Buch lesen: «Teacher Leadership - Schule gemeinschaftlich führen (E-Book)», Seite 5

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Die Leader-Plus-Komponente

Aus einer Distributed-Leadership-Perspektive ist es wesentlich anzuerkennen, dass es mehrere Führungspersonen gibt, womöglich auch solche ohne formelle Führungsposition. Und gleichzeitig ist es wesentlich zu verstehen, wer diese Führungspersonen sind und wie sie arbeiten. Einen Distributed-Leadership-Rahmen zu nutzen, bringt zum Vorschein, wer Führungsaufgaben im Bildungsbereich wahrnimmt, das heißt, wer die Verantwortung für die Führung und das Management des Unterrichts übernimmt. Wenn wir uns von einem «heroischen Führungsparadigma» (Yukl 1999) wegbewegen, dann unterstützt uns ein solcher Rahmen, uns nicht mehr ausschließlich auf die Schulleitung zu konzentrieren, sondern zu überlegen, wie sich Führung auf mehr Personen verteilt. Während Schulleitungen wesentlich für Führung im Bildungswesen sind, leisten andere formale Führungskräfte wie stellvertretende Schulleitungen, Teacher Leaders, Fachgruppenleitungen, Fachbereichsvorsitzende und viele andere ebenfalls wesentliche Führungsarbeit. Sie tun dies sowohl individuell als auch kollektiv. Eine Distributed-Leadership-Perspektive schließt auch Einzelpersonen, die Führung ohne formelle Führungsfunktion übernehmen, mit ein. Eine Lehrerin, ein externer Partner, ein Elternteil oder sogar ein Schüler oder eine Schülerin kann von Zeit zu Zeit die Verantwortung für irgendeinen Aspekt der pädagogischen Führungsarbeit übernehmen.

Aus einer Distributed-Leadership-Perspektive ist es also wichtig zu verstehen, wie die Verantwortung für Führungsaufgaben auf mehrere Personen verteilt ist. Dabei wird die Verantwortung für Führung und Management manchmal gezielt, manchmal automatisch und manchmal sogar infolge einer Krise auf mehrere Personen verteilt (Spillane 2006; Spillane u. Coldren 2011). Die gezielte Verteilung von Führung bedeutet meist, absichtlich neue Führungspositionen zu schaffen oder bestehende Positionen neu zu gestalten oder umzugestalten. Manchmal werden auch nur Personen in einer bestimmten Position ausgewechselt. Eine Schule könnte zum Beispiel eine Lehrkraft mit besonderer naturwissenschaftlicher Expertise anstellen und deren Expertise für die Verbesserung des naturwissenschaftlichen Unterrichts nutzen. Sie könnte aber auch die Stellenbeschreibung und die Zuständigkeiten einer bestehenden Position so umgestalten, dass diese Verantwortung neu bei dieser Position angesiedelt ist. Schulen können Führung außerdem gezielt verteilen, indem sie organisatorische Routinen und Strukturen entwickeln und einsetzen, die es Gruppen von Lehrkräften ermöglichen, Führungsverantwortung für einen bestimmten Aspekt des Lehrens und Lernens zu übernehmen.

Führungsverantwortung im Schulfeld kann ebenfalls automatisch verteilt sein, indem formal ernannte Führungskräfte wie auch Personen ohne solche Positionen Verantwortung übernehmen, wenn sie innerhalb ihrer Schule Bedarf sehen. In solchen Situationen übernehmen Lehrkräfte und/oder Führungskräfte die Verantwortung für bestimmte Aufgaben, die sonst wahrscheinlich durch die Maschen fallen würden. Oder sie engagieren sich, wenn ein Kollege oder eine Kollegin bei einer bestimmten Aktivität oder Aufgabe Hilfe braucht. In anderen Fällen wird Führungsverantwortung aufgrund von Krisen verteilt: Wenn eine Schule zum Beispiel vor einer plötzlichen und unerwarteten Herausforderung steht und jemand oder eine Gruppe einspringt, um bei der Bewältigung der Herausforderung zu unterstützen.

Führungshandeln kann sich unterschiedlich auf Menschen verteilen: in kollaborativer, kollektiver und koordinierter Form (Spillane, Diamond u. Jita 2003; Spillane 2006). Die kollaborative Verteilung bezieht sich auf Situationen, in denen zwei oder mehr Personen zeitlich und örtlich bei einer bestimmten Aktivität zusammenarbeiten (z.B. Durchführung einer gemeinsamen Sitzung zur professionellen Weiterentwicklung). Dann haben die Menschen den Vorteil, die Aufgabe gemeinsam zu erfüllen und sich gegenseitig in der Praxis zu beobachten. Kollektive Verteilung beschreibt die Verteilung von Führung auf zwei oder mehr Personen, die in gegenseitiger Abhängigkeit, aber räumlich und/oder zeitlich getrennt arbeiten (z.B. zwei Coaches, die mit derselben Lehrkraft arbeiten). Die gemeinschaftliche Ausübung ist schwieriger, da die Führungspersonen nicht die Möglichkeit haben, sich gegenseitig bei ihrer Arbeit zu erleben. Koordinierte Verteilung umfasst Situationen, in denen voneinander abhängige Aktivitäten getrennt, aber in einer bestimmten Reihenfolge gemeinsam ausgeführt werden, da eine Aktivität einen Output erzeugt, der ein wesentlicher Input für eine andere Aktivität ist. Jede dieser Situationen beschreibt einige der speziellen Formen, wie Führung auf verschiedene Personen verteilt werden kann. Dabei bringt jede dieser Situationen spezifische Herausforderungen an die Koordination mit sich (Spillane 2006). Die Verteilung von Führung kann variieren und ist abhängig von der Art der Führungsarbeit oder der organisatorischen Routine (Camburn, Rowan u. Taylor 2003; Heller u. Firestone 1995), des Unterrichtsstoffs (Spillane, Diamond u. Jita 2003), der Schulgröße (Camburn, Rowan u. Taylor 2003), der Schulform (Portin et al. 2003) und davon, ob das Führungsteam einer Schule etabliert oder neu ist (Copland 2003; Harris 2002). Der Aspekt «Leader plus» beinhaltet weit mehr als die Identifizierung der Personen, die in einer Organisation die Verantwortung für die Führung übernehmen. Er erfordert ein Verständnis dafür, wie diese Führungsarbeit organisiert und auf Personen verteilt ist. Er beinhaltet aber auch die Wahrnehmung der gegenseitigen Verflechtungen zwischen ihrer Arbeit und der Art und Weise, wie die Organisation mit diesen Verflechtungen umgeht.

Die Komponente der Führungspraxis

Ein zweiter und wesentlicher Aspekt eines Rahmens von Distributed Leadership ist der Handlungsaspekt, der die Praxis der Führung – das Führen – als zentralen Aspekt herausstellt. Bei einer Distributed-Leadership-Perspektive auf verteilte Führung geht es nicht nur um Führungsrollen und Verantwortlichkeiten, sondern auch um die Frage, wie diese Rollen gemeinschaftlich in der täglichen Arbeit der Organisation realisiert werden. Führung durch eine Distributed-Leadership-Perspektive zu betrachten, erfordert eine Analyse der tatsächlichen gemeinsamen Aktivitäten von Führungskräften und geführten Personen und der Art und Weise, wie sie führen. Umso mehr, als Menschen in Organisationen nicht nur Dinge gemeinsam tun, die kollegial und/oder freundschaftlich sind. Manchmal erzeugen gemeinsame Aktivitäten auch Feindseligkeiten und Streit. Die Führungspraxis im Bildungswesen umfasst auch Meinungsverschiedenheiten, Uneinigkeiten und offene Auseinandersetzungen (Hallett 2007; Spillane u. Anderson 2019). Ein Rahmen verteilter Führung eignet sich ebenso gut für die Analyse von Führungspraktiken in Situationen, in denen sich Menschen uneinig oder sogar in Konflikte verwickelt sind. Und er eignet sich, wenn einzelne Personen in unterschiedliche oder sogar entgegengesetzte Richtungen tendieren (Hallett 2010). Als analytischer Rahmen ordnet eine Distributed-Leadership-Perspektive die Praxis in einer ganz bestimmten Weise ein. Aufbauend auf der Aktivitätstheorie, der Verteilung von Kognition und der soziokulturellen Aktivitätstheorie (Hutchins 1995), beschreibt diese Sicht Führung als Interaktion zwischen Personen, die durch bestimmte Merkmale der Situation ermöglicht und eingeschränkt werden. Als analytischer Rahmen versteht eine Distributed-Leadership-Perspektive Führungspraxis als bestimmt und geformt in den Interaktionen von Führenden und Geführten. Dabei berücksichtigt sie, dass Personen manchmal führen und manchmal geführt werden, auch wenn einige Personen mehr und andere weniger strukturelle Ressourcen zu Führung zur Verfügung haben. Zudem wird die Praxis durch Merkmale der Situation wie auch durch angewendete Instrumente und Routinen beeinflusst (Gronn 2000; Spillane, Halverson u. Diamond 2001; 2004; Spillane 2006). Um die Praxis pädagogischer Führung zu verstehen, müssen wir über den ausschließlichen Fokus auf das Handeln einzelner Führungspersonen hinausgelangen. Stattdessen müssen wir zu den Interaktionen vordringen, das heißt zu den improvisierten Reaktionen von Führungspersonen und geführten Personen aufeinander. Folglich reicht es nicht aus, die Handlungen oder Verhaltensweisen einzelner Führungskräfte zusammenzufassen, um die Praxis der Führung zu verstehen. Eine Distributed-Leadership-Perspektive einzunehmen, bedeutet, zu analysieren, wie verschiedene Führungspersonen und geführte Personen in der Interaktion eine gemeinsame Führungspraxis herstellen. In einigen Arbeiten wird gezeigt, wie das Zusammenwirken in der Führungspraxis auf drei Arten gestaltet werden kann: durch kooperative, kollektive und koordinierte Verteilung (Spillane 2006).

Eine Perspektive auf verteilte Führung rückt auch die Situation als zentrales konstituierendes oder definierendes Element der pädagogischen Führungspraxis in den Vordergrund. Wir nehmen die Situation meist selbstverständlich als den Ort hin, an dem wir arbeiten, als eine Art Bühne, auf der wir jeden Tag üben. Wenn Aspekte der Situation betrachtet werden, ist der Blick in der Regel auf Werkzeuge oder Zubehör für die Praxis gerichtet, die es Führungskräften ermöglichen, mehr oder weniger effizient oder effektiv zu arbeiten. Neue Instrumente (z.B. Datenanalyse-Pakete, Online-Tools zur Planung oder Durchführung von Besprechungen) oder Routinen (z.B. Learning Walks, Instructional Rounds) werden zum Beispiel zur Unterstützung einer effizienteren oder effektiveren Praxis eingesetzt. Eine solche Sichtweise auf die Situation schränkt jedoch das Verständnis der Praxis von Führungspersonen ein.

Aus einer Distributed-Leadership-Perspektive betrachtet, werden Aspekte der Situation anders positioniert: Sie definieren die Führungspraxis grundlegend. So gesehen, sind Aspekte der Situation keine externen Variablen, die die Führungspraxis von außen nach innen beeinflussen, sondern wie Führende und Geführte ein konstitutives Element dieser Praxis. Dadurch, dass die Interaktionen zwischen Menschen fokussiert und in den Mittelpunkt gerückt werden, tragen Aspekte der Situation dazu bei, die Praxis zu formen (siehe Abbildung 2).


Abbildung 2: Essenzielle Elemente von Distributed Leadership (aus Spillane 2006)

Als Beispiel können zwei allgegenwärtige Aspekte jeder Organisation dienen – Organisationsroutinen und verschiedene Arten von Werkzeugen oder Artefakten. Organisationsroutinen wie Lehrevaluationen oder Supervisionen, Sitzungen von Lehrpersonen und Abteilungen auf Klassen- oder Stufenebene, Schulversammlungen zur Planung von Optimierungsmaßnahmen an Schulen sind in Bildungsorganisationen eine feste Größe und für die tägliche Arbeit unerlässlich. Genauso sind Hilfsmittel als externalisierte Darstellungen von Ideen, die Menschen in der täglichen Praxis verwenden (Norman 1988), wie zum Beispiel Beobachtungsprotokolle im Klassenzimmer, Testergebnisse und Unterrichtspläne, unerlässlich und werden oft als selbstverständliche Aspekte der pädagogischen Führungspraxis angesehen. Von einer Perspektive der geteilten Führung aus gesehen, beeinflussen Organisationsroutinen und -instrumente nicht einfach die pädagogische Führungspraxis, sondern definieren in der Art und Weise, wie sie von Führungspersonen und geführten Personen eingesetzt werden, die Führungspraxis grundlegend. Dass Instrumente eine Führungspraxis definieren, zeigt sich beispielsweise darin, wie Beobachtungsformulare die Interaktionen zwischen der beobachteten Lehrperson und der beobachtenden Schulleiterin oder Inspektorin im Klassenzimmer beeinflussen. In diesem Zusammenhang sind die Aspekte der Situation ebenso wesentlich konstituierende Aspekte der Praxis wie die beteiligten Personen, die zur Ausgestaltung dieser Praxis beitragen. Gleichzeitig können Aspekte der Situation in und durch die Führungspraxis geformt und umgestaltet werden.

Selten sind Aspekte der Situation wie Instrumente und Organisationsroutinen neutral, weil sie bestimmte Ideen und Arbeitsweisen bevorzugen und manche Organisationsmitglieder anders positionieren (z.B. als Expertinnen und Experten mit mehr Autorität). Diese oft als selbstverständlich und unscheinbar erscheinenden Aspekte der Situation festigen und verstärken die Autorität, hinterfragen sie manchmal und beeinflussen die Beziehungen in der Praxis. Wir werden im dritten Abschnitt dieses Beitrages darauf zurückkommen.

Eine «Distributed Multilevel Perspective»

Ein großer Teil der empirischen Arbeiten zu Distributed Leadership, meine eigenen eingeschlossen, nimmt die Organisation der Einzelschule als Einheit der Analyse. Diesen Arbeiten ist es gelungen, die pädagogische Führungspraxis in den Vordergrund zu stellen. Sie konzentrierten sich jedoch hauptsächlich auf die Praxis innerhalb eines Schulhauses – mit der Frage, wie Führung in Schulen horizontal verteilt ist. Führung im Schulwesen ist jedoch nicht allein Sache der Schulleitungen, Lehrkräfte und anderen Personen, die im Schulhaus arbeiten (siehe auch Artikel von Aeberli in diesem Band). Schulen sind typischerweise Teil eines Schulsystems, das für sie Ressourcen und Unterstützung bereitstellt. Schulsysteme bemühen sich, wenn auch einige mehr als andere, das Lehren und Lernen in den Schulen auf verschiedene Arten zu koordinieren und zu strukturieren. Sie tun dies beispielsweise durch Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen, Assessments der Schülerinnen und Schüler, Schulinspektionen und so weiter. Je nach Land unterscheidet sich die Organisation der Schulsysteme ebenso wie das Ausmaß an Regelungen von staatlichen oder nichtstaatlichen Stellen. Die Maßnahmen und das Funktionieren des Schulsystems sind – auch wenn die Systeme und Maßnahmen unterschiedlich sind – entscheidende Voraussetzung für die Förderung des Lehrens und Lernens in den Schulen. Daher ist es notwendig, Distributed Leadership nicht nur horizontal, sondern auch vertikal anzuwenden, um zu verstehen, wie sich die Führungspraxis im Bildungswesen über Klassenzimmer, Klassenstufen, Schulen und Schulsysteme erstreckt. Neuere Arbeiten skizzieren ein «Multilevel Distributed Framework», einen Rahmen zur Untersuchung von Führung auf den verschiedenen Ebenen des Bildungswesens (Spillane, Morel u. Al-Fadala 2019). Eine auf mehreren Ebenen angesiedelte Perspektive auf verteilte Führung nimmt mehr als nur eine Ebene des Schulsystems in den Blick, wie beispielsweise eine Klassenstufe, eine Schule, ein Amt oder ein Ministerium. Sie versucht zu verstehen, wie sich die Praxis von Führung auf Menschen und Schlüsselaspekte der Situation in der Interaktion über mehrere Ebenen hinweg verteilt. Eine Perspektive auf verteilte Führung, die mehrere Ebenen miteinschließt, fragt danach, wie Personen und die einzelnen Aspekte der Situation auf den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems zusammenwirken, um die Führungspraxis im Bildungswesen zu definieren. Dabei geht es weder um die Übernahme von Führungsaufgaben in der Schule oder auf Systemebene noch um die Bündelung von Führungsaufgaben auf verschiedenen Ebenen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, wie Führungspraxis auf verschiedenen Ebenen und über verschiedene Ebenen hinweg aufeinander einwirkt, um so die Führungspraxis im ganzen Bildungsbereich zu erfassen, wie sie von den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern erlebt wird und zu deren Lernen und Entwicklung beitragen sollte. Es geht hier mehr um Multiplikation als um Addition!

Autorität und Macht in der Führungspraxis im Bildungswesen

Wie der Soziologe John Diamond argumentiert, sind Macht- und Autoritätsbeziehungen in der Führungspraxis von zentraler Bedeutung bei der Verwendung von Distributed Leadership. Verankert in Auffassungen von Legitimität, wie sie Max Weber vorgelegt hat, untersuchen einige Arbeiten zu Distributed Leadership Autorität und Einfluss als Teil der Führungspraxis im Schulsystem (Diamond 2013). Eine Richtung innerhalb dieser Forschung befasst sich mit der Frage, wie Konflikte entstehen, wenn Schulleitungen auf Druck der Bildungsverwaltung reagieren und versuchen, eine strengere Kontrolle der Unterrichtspraxis von Lehrkräften zu erwirken (Hallett 2010, 2007). Das Drängen von Führenden des Bildungssystems auf Standards und Rechenschaftspflicht, die an die Leistungen der Schülerinnen und Schüler gebunden sind, führt zu veränderten Interaktionen zwischen Schulleitungen und Lehrkräften. Diese sind durch Spannungen und einen lang anhaltenden Kampf des Schulpersonals gekennzeichnet. Diese Forschungsarbeit zeigt sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der Position der Schulleiterin, die um ihre Legitimation als Führungskraft kämpft. Gleichzeitig unterstreicht sie die Unbeständigkeit von Legitimation in der Praxis. Sie betont auch die Bedeutung von Multilevel Distributed Leadership, also einer verteilten Führungspraxis über mehrere Ebenen hinweg, da sie aufzeigt, wie pädagogische Führung auf Systemebene die Führungspraxis auf Schulebene grundlegend beeinflusst.

Eine andere Studie mit einem mikrosoziologischen Ansatz analysiert über Jahre hinweg die Führungspraxis bei der Durchführung von Organisationsroutinen wie beispielsweise Besprechungen in Jahrgangsteams (Spillane u. Anderson 2019). Basierend auf minütlich protokollierten Videoaufzeichnungen der Treffen, untersuchen die Forschenden Interaktionen von Führungspersonen und Lehrkräften. Dabei konnten sie «soziale Taktiken» (Fligstein 2001) identifizieren, die Führungspersonen (sowohl Schulleitungen als auch Teacher Leaders) anwenden, wenn sie mit Lehrpersonen über die Hintergründe und Vorteile von staatlich vorgeschriebenen Unterrichtsrichtlinien, die auf Veränderungen der Unterrichtspraxis abzielen, diskutieren. Die Analyse geht über abstrakte Überlegungen zu Macht und Autorität hinaus und erfasst empirisch, wie Macht und Autorität in der pädagogischen Führungspraxis vor Ort umgesetzt und verhandelt werden. Dabei wurden verschiedene Taktiken identifiziert: von der Ausübung formaler positionsbezogener Autorität bis hin zur Berufung auf Autorität, dem Appell an gemeinsame Werte, der Bekräftigung einer gruppeninternen Identität, der Berufung auf eine Professionalität, der Anpassung der Reformbotschaft an die aktuellen Praktiken, Normen und Interessen der Lehrpersonen und dem Erklären der Worte anderer und der eigenen Neutralität. Außerdem zeigt die Analyse, dass je nach Position der Führungsperson unterschiedliche soziale Taktiken angewendet wurden. Diese Forschungsarbeit zeigt auf, wie die Verwendung eines Distributed-Leadership-Rahmens die Aufmerksamkeit auf die Praxis der Führung lenkt und wie Macht, Autorität und Einfluss in diesen Interaktionen verhandelt werden. Außerdem wird die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung einer Mehrebenenperspektive gerichtet. Eine der Taktiken, die von den Schulleitenden verwendet wurden, ist die Berufung auf die eigene Autorität, meistens bezogen auf die Autorität der Personen auf der höheren Systemebene.

Insgesamt dokumentiert die Forschung mit einer Distributed-Leadership-Perspektive, wie Konflikte entstehen, wenn Schulleitungen unter dem Druck von Systemführung und Bildungspolitik versuchen, die Unterrichtspraxis von Lehrpersonen genauer zu regulieren (Hallett 2010, 2007), und wie Schulleitungen und Lehrpersonen Zusammenhänge zwischen der alltäglichen Praxis und den Anforderungen von Systemführung und Bildungspolitik aushandeln (Spillane et al. 2002). Darüber hinaus und in kritischer Weise dokumentiert die Arbeit auch, wie auf verschiedenen Ebenen liegende institutionelle Ressourcen bestimmte Reaktionen in der Schulführung und der Unterrichtspraxis einschränken oder auch ermöglichen (Diamond u. Spillane 2004; Diamond 2012). Eine «Distributed Multilevel Perspective» verweist auf die Notwendigkeit, das dynamische Zusammenspiel zwischen den Akteuren des Bildungswesens – den Verantwortlichen des Schulsystems, den Schulleitungen und den Lehrpersonen – zu berücksichtigen, um die Praxis der Führung zu analysieren. Zu berücksichtigen ist, dass die Akteure auf den verschiedenen Ebenen des Bildungswesens nicht immer persönlich interagieren, sondern durch Instrumente und Artefakte verschiedener Art (Richtlinien, Protokolle zur Bewertung von Lehrpersonen, Zeugnisse von Schülerinnen und Schülern und so weiter) miteinander verbunden sind. Wenn pädagogische Schulführung als soziale Einflussnahme verstanden wird, sind Beziehungen, Macht und Autorität überall vorhanden, wenn auch oft in unscheinbaren Merkmalen der Situation verborgen und unbeachtet als selbstverständlich angesehen.

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Umfang:
327 S. 13 Illustrationen
ISBN:
9783035518153
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