat er den Delinquenten zwei Tage vor der Hinrichtung noch in der Festung Thorberg besucht. Bundesrat Kobelt habe ihm zu diesem Zweck eigens sein Dienstauto mit Chauffeur zur Verfügung gestellt. Der Sohn dieser Mutter, einer Gemüsefrau, bei der er jeweils nach der Arbeit eingekauft habe, sei ins Besuchszimmer der Festung geführt worden, der Direktor habe sie einen Moment allein gelassen, und der damals dreissigjährige Mann habe sofort zu heulen begonnen und immer wieder gesagt: Ich möchti läbe, ich möchti läbe, er sehe ja seine Dummheit ein und sei reuig. Pfenninger habe aber kein Hehl daraus gemacht, dass er seine Begnadigung bereits abgelehnt habe und die Vereinigte Bundesversammlung in Kürze dem Kommissionsantrag folgen werde. Der junge Mann habe immer nur wieder gesagt: Ich möchti läbe, er höre heute noch seine Stimme, das Wasser sei ihm heruntergelaufen, er war ein etwas beschränkter Bursche, es habe überhaupt eine Mehrheit von einfachen Burschen unter den 17 Erschossenen gehabt. Pfenninger habe ihm nur gesagt, er hätte sich vorher besinnen sollen, statt solche Sachen zu machen, und auf der Schwelle habe er sich nochmals umgedreht und ihm geraten, jetzt müsse er halt tapfer sein. Dieser Delinquent war übrigens ein Zivilist, die Militärgerichte hatten auch Jurisdiktion über landesverräterische Zivilisten.

 

Die Begnadigungskommission habe jeweils knapp einen Tag gebraucht für die Beurteilung der einzelnen Fälle, ab 9 Uhr morgens konnten sie die Akten einsehen, die Sitzung war dann um 4 Uhr nachmittags. Sie hätten die Akten aber oft kaum mehr richtig studiert, weil sie sich sagten: Wir müssen kein Urteil fällen, sondern nur begnadigen oder nicht.

Da die Grossrichter ihre Sache immer sehr ernst nahmen und man sich auf ihre Urteile verlassen konnte, sagt Pfenninger, war die Arbeit der Begnadigungskommission dadurch sehr erleichtert. Während der sehr kurzen Sitzungen im militärisch bewachten Zimmer 3 sei die Diskussion kaum benützt worden, der Präsident habe jeweils referiert und die Begnadigung immer abgelehnt, und dann hätten sie sich immer fast einstimmig seinen Ausführungen angeschlossen. Manche hätten Skrupel gehabt, zum Beispiel er selbst und auch Nationalrat Killer, weil sie vor dem Krieg noch Vorträge gegen die Todesstrafe gehalten hätten, aber die harte Zeit habe einfach ein Umdenken verlangt, es wäre noch viel mehr Landesverrat vorgekommen ohne diese Abschreckung. Weshalb soll die Todesstrafe im Krieg eine abschreckende Wirkung haben, wenn sie die im Frieden nicht hat? Darauf kann Pfenninger auch nicht antworten, und er räumt schliesslich ein, dass es mehr um die Vernichtung des räudigen Schafes, um den radikalen Familienausschluss und um Rache gehe als um Abschreckung. Man habe einfach eine verdammte Wut gehabt gegen diese Verräter, die den aufopferungsvollen Wehrmännern quasi in den Rücken schossen. Gewiss, von einer bestimmten gesellschaftlichen Stufe an aufwärts nenne man dieselbe Handlungsweise nicht mehr Landesverrat, sondern Politik, zum Beispiel der Anpassung der Schweiz ans Dritte Reich, aber diese Überlegungen habe man damals viel zu wenig angestellt. Und er gebe ja zu, dass die öffentlich verlesene Anpassungsrede des Bundesrates Pilet-Golaz die Demokratie viel gründlicher unterwandert habe als ein heimlich begangener Verrat. Aber Pilet-Golaz sei eben juristisch nicht zu erfassen gewesen.

Pfenninger, der zur «Aktion Nationaler Widerstand» (eine Résistance-Bewegung) gehörte, glaubt, dass die Deutschen die Schweiz auch ohne Landesverrat innert kürzester Zeit überrannt hätten, wenn sie wirklich gewollt hätten. Aber damals hätten alle die Hinrichtungen gebilligt, Soldaten, Offiziere, Zivilisten, durchs Band habe Zustimmung geherrscht im Volk* * Das stimmt nicht ganz. Wie mir Hans Oprecht erzählte, waren die Sozialisten der welschen Schweiz immer dagegen., man habe die Hinrichtungen «gebraucht». Und man habe damit demonstriert, dass die Zeiten halt ernst waren. Die Landesverräter hätten übrigens immer ihre Vergehen gestanden, zur Entschuldigung hätten sie etwa gesagt: Diesen oder jenen verratenen Flugplatz habe jeder Zivilist von der Strasse aus sehen können. Die Offiziere unter ihnen hätten es mehr aus ideologischen Gründen getrieben (ein Leutnant, ein Oberleutnant, ein Major), die Soldaten mehr für die Aufbesserung des Taschengeldes. Pfenninger würde heute eher zur Begnadigung neigen, in manchen Fällen. Übrigens die Gemüsefrau habe die Erschiessung ihres Sohnes besser als erwartet aufgenommen, er habe weiterhin bei ihr eingekauft.

*

Im zugerischen Baar geht in einer Studierstube der Kaplanei der Pfarr-Resignat und weiland Feldprediger Stapfer auf und ab mit dem Brevier in der Hand. Ein Stich von Dürer im Treppenhaus: Ritter, Tod und Teufel. Der pensionierte Feldprediger geht schon recht gebückt und eingefallen, aber wenn er von der Armee spricht, gibt er seiner Gestalt einen Ruck, dass es knackt. Wenn er von seinen Feldpredigerkollegen spricht, sagt er: Kamerad Müller, Kamerad Meier, Kamerad, Kamerad. Das tönt fast wie «Genosse» auf französisch: camarade. Er hat nicht mit Zaugg und Schläpfer zu tun gehabt, sondern mit zwei Vierundzwanzigjährigen, die im Zürcher Oberland erschossen wurden. Aber es komme nicht drauf an, die feldpredigerische Betreuung sei immer dieselbe. Die beiden wurden 1944 erschossen, als die Schweiz nicht mehr bedroht war. Für den einen der beiden hat sich ein sozialdemokratischer Ständerat eingesetzt: Er sei ein bisschen jung zum Sterben.

Stapfer hat nach der Exekution in den Feldpredigerschulen Vorträge gehalten über die seelsorgerische Betreuung von Todeskandidaten, welche Vorträge immer auf ein lebhaftes Interesse seiner Kameraden gestossen seien. Es seien dumme Buben gewesen, die von den Deutschen eingewickelt wurden, beide aus einfachen, zerrütteten Familien. Er als Feldprediger habe über die Berechtigung dieser Todesurteile nicht zu urteilen, sondern nur dafür zu sorgen gehabt, dass die beiden anständig aus der Welt gingen. Die beiden hätten dann ihre Sache recht gemacht, es sei eine saubere Exekution gewesen. Zwar hätten sie bis zum letzten Moment gehofft, eine deutsche Invasion werde sie kurz vor der Exekution befreien, aber dann assen sie ruhig ihre Henkersmahlzeit, nämlich Habersuppe, ein Stück Chäs und gschwellti Härdöpfel. Darauf die Sterbegebete, laut rezitiert: Befreie, o Herr, die Seele deines Dieners, wie du Lot befreit hast aus Sodoma und aus den Flammen des Feuers; und wie du die selige Jungfrau und Märtyrin Thekla von drei schrecklichen Peinen befreit hast, so befreie gnädig die Seele dieser deiner Diener, amen. Sie seien übrigens früher Messdiener gewesen, Ministranten. Darauf haben die beiden Kandidaten Abschiedsbriefe an ihre Schätze geschrieben. Die Exekution fand abends vor Sonnenuntergang statt, während gewöhnlich das Morgengrauen bevorzugt wird. Stapfer legt zwei Dokumente auf den Tisch, einen dienstlichen Befehl seines damaligen Obersten Thoma: «Sie haben sich mit den Angehörigen in Vbg. zu setzen und abzuklären, ob Sie die Leichen übernehmen wollen. Die Leichen werden in plombierten Särgen transportiert, welche nicht geöffnet werden dürfen.» Ein anderer Brief, zwei Tage nach der Exekution geschrieben: «Herr Hauptmann! Die Tatsache, dass die beiden Verurteilten ihren Tod ruhig und gefasst erwarteten, hat bewiesen, dass es Ihnen gelungen ist, ihre schwere Aufgabe voll befriedigend zu erfüllen. Ich spreche Ihnen dafür meinen Dank und meine Anerkennung aus. Oberst Thoma. ps: Ihre Dienstleistungen wollen Sie sich bitte von meinem Büro auszahlen lassen.» Zwischen den beiden Briefen liegt die Exekution. Eine der Mütter sei am Tag der Hinrichtung nach Einsiedeln wallfahrten gegangen, und ein Vater habe die Öffnung des plombierten Sarges verlangt, weil er die neuwertigen Schuhe seines Sohnes haben wollte. Daraus kann geschlossen werden, sagte der Feldprediger, dass es komische Leute waren.

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