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Überwachen & Bestrafen (I)

Es ist immer wieder zum Staunen, wie wenig die brillanten, penetranten, umstürzlerischen und genussreichen Schriften des berühmten Historikers* * Foucault möchte, wie er mir in einem Gespräch 1971 versicherte (TAM Nr. 12/1972), ausdrücklich nicht als Philosoph gelten, obwohl er in Frankreich meist als solcher betrachtet wird. Auf die Frage, worin die «Arbeit der Philosophen» bestehe, sagte er: «Ich glaube, dass die Philosophen nicht arbeiten» und «Die Philosophie ist eigentlich schon abgeschafft, sie ist nur noch eine kleine, vage Universitätsdisziplin, wo die Leute von der Totalität der Entität sprechen, von ‹écriture›, von der ‹materialité du signifiant› und so ähnlich.» Michel Foucault im deutschen Sprachraum durchgedrungen sind. Hängt's am Französischen, dessen Kenntnis mehr und mehr vom Englischen verdrängt wird? Hängt's an den deutschen Übersetzungen, die sehr wenig von Foucaults «Lust am Text» verstrahlen?** Da hat mir kürzlich ein bekannter Psychiater, den die Foucaultschen Untersuchungen über die Geschichte des Wahnsinns nicht kaltlassen dürften, kopfschüttelnd gesagt: «Foucault? Nie gehört. Kenne die Pariser Szene nicht.» Und ein notorischer Linguist, voll mit Roman Jakobson beschäftigt, heller Kopf, aber ziemlich auf den angelsächsischen Raum fixiert, hatte auch noch keine Zeile des französischen Professors und Agitators zu sich genommen. ** Foucaults kartesianische und zugleich barocke Sprache ist kaum übersetzbar, schon gar nicht von Übersetzern, die im Akkordsystem und schlecht bezahlt sich abrackern müssen. Die Irreführung des deutschen Lesers beginnt schon bei den Titeln. So wurde «Histoire de la Folie» im Suhrkamp Verlag publiziert als «Wahnsinn und Gesellschaft» – ein Titel, der nach Soziologie und nicht mehr nach Geschichte riecht wie das französische Original.Und ach, sogar ein Historiker, etabliert, renommiert und installiert auf einem Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Zürich, ein Mann in den besten Forschungsjahren und scharf auf alle erklecklichen Neuerscheinungen seiner Domäne, hatte den Namen des grossen Kollegen F. weder in sein Bewusstsein noch in seine Kartei aufgenommen.

Bei manchen Philosophen hierzulande gilt Michel Foucault als Historiker und deshalb als Unphilosoph, und bei manchen Historikern als Philosoph und deshalb als Unhistoriker. Man kann ihn nicht richtig in die bestehenden Schubladen versorgen, diesen Herrn Professor, der zwar anspruchsvolle und eindringliche Bücher schreibt und mit fünfundvierzig Jahren auf der Spitze der akademischen (und damit gesellschaftlichen) Pyramide angelangt ist, gibt er doch seit 1970 Vorlesungen am «Collège de France», wo einige der besten Köpfe aus ganz Frankreich und aus allen Fächern zentralisiert sind (Lévi-Strauss, Jacques Berque, Le Roy Ladurie usw.) – und der trotzdem auf die Strasse geht, agitiert, Flugblätter verteilt, von der Polizei abgeführt wird, am Rande oder jenseits der bürgerlichen Legalität funktioniert, der den Justizminister Pleven öffentlich einen Lügner genannt hat, weil er die Zustände in den Gefängnissen verschleierte, dieser Foucault, der höhnisch und wütend auf seinen Staatspräsidenten losging: Pompidou habe eine «guillotine électorale», eine Wahlguillotine, betätigt, als er Buffet und Bontemps* * Buffet und Bontemps wurden nach der Gefängnisrevolte und dem Geiselmord von Clairvaux zum Tode verurteilt. Präsident Pompidou lehnte die Begnadigung ab. Dazu das Buch von Buffets Anwalt Thierry Lévy: «L'animal judiciaire». aufs Schafott schickte, er habe sich Wählerstimmen sichern wollen, indem er den Blutdurst der aufgeputschten Kleinbürger stillte. (Wer kann sich einen solchen Professor bei uns vorstellen?)

Dabei wird man, vor allem seit dem Erscheinen von «Surveiller et punir», aber auch schon seit «Histoire de la folie» und «Pierre Rivière» ohne Übertreibung sagen dürfen: Das Gefängnissystem in den industrialisierten Gesellschaften, die Mechanismen der subtilen oder grobschlächtigen Dressur des Menschen begreift man so wenig, wenn man Foucault nicht liest, wie man den Klassenkampf kaum versteht, wenn man Marx nicht studiert, oder wie man vom Unterbewusstsein keine rechte Ahnung hat, wenn man Freud ignoriert. Es gibt solche Bücher, um die man gar nicht herumkommt, Brenngläser, welche die Strahlen einer Epoche bündeln und im morschen Gebälk der Humanwissenschaften (wie sagt man «sciences humaines» auf deutsch?) zündeln. Jeder Filmer, der Gefängnisse filmt, jeder Journalist, Künstler, Gefangene, Politiker, der mit Käfigen und verwandten Institutionen und mit der Käfighaltung von Menschen zu tun hat und die Zerstörung aller Käfige und käfigähnlichen Einrichtungen wünscht, wird sich im Werkzeugkasten von Michel Foucault seine Instrumente holen müssen.

Das ist jetzt ohne weiteres möglich, denn sein letztes Buch ist äusserst leserlich geraten, nicht wie das neunmalkluge «Les mots et les choses» oder das hochgestochene «Naissance de la clinique», welche (für mich) in einem undurchdringlichen Stil geschrieben und ohne einen Diktionär des Strukturalismus nicht zu entziffern waren. Damit ist nicht gesagt, dass diese hermetischen Bücher keinen Sinn abgäben, doch waren sie so grausam hochkonzentriert, dass nur noch die Eingeweihten drauskamen. Übrigens will Foucault sich heute nicht mehr «Strukturalist» nennen lassen, er hat etwas gegen Etiketten. Wie Sartre, der auch kein Existentialist mehr sein wollte, als dieser Begriff sich abgewetzt hatte.

«Surveiller et punir» beginnt mit Bildern. Zwanzig Bildtafeln aus ganz verschiedenen Bereichen, manches scheint weit hergeholt. Es werden gezeigt: eine Anleitung für militärische Handgriffe aus dem «klassischen Zeitalter», anno 1666. Grundrisse einer Kaserne, 1719. Anleitungen für die korrekte Hand- und Körperhaltung beim Schreiben, 1760. Grundrisse von Spitälern. Anleitung für die korrekte Körperhaltung in den Schulen, 1818. Grundriss der Menagerie von Versailles. Zahlreiche Grundrisse, Aufrisse, Ansichten, Flugaufnahmen von Gefängnissen (seltsam verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Struktur einer Menagerie und der Gefängnisstruktur!). Abbildung eines Erziehungsheims, etwa 1840, wo die Zöglinge rechts sich eben in Reih und Glied aufgestellt haben, um auf ein Zeichen des Erziehers hin sich militärisch-sträflingsmässig-spitalhaft-schulisch-fabrikartig, auf eine genau regulierte, normierte, kodifizierte Weise, in die Hängematten zu schwingen, während die Zöglinge links aussen schon alle auf Befehl schlafen.

Damit sind wir mittendrin im Foucaultschen Generalthema, in der «grossen Einschliessung», «le grand renfermement». Die Geburt des Gefängniswesens aus dem Geist der Industrie hatte Foucault schon in seiner «Geschichte des Wahnsinns» trefflich-unübertrefflich analysiert, und in «Surveiller et punir» bohrt er weiter im gleichen Loch. Gefängnisse und gefängnishafte Einrichtungen werden von ihm als Resultat und zugleich als Bedingung der Frühindustrialisierung beschrieben. Während im Mittelalter die Bettler, Kranken, Vagabunden und Wahnsinnigen frei in der Gesellschaft zirkulierten, werden diese nichtproduktiven Elemente Ende 16./Anfang 17. Jahrhundert, bei Beginn des «klassischen Zeitalters», alle zusammen rübis und stübis eingeschlossen in Häusern, welche man je nach der Gegend «hôpital général» (z.B. die «Salpêtrière» in Paris), «Zuchthaus» oder «working house» nannte.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehen spezialisierte Einrichtungen; im Namen der angewandten Aufklärung trennt man jetzt die Wahnsinnigen, die Bettler, Kriminellen, Kranken voneinander und interniert sie gesondert in Absonderungshäusern: in Asylen, Armenhäusern, Gefängnissen, Spitälern. Nur noch verbrecherische Leute werden jetzt in eigentlichen Gefängnissen versorgt, aber zugleich beginnt sich nun der Organisationsmodus der Gefängnisse auf alle Institutionen zu erstrecken, «l'esprit carcéral», der Geist des Karzers, regiert und reguliert nebst den schon erwähnten Einrichtungen jetzt immer deutlicher auch die Fabriken, Schulen, Kasernen, Internate, Erziehungsheime. Die warenproduzierende Gesellschaft diszipliniert ihre Mitglieder, bringt ihnen genau abgezirkelte Handgriffe und Denkgriffe bei und macht den Menschen im Hinblick auf Funktionen rentabel, die er im undressierten Zustand nicht übernehmen würde. Die nicht arbeitenden Vagabunden kommen in Besserungsanstalten, die ungebärdigen Jünglinge in die Kaserne und anschliessend, flott abgerichtet, in die Fabriken usw. Den freiheitsdurstigen Kindern in der Schule, welche sich dort unschulisch-frech benehmen, kann man mit einer Verschärfung des Schulsystems drohen: «Du kommst in ein Erziehungsheim, wenn du nicht folgst», und im Erziehungsheim heisst es: «Du kommst ins Gefängnis, wenn du nicht parierst.» In der Schule kann es aber auch heissen: «Wenn du nicht genügend lernst, kannst du nicht promoviert werden, dann musst du in die Fabrik.»

So wirkt die oberste Stufe aller Einschliessungen, das Gefängnis, als regulativ-organisatorisches Prinzip auf alle unteren Stufen zurück, und so ist das Gefängnis nur die letzte Sprosse einer Leiter, nur ein Glied aus der Serie verwandter Institutionen und also nicht qualitativ verschieden von Kasernen, Heimen, Asylen, Schulen. Gefängnis als verschärfte Schule, Schule als gemildertes Gefängnis. Die Schraube kann beliebig angezogen werden, fast übergangslos mündet eine Institution in die andere, je nach Fügsamkeit oder Widerborstigkeit des zu dressierenden Erziehungsobjekts. (Wer je in einem Internat lebte, hat das besonders deutlich gespürt.) Hier liegt das Verdienst von Michel Foucault: er hat das Gefängnis historisch begriffen, nicht nur punktuell als einen isolierten Skandal, den man mit gutem Willen und ein bisschen Reformeifer abschaffen könnte, und schon ist die Gesellschaft wieder in Ordnung. Foucault denkt diachron durch fünf Jahrhunderte, und zugleich denkt er synchron im Kontext der Institutionen. Deshalb ist er auch kein oberflächlicher Reformist, der ein paar kosmetische Verschönerungen am Gefängniswesen anbringen möchte. Denn was nützt es, wenn die Gefängnisse in ihrer heutigen, relativ brutalen Form verschwänden und trotzdem in andern Institutionen etwas subtilere, aber um so perfidere Formen der Einschliessung und des «esprit carcéral» ins Kraut schiessen? Diese Überlegung hindert ihn übrigens nicht daran, sich heftig im Kampf gegen das französische Gefängnissystem zu engagieren, er arbeitet und agitiert in der «Groupe d'information sur les prisons» (gip), welche Bewegung vor allem darauf abzielt, den Gefangenen wieder zu jener Sprache zu verhelfen, die es ihnen im Gefängnis verschlagen hat. Die Sprache der Gefangenen aber heisst Revolte, bekanntlich. Debout, les damnés de la terre! Foucault will nicht die Interessen der Gefangenen vertreten, aber er freut sich, wenn die Gefangenen ihre eigenen Interessen vertreten.* * Foucault: «Was die Intellektuellen unter dem Druck der jüngsten Ereignisse entdeckt haben, ist dies, dass die Massen sie gar nicht brauchen, um verstehen zu können; sie haben ein vollkommenes, klares und viel besseres Wissen als die Intellektuellen; und sie können es sehr gut aussprechen. Aber es gibt ein Machtsystem, das ihr Sprechen und ihr Wissen blockiert, verbietet und schwächt. Ein Machtsystem, das nicht nur in den höheren Zensurinstanzen besteht, sondern das ganze Netz der Gesellschaft sehr tief und subtil durchdringt. Die Intellektuellen sind selbst Teil dieses Machtsystems; die Vorstellung, dass sie Agenten des ‹Bewusstseins› und des Diskurses sind, gehört zu diesem System. Heute kommt es dem Intellektuellen aber nicht mehr zu, sich an die Spitze oder an die Seite aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument ist: in der Ordnung des ‹Wissens›, des ‹Bewusstseins›, des ‹Diskurses›.» Das geschieht in Frankreich (und vielleicht auch anderswo) immer dann, wenn die Gefangenen ihre Wärter einschliessen und auf die Dächer steigen. Dann gibt es jeweils Reformen, die es vorher trotz allen Eingaben, Petitionen und Resolutionen nicht gegeben hat.

 

Was macht die Lektüre von «Surveiller et punir» so spannend? Dieser Stil, der gefangennimmt und zugleich befreit, bald warm und bald kalt, präzis und expressiv? Das ist Literatur, Wissenschaft, Pamphlet, Vergangenheitsreportage, Historiographie in einem. Der Stil kommt vom Inhalt, und den hat der Historiker Foucault zu einem guten Teil aus Dokumenten oder fast verschollenen Büchern gepflückt: Archivarbeit bringt sinnliche Sprache und hohe Anschaulichkeit, wenn sie einer praktiziert, der den lebendigen Kontakt mit Gefangenen hat. Der Klappentext, von Foucault geschrieben, lautet:

«Vielleicht schämen wir uns heute unserer Gefängnisse. Das 19. Jahrhundert war im Gegenteil stolz auf diese Festungen, die es am Rand und manchmal im Herzen der Städte erbaute. Es begeisterte sich an dieser neuen Milde, welche die Schafotte ersetzte. Das 19. Jahrhundert war beglückt, weil jetzt nicht mehr die Körper bestraft, sondern die Seelen korrigiert wurden. Diese Mauern, diese Riegel, diese Zellen versinnbildlichen ein Unternehmen der sozialen Orthopädie.

Wer stiehlt, wird eingekerkert; wer vergewaltigt, wird eingekerkert; wer tötet, ebenfalls. Woher kommt diese seltsame Praxis und das eigenartige Projekt: Einschliessung zwecks Erziehung, welches die Strafgesetzbücher der Neuzeit in sich tragen? Ein altes Überbleibsel der mittelalterlichen Verliesse? Eher eine neue Technologie: Die Vervollkommnung, vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, eines ganzen Arsenals von Prozeduren, mit denen man die Individuen überwachen, kontrollieren, messen, dressieren, sie zugleich gefügig und nützlich machen kann.

Überwachung, Übungen, Manöver, Noten, Ranglisten, Klassierungen, Examen, Registrierungen – eine ganz bestimmte Art der körperlichen Unterwerfung, eine Beherrschung der menschlichen Vielfältigkeiten und eine Manipulation ihrer Kräfte hat sich im Laufe des klassischen Zeitalters in den Spitälern, in der Armee, in den Schulen, Internaten und Manufakturen entwickelt: die Disziplin. Das 18. Jahrhundert hat ohne Zweifel die Freiheiten erfunden; aber es hat ihnen ein tiefes und solides Fundament gegeben – die disziplinäre Gesellschaft, zu der wir immer noch gehören. Das Gefängnis muss man wieder innerhalb der Entstehung dieser Überwachungsgesellschaft sehen. (…)»

Eine «ganz bestimmte Art der körperlichen Unterwerfung»? Das Kennzeichen der neuzeitlichen Zucht, sagt Foucault, besteht in der Unterwerfung der Körper, in der körperlichen Dressur, ohne dass die Körper von den Zuchtmeistern berührt oder gar beschädigt werden. Die Körper müssen ganz bestimmte Verrichtungen lernen, um rentabel zu sein, und weil der Körper ein Produktionsmittel geworden ist, wird er jetzt nicht mehr gezwackt und verstümmelt wie auf den Folterstätten des Mittelalters, sondern abgerichtet und dressiert. Via körperliche Dressur wird eine Fügsamkeit der Seele bewirkt, und die gefügige Seele wiederum macht auf die Länge sogar jede körperliche Dressur überflüssig.

Die Todesstrafe an sich betrachtet Foucault in diesem Zusammenhang als atypisch in der modernen Gesellschaft, ihre zivilisierte Form jedoch als typisch: während bis etwa zur Französischen Revolution die Hinrichtung oft eine Steigerung der vorgängigen Folterung war und den Höhepunkt der körperlichen Vernichtung darstellte (welche etappenweise vor sich ging), worauf dann eventuell noch die Verbrennung des toten Delinquenten und die Zerstreuung seiner Asche in die vier Winde folgte, ist die Todesstrafe seit dem 19. Jahrhundert in den industrialisierten Gesellschaften ein schneller, relativ schmerzloser Akt geworden: der Körper des Exekutanden wird bis zum letzten Moment und sofort nach dem letzten Moment respektiert, und die Exekution selbst ist ein möglichst kurzer Schnitt (wie bei der Guillotine) oder ein rascher Sturz (wie beim modernen Galgen). Der Körper des 1757 hingerichteten Mörders Damiens hingegen wurde noch langsam, festlich, öffentlich und grausam getötet: vier Pferde, eines pro Bein und Arm, rissen ihn auseinander, bis er zerrissen war, die Henkersknechte mussten mit Beilen und Messern noch etwas nachhelfen und die Gliedmassen anschneiden, welche nicht ohne weiteres nachgeben wollten – Foucault beschreibt's auf beinahe lustvolle Weise, d.h., er zitiert einen Augenzeugenbericht. Der Körper des Untertans gehörte im Ancien régime seinem König, und dieser konnte darüber verfügen, öffentlich: deshalb die eklatanten Hinrichtungsaufführungen vor dem ganzen Volk, ein blutiges Fest, welches die Gesellschaft für den ihr zugefügten Schaden entschädigte. Foucault nennt das «l'éclat des supplices», Glanz der Hinrichtungen.

Moderne Hinrichtungen passieren hingegen in aller Heimlichkeit, zur Stunde des Milchmanns in der Umfriedung von Gefängnissen oder abgelegenen Wäldern, im Beisein eines genau reglementierten und hierarchisierten Personenkreises, und gar nicht festlich, sondern amtlich-korrekt-reglementär. Man will dem Delinquenten nicht weh tun, man will ihm nur ganz schnell das Leben entziehen – eine Steigerung des Freiheitsentzugs. Der Körper des industrialisierten Menschen gehört dem Gesetz, ist etwas Abstraktes geworden. In ähnlicher Weise wird auch mit weniger gefährlichen Delinquenten verfahren: ihre Körper werden heute abstrakt durch ein Reglement verwaltet, in aller Heimlichkeit in Zellen eingeschlossen, abgesondert vom Volk, und nicht mehr öffentlich-konkret an den Pranger gestellt wie im Mittelalter. Der «éclat des supplices», die ins Auge springende Bestrafung des Mittelalters, wird ersetzt von totalen und nüchternen Einrichtungen der Neuzeit, «des institutions complètes et austères», wie eine Kapitelüberschrift lautet.

Surveiller et punir, überwachen und bestrafen, möglichst viel überwachen, damit möglichst wenig bestraft werden muss, Ökonomie der Mittel in der politischen Vereinnahmung der Körper, im «investissement politique des corps». Die «Ecole Militaire» in Paris, diese pädagogische Maschine zur Erziehung der Offiziersaspiranten, war so strukturiert:

«Es mussten kräftige Körper, gehorsame Militärmenschen, kompetente Offiziere produziert und dabei (in dieser Männergesellschaft) die Homosexualität und das Laster vermieden werden. Also ein vierfacher Grund, um abgedichtete Trennwände zwischen den Individuen zu errichten, aber auch ein Grund, zwecks Überwachung einen kontinuierlichen Einblick in die Zellen zu garantieren.» (Foucault nennt das an einer anderen Stelle den «Panoptismus»: die Zöglinge, Häftlinge, Fürsorgeobjekte sind voneinander isoliert, können miteinander nicht kommunizieren, aber die Aufsichtsperson hat von einem zentralen Punkt aus die Einsicht in alle Zellen. Das Aufsichtssubjekt weiss alles über die Fürsorgeobjekte, hat ein Machtwissen, «pouvoir-savoir», während die Objekte nichts voneinander und vom Subjekt wissen oder möglichst wenig.) «Das Gebäude der Militärschule war selbst ein Aufsichtsapparat, die Zimmer waren entlang einem Korridor angeordnet wie eine Serie von kleinen Zellen; in regelmässigen Abständen war ein Offizierslogis eingebaut, und zwar so, dass immer zehn Offiziersaspiranten je einen Offizier links und rechts von sich hatten. Die Aspiranten waren in den Zellen die ganze Nacht eingeschlossen. Die Türen der Zellen waren verglast. (…) Man hatte Latrinen eingerichtet, mit halben Türen, damit die Aufsichtsperson die Beine und die Köpfe der Aspiranten sehen konnte, doch die seitlichen Trennwände waren so hoch, dass die Latrinenbenützer einander nicht sahen.»

Ähnlich gebaut war die berühmte landwirtschaftliche Schule (Besserungsanstalt) von Mettray, wo «kräftige und tüchtige» Landwirte ausgebildet wurden. Die Vorgesetzten in dieser Anstalt waren ein bisschen Richter, Professoren, Vorarbeiter, Unteroffiziere, Eltern in einer Person. Es waren Techniker des Betragens, Ingenieure der Seele, Orthopädisten der Individualität. «Beim Eintritt in die Anstalt unterwirft man den Zögling einer Art von Verhör, um über sein Herkommen, das familiäre Milieu, sein Vergehen, das ihn in die Anstalt gebracht hat, Klarheit zu gewinnen. Diese Auskünfte werden auf einer Tafel notiert, wo man sukzessive alles aufschreibt, was das Individuum betrifft, wie er sich in der Anstalt aufführt.» Die Anstalt erzielte befriedigende Resultate: Die Zöglinge begannen ihre (unsichtbaren) Ketten zu lieben, und einer, der im Sterben lag, soll kurz vor dem letzten Schnauf gesagt haben: «Wie schade, dass ich die Anstalt so früh verlassen muss.» Foucault nennt das den «Tod des ersten heiligen Sträflings». 1843, als «das revolutionäre Fieber die Einbildungskraft überall leidenschaftlich erregte, als sogar die Anstalten von Angers, von La Flèche, von Alfort sich auflehnten, waren die Zöglinge von Mettray noch ruhiger als in normalen Zeiten». Der Apparat hatte sie vollkommen in den Griff bekommen, man kannte ihre Seelen, erforschte ihre Regungen und konnte dank diesem Macht-Wissen («pouvoir-savoir») vorbeugen. Foucault ist eben jetzt damit beschäftigt, das «pouvoir-savoir» der psychiatrischen Expertisen und ihre Bedeutung im Strafprozess zu untersuchen, er wird bald entsprechende Dossiers veröffentlichen, vielleicht werde ich ihm die Expertise des Psychiaters Dr. Hans-Oscar Pfister zeigen, bis vor kurzem Stadtarzt und Aushebungsarzt von Zürich, der den Landesverräter Ernst S. im Gefängnis untersucht hat, welche Untersuchung mit der Zerknirschung und dem Todeswunsch des Delinquenten S. endete.

Das Gefängnissystem als grosses Projekt der sozialen Orthopädie. Gefängnisse waren nicht einfach «als Depot für Kriminelle» geplant, sondern man glaubte Anfang des 19. Jahrhunderts ehrlich und wirklich an eine Besserung und deshalb neue ökonomische Verwendbarkeit der Delinquenten. Und doch war der Misserfolg «fast so alt wie das Projekt», sagt Foucault. «Man konstatierte seit 1320, dass die Gefängnisse nur neue Kriminelle produzieren, anstatt die alten zu korrigieren, oder dass sie die Kriminellen nur noch weiter kriminalisierten. Und da hat, wie immer in den Machtmechanismen, eine strategische Verwendung dieser ursprünglich als negativ empfundenen Tatsache stattgefunden. Man hat gemerkt, dass die Kriminellen nützlich sein können, im ökonomischen wie im politischen Bereich. Zum Beispiel kann man dank ihnen Profit machen mit der Ausbeutung der sexuellen Lust: Jetzt wird, im 19. Jahrhundert, das grosse Gebäude der Prostitution errichtet, und das war nur möglich dank den Kriminellen (Zuhälter usw.), welche ein Scharnier wurden zwischen der teuren täglichen sexuellen Lust und ihrer Kapitalisation.» (In Marseille z.B. spielt das von der Polizei genau kontrollierte korsische Gaunermilieu eine wichtige politökonomische Rolle: als Detailhändler von Heroin, als Zuhälter und als Schlägertrupps für die Regierungspartei.) «Wie jedermann weiss, hat Napoleon die Macht ergriffen dank einer Gruppe von Kriminellen. (Auch Giscard hat seine Wahlkampagne teilweise mit Kriminellen bestritten.) Und wenn man sieht, wie sehr die Arbeiter die Kriminellen immer gehasst haben, dann begreift man, dass diese gegen die Arbeiter eingesetzt wurden, in den politischen und sozialen Kämpfen, als Streikbrecher, Schlägerbanden, Spitzel usw. Das Gefängnis wurde zum grossen Rekrutierungsinstrument. Das Gefängnis professionalisierte die Kriminellen. Wenn einer entlassen wurde, war er infam und geächtet, er konnte nichts anderes tun als wieder delinquieren, und das System machte notwendigerweise einen Polizisten, einen Zuhälter oder einen Spitzel aus ihm. Anstatt wie im 18. Jahrhundert, wo nomadisierende Räuberbanden mit oft grosser Wildheit über Land zogen, hatte man jetzt dieses ganz abgeschlossene Delinquentenmilieu, von Polizeispitzeln durchsetzt, ein wesentlich städtisches Milieu.» Zur gleichen Zeit beginnen die Kriminalromane zu florieren und die Ausschlachtung von «Unglücksfällen und Verbrechen»; die Untaten müssen dem Volk möglichst drastisch vor Augen geführt werden, um die arbeitsamen Leute ganz scharf vom Delinquentenmilieu abzugrenzen und um den Armen zu erklären, dass die Verbrecher auch für sie und nicht nur für die Reichen gefährlich sind.