Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3)

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Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3)
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Nadja Losbohm

Die Jägerin - Vergangenheit und Gegenwart (Band 3)

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

1. Für immer

2. Schreck, lass nach!

3. Kontrollfreak

4. Kein einfacher Patient

5. Der erste Tag in Freiheit

6. Verfluchte Erde

7. Zurück zur Normalität

8. Der bekannte Unbekannte

9. Schwester Ada, bitte in den OP

10. Mein Punchingball

11. Ada und Alex

12. Pater Michaels Lektion

13. Nervtötend

14. Mein Arsch namens Alex

15. Adas Vergangenheit

16. Geheimnisvoll, geheimnisvoll

17. Ein Flüstern im Nebel

18. Sie wissen, was ,,ja,ja” bedeutet, oder?

19. Wer zurückbleibt, wird zurückgelassen

20. Alex auf Entdeckungstour

21. Petri heil!

22. Vergeudete Zeit

23. Versprechen bricht man nicht, oder?

24. Die pinkfarbene Geschmacksverirrung und das Marshmallow

25. Das Mädchen und das Monster

26. Traum oder Wahrheit?

27. Knapp entkommen

28. Die wahre Natur des Monsters

29. Was soll ich nur mit dir machen?

30. Pater Michael zuliebe

31. Auf der Suche nach der Lösung

32. Die geheime Geheimwaffe

33. KClO3

34. König Artus’ Lehrling

35. Hier, fang!

36. Showdown

37. Wunden

38. Berufsrisiko

39. Nicht deine Welt

40. Wieder zu zweit

41. Verlust eines Freundes

42. Das Böse selbst

43. Der zweite Mann

44. Keine Heilung

45. Träume und Ängste

46. Eine Botschaft für den Pater

47. Schlaf

Pater Michaels Erinnerungen

~ 1 ~

~ 2 ~

~ 3 ~

~ 4 ~

~ 5 ~

Ein Meer aus Licht und Farben…

Impressum neobooks

Widmung

Für meine Mutter,

die bei der Titelfindung dieses Bandes geholfen hat.

Seltsamerweise war ausgerechnet das die schwierigste Aufgabe.

1. Für immer

Meine Knie wurden weich. Mein ganzer Körper zitterte. Ich hatte keine Kraft mehr, um mich aufrecht zu halten. Wie ein nasser Sack sank ich auf den Boden und kniete neben dem Leichnam Pater Michaels. Meine Hand streckte sich nach ihm aus. Vorsichtig berührte ich die dunklen Haare und strich sie ihm zurück. „Michael,” hauchte ich flehentlich. Keine Reaktion. „Michael!” Ich sagte seinen Namen mit mehr Dringlichkeit in der Stimme. Wieder keine Reaktion. „Komm schon, Michael, wach auf!”, bettelte ich und fing an, ihn an seiner Schulter zu rütteln. Immer wieder und wieder rief ich seinen Namen und zog und zerrte mit jedem verstreichenden Augenblick fester an ihm. Aber es war vergeblich. Nichts geschah. Er blieb liegen und schlug nicht die Augen auf wie nach einem erholsamen Schlaf.

Abrupt ließ ich ihn los und schlug die Hand vor den Mund, um den verzweifelten Aufschrei zu unterdrücken. Kraftlos fiel ich nach hinten und landete auf dem kalten, harten Steinboden. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Minutenlang starrte ich ihn fassungslos an. Es konnte nicht sein, dass er tot war. Es durfte nicht sein, dass er tot war. Konnte Gott denn wirklich so grausam sein? Mein Leben mit ihm hatte doch gerade erst begonnen. „Ich liebe ihn so sehr,“ schoss es mir durch den Kopf. Für immer. Was sollte ich denn nur ohne ihn tun? Wo sollte ich hin?

Ich zog die Knie an, umschlang sie mit meinen Armen und stützte mein Kinn auf sie. Langsam wiegte ich mich vor und zurück. Vor und zurück. Vor und zurück.

All die Trauer, die ich während meines Rachefeldzuges beiseitegedrängt hatte, stieg jetzt unaufhaltsam in mir auf. Die Tränen strömten mir übers Gesicht. Ich schmeckte ihr Salz auf meinen Lippen. Mein lautes Schluchzen zerriss die Stille. Mein Herz fühlte sich an, als würde es von einer eisigen Hand gehalten. Immer wieder drückte sie zu, zerquetschte es, ließ es wieder los. Jedes Mal raubte es mir die Luft. Ich konnte kaum atmen. Innerhalb einer Minute zerbrach es mir das Herz an die zwanzig Mal.

Vor und zurück. Vor und zurück. Wie in einer Art Trance bewegte ich mich. Meine Hände legten sich auf meinen Kopf. Erst klopften sie nur sanft auf ihn, um den einen Gedanken, der in ihm tobte, zu verscheuchen. Aber das Klopfen brachte nichts. Also hämmerte ich mit der Faust auf ihn ein, zerraufte mir die Haare am Hinterkopf und zog so fest an ihnen, dass ich sie herausriss. Ich spürte den Schmerz nicht. Und es störte mich auch nicht. Ich wollte nur irgendwie ein Loch in meinem Kopf schaffen, ein Ventil, wodurch ich den einen Gedanken loswerden konnte: Pater Michael ist tot.

2. Schreck, lass nach!

Ein tiefer Seufzer, der nicht von mir stammte, ließ mich zusammenzucken. Erschrocken ließ ich meine Haare los, hob den Kopf und blickte mich um. Aber da war nichts, außer dem am Boden liegenden Pater und mir. Das Seufzen ertönte erneut und so plötzlich, dass ich blitzschnell aufsprang. Für einen Moment glaubte ich, der Vampir sei wieder auferstanden und versuche, in die Kirche zu gelangen. Doch dann fiel mir auf, dass sich etwas an dem Bild vor mir verändert hatte. Es war nur eine Kleinigkeit, die man leicht übersehen konnte. Und im ersten Moment hatte ich das auch getan. Aber nun erkannte ich, was es war, das anders war. Pater Michaels Kopf. Er lag nicht mehr mit dem Gesicht zu mir. Er hatte sich gedreht!

Ungläubig starrte ich auf seinen Hinterkopf und wagte es mich nicht einmal Luft zu holen. Einige Minuten lang geschah nichts, und ich war mir sicher, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Ich entspannte mich wieder und atmete tief durch. Doch gerade als ich mich wieder auf den Boden setzen wollte, hörte ich das Seufzen erneut. Meine Augen huschten hinunter zum Pater und beobachteten ihn genau. Unter dem schwarzen Stoff seiner Soutane sah ich, wie sich etwas bewegte. Mir blieb fast das Herz stehen, als sich sein Rücken wölbte und krümmte und ein angestrengtes Luftholen zu hören war. Ich musste von allen guten Geistern verlassen worden sein, wenn ich nun schon sah, wie sich mein Wunschgedanke in Wirklichkeit verwandelte. Ich zwickte mich selbst in den Handrücken, um zu testen, ob ich schlief oder wach war. Aber da ich einen Schmerz verspürte, musste ich wohl wach sein.

 

Wieder schnappte er nach Luft wie ein Ertrinkender, und sein ganzer Körper bäumte sich auf. Ich schrie vor Entsetzen und sprang hinter die nächste Holzbank, um mich dahinter zu verstecken. Meine Hände krallten sich an der Sitzfläche fest, und meine Ohren lauschten angestrengt. Ich hörte merkwürdig schlurfende Geräusche und ein Husten. Vorsichtig kam ich ein Stück weit hinter der Bank hervor, sodass ich über sie hinwegsehen konnte. Und wieder setzte mein Herz für einen Moment lang aus, als ich die auf dem Boden kauernde Gestalt erblickte.

Pater Michael stützte seinen Oberkörper mit den Armen ab und schleppte sich mühsam weiter ins Innere der Kirche. Er atmete hastig, als wäre er gierig nach Sauerstoff. Hustenanfälle schüttelten seinen Körper. Eine zittrige Hand langte nach hinten auf seinen Rücken und fuchtelte unsicher herum, bis sie schließlich das fand, was sie suchte. Entschlossen umfassten die Finger den Pfeil, und mit einem beherzten Ruck zog er ihn sich aus dem eigenen Fleisch. Ich verzog das Gesicht, weil ich mir vorstellen konnte, wie schmerzhaft es sein musste. Pater Michael seufzte erneut, froh darüber, das blöde Ding nicht mehr im Leib stecken zu haben. Erschöpft ließ er den Arm sinken. Als seine Hand sich auf den Steinboden stützte, klapperte der Pfeil auf dem Untergrund. Wieder und wieder schnappte er nach Luft. Es fiel ihm sichtlich schwer, und seine Lunge musste sich erst wieder an ihre Aufgabe gewöhnen.

Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich mühsam auf die Beine kämpfte. Langsam richtete er sich auf. Als er stand, schwankte sein Körper von einer Seite auf die andere und von vorn nach hinten. Es dauerte eine Weile, bis er einen festen Stand gefunden hatte. Dann hob er den Kopf und blickte hinauf zur Kirchendecke. Ich hörte ein leises Murmeln und war mir sicher, dass er ein Dankgebet zu Gott sprach.

Während ich ihn dort stehen sah und still aus meinem Versteck beobachtete, kamen mir wieder die Tränen. Nur dieses Mal waren es Tränen der Dankbarkeit und Freude. Ich war dankbar für Gottes Hilfe und Schutz. Und es freute mich, Pater Michael bei einer so einfachen Geste wie dem Beten zu beobachten. Es war nichts weiter dabei, aber ihn zu sehen, wie er es tat, war für mich in diesem Moment das größte Geschenk auf Erden, und ich wollte ihn einfach nur in die Arme nehmen. Also, Schluss mit der Rührseligkeit!

Ich wischte mir mit den Händen über das verweinte Gesicht und strich mir die Haare glatt. Ich erhob mich und kletterte hinter der Bank hervor. „Michael, du Drecksack! Du hast mich zu Tode erschreckt!”, meckerte ich. Was ist? Ich hatte doch gesagt: „Schluss mit der Rührseligkeit“.

„Ada,“ rief er mich. Seine Stimme war seltsam kratzig, und er musste sich räuspern.

„Was?“, blaffte ich ihn an.

„Du sollst doch nicht in meiner Kirche fluchen. Sonst… .” Erneutes Husten unterbrach ihn.

„Sonst wirfst du mich noch hinaus,” beendete ich den Satz für ihn. Die Erinnerung an diese Drohung, die er vor Jahren ausgesprochen und die mich damals aufgeregt hatte, trieb mir jetzt die Tränen der Rührung in die Augen. Also gut, doch nicht Schluss mit der Rührseligkeit. Aber nach allem, was geschehen war, geht es, glaube ich, auch okay, oder?!

Hustend nickte er und klopfte sich mit der Hand auf die Brust. Dann drehte er sich zu mir herum. Es erschreckte mich, wie blass seine Haut aussah und wie sehr sie vor Schweiß glänzte. Die kleinen Perlen glitzerten auf seinem Gesicht. Ein großer Tropfen lief von seiner Schläfe über die Wange und den Hals hinunter. So anstrengend musste es für ihn gewesen sein, sich aufzurappeln.

Seine Augen fanden meine, und er sah mich direkt an. Und wenn ich geglaubt hatte, in seinen dunklen Augen jemals seine Liebe zu mir gesehen zu haben, dann war es nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt in ihnen entdeckte: die wahre grenzenlose und bedingungslose Liebe.

Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Ich setzte mich in Bewegung, wurde schneller, rannte zu ihm und warf ihm die Arme um den Hals. Stürmisch küsste ich ihn und ließ uns beiden keine Möglichkeit, um Luft zu holen. Pater Michael musste mich mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, von sich schieben, damit er atmen konnte. Nur widerwillig gab ich seinen Mund frei, löste die Umarmung aber nicht. An meiner Wange spürte ich die Feuchte seines Schweißes. „Wie ist das nur möglich, Michael?”, flüsterte ich fassungslos und glücklich zugleich in sein Ohr.

Ein Lachen rollte durch seinen Körper und ging in ein Husten über. Es würde wohl noch etwas dauern, bis er wieder ganz der Alte war. „Nun ja, wie es scheint, haben sie doch kein so „großes” Wissen über mich. Ich aber schon,” meinte er und lachte, was ihn gleich wieder zum Husten brachte.

Ich streichelte ihm beruhigend über den Rücken. Ohne viel Mühe fanden meine Finger die Stelle, an der der Pfeil noch vor wenigen Momenten gesteckt hatte. Es versetzte meinem Herzen einen Stich, als ich die ausgefransten Ränder des Stoffes bemerkte und auch die Feuchte des Blutes, das noch nicht getrocknet war. Mit Tränen in den Augen blickte ich nach oben und dankte Gott schweigend, dass Er mir den Mann zurückgegeben hatte, für den ich lebte und atmete. Für den ich alles tun würde. „Du bist ein unverbesserlicher Klugscheißer, Michael,” bemerkte ich mit einem Schmunzeln.

„Ada!”, mahnte er mich umgehend.

Ich seufzte genervt, war aber trotzdem froh. Selbst seine Aversion gegen Schimpfwörter hätte mir gefehlt. „Ich weiß, ich weiß. Keine Flüche, keine Schimpfwörter.” Glücklicher hätte ich nicht sein können. Ich hatte ihn wieder, den alten Miesepeter.

3. Kontrollfreak

„Als du vor mir standst, dachte ich, du wärst außerhalb des sicheren Kreises der Kirche. Ich wollte dich zurückdrängen, dich anschreien, dass du wieder hineingehen sollst. Aber ich konnte mich weder bewegen noch etwas sagen. Und dann bist du zusammengebrochen, und ich wusste, dass es vorbei war,” erklärte ich Pater Michael, während wir uns auf eine Kirchenbank setzten.

Das Atmen fiel ihm mittlerweile etwas leichter, und er musste nicht mehr so viel husten. Das Schwitzen hatte nachgelassen, und auch seine Gesichtsfarbe kehrte allmählich wieder zurück. Es war eine Erleichterung mit anzusehen, dass er sich erholte.

„Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas möglich ist. Ich wusste nicht, dass der Vampir diese Gabe besitzt, einen Menschen derart zu kontrollieren. Es tat mir weh, dich so zu sehen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte dich nicht einmal zurückziehen. Er hatte dich an einer unsichtbaren Leine festgebunden. Als ich mich vor dich stellte, wusste ich ganz genau, was ich tat, Ada,” offenbarte er mir. Er wandte seinen Kopf zu mir und sah mich an. Ungläubig starrte ich zurück. „Was meinst du damit?”, fragte ich ihn.

„Für die Kreaturen der Nacht war es nur wichtig, dass ich mich außerhalb der Kirche befand, sodass sie mich irgendwie erwischen konnten. Sie dachten, sobald ich auch nur einen Fuß zur Tür hinausstrecke, wäre es mit meiner Sicherheit vorbei. Doch wir beide wissen es besser, nicht wahr, Ada?”, fragte er und sah mich mit einem wissenden Grinsen an. Meine Augen wurden vor Verwunderung größer. „Du erinnerst dich bestimmt daran, wie ich dir davon erzählt habe,” sagte er. Ich nickte stumm. „Solange ich mit dem heiligen Boden verbunden bin, kann mir nichts geschehen,” sprach Pater Michael meinen Gedanken aus.

Ich zog scharf den Atem ein, als mir die Wahrheit bewusst wurde. „Du warst mit dem heiligen Boden verbunden,” hauchte ich und schlug die Hand vor den Mund.

Der Pater nickte und lächelte. „Du konntest es nicht sehen, aber mein Fuß stand immer noch auf dem heiligen Boden der Kirche. Genaugenommen stand er auf der letzten Stufe. Aber wer achtet schon auf so eine Kleinigkeit,” meinte er mit einem Augenzwinkern.

Ich lachte gequält, aber eigentlich war mir eher nach Heulen zumute. Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, dass sie ihn getötet hatten. Doch er hatte sie mit dieser Winzigkeit hinters Licht geführt und mir somit dabei geholfen, mich aus meiner Starre zu befreien.

Offensichtlich konnte er mir meine Gedanken vom Gesicht ablesen. Denn Pater Michael nickte und lächelte mich an. „Vor nicht allzu langer Zeit hast du mir gesagt, dass ich alles unter Kontrolle haben möchte und dass dies nicht möglich sei. Du hattest Recht, Ada. Ich mag es, die Kontrolle zu haben. Das gibt mir das Gefühl von Sicherheit. In dem Moment, als ich erkannte, was der Vampir mit deinem Willen tat, verlor ich die Kontrolle. Ich wusste nicht mehr weiter und dachte, du wärst verloren. Aber dann fiel mir ein, wie ich wieder die Kontrolle zurückerlangen konnte. Ich sprang vor dich, ließ die Kreaturen der Nacht glauben, sie hätten einen Triumph gelandet, was dich wiederum aus der Gefangenschaft befreite. Doch die sichere Verbindung war stets da. Ich hatte immer die Kontrolle, Ada,” erklärte er und lehnte sich zu mir. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinem Gesicht.

„Es war also alles genau durchdacht?”, fragte ich ihn.

Pater Michael nickte und setzte sich wieder zurück. Er wollte sich gegen die Rückenlehne stützen. Doch er rutschte sofort wieder auf der Bank nach vorn. Die Wunde, durch den Pfeil verursacht, tat doch zu sehr weh.

„Du hast gewusst, was passieren würde,” stellte ich fest und beobachtete sein Gesicht von der Seite.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe es nicht gewusst,” begann er zu sagen, horchte aber bei meinem ungläubigen „Wie bitte????“ auf. „Ich gebe zu, dass ich es vielleicht zu dreißig Prozent gewusst und zu siebzig Prozent gehofft habe,” meinte er und blickte nachdenklich zum Altar. Doch dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Lächeln, und er drehte den Kopf zu mir herum.

„Tss! Also wirklich! Das ist doch nicht zu fassen!”, empörte ich mich und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Ich wusste nicht, wieso ich sauer war. Vielleicht weil ich nicht in seinen Plan eingeweiht gewesen war und stattdessen geglaubt hatte, dass er wegen einem beherzten Sprung für mich gestorben war?

„Ada?” Seine Stimme klang unschuldig und entschuldigend zugleich. Nachdenklich kaute ich auf der Innenseite meiner Wange herum und warf ihm aus dem Augenwinkel einen finsteren Blick zu. „Um ehrlich zu sein, waren es wohl doch eher siebzig Prozent Wissen und nur dreißig Prozent Hoffnung. Als ich den Entschluss gefasst hatte, setzte ich voll und ganz auf deine Liebe zu mir. Das war das Einzige, was helfen konnte, Ada,” versuchte er es mir zu erklären. Ich verstand es allerdings immer noch nicht. „Ich wusste, dass du mich liebst. Und ich wusste, dass deine Liebe zu mir stark ist. Ich war mir sicher, wenn du siehst, wie mir etwas zustößt, würde es dich wütend machen, und du würdest für mich kämpfen, mich rächen. Denn genau so würde ich auch handeln. Ich musste dich in dem Glauben lassen, dass es vorbei war. Hätte ich dir etwas gesagt, wäre es vielleicht schiefgegangen. Verstehst du, Ada?”

Ich blinzelte ihn ein paar Mal an und blickte dann auf die Kirchenbank vor uns. Schweigend begutachtete ich das Holz und verfolgte mit den Augen den Verlauf der Maserung. Ich dachte über seine Worte nach und ja, sie waren verwirrend. Aber dann begriff ich, wieso er es getan hatte. Er hatte sichergehen müssen, dass seine List aufgeht. Und hätte er es mir auf der Stufe vor der Kirche, als wir dicht beisammen gestanden hatten, zugeflüstert, wäre ich vielleicht so arg nervös geworden, wodurch meine Gefühle, ihn zu rächen, eventuell abgeschwächt worden wären. Aber so, wie er es gemacht hatte, war es viel… mhh…spontaner gewesen? Wie auch immer. Er konnte jedenfalls verdammt glücklich sein, dass 1.) ich ihn so sehr liebte, dass ich zu einer Schwert schwingenden Rachegöttin wurde und 2.) Gott die Regeln für seinen Schutz so ausgelegt hatte.

4. Kein einfacher Patient

Pater Michael konnte von meinem Gesicht ablesen, dass ich seine Beweggründe verstand, und als ich endlich wieder ihn ansah, lächelte er erleichtert und dankbar. Und auch ein bisschen Stolz konnte ich entdecken. Er war stolz auf mich, weil seine Hoffnungen, die er in mich und meine Gefühle gesetzt hatte, wahr geworden waren. Tja, was sollte ich machen? Ich liebte ihn nun mal.

 

Mit einem Seufzen lehnte er sich zurück, doch sobald sein Rücken die Lehne der Bank berührte, schoss er sofort wieder nach vorn. Vor Schmerz verzog er das Gesicht, beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und faltete die Hände wie im Gebet. Seine Stirn lehnte an ihnen, und die Daumenspitzen pressten sich gegen sie. Ich hörte, wie er versuchte gegen den Schmerz zu atmen.

„Es wäre wohl besser, wenn wir uns deine Wunde mal ansehen,” meinte ich besorgt. Pater Michael nickte, brauchte allerdings noch einen Moment, um sich zu erheben. Als er soweit war und sich auf die Holzbank vor uns abstützte, stürzte ich mich gleich auf ihn. „Komm, lass mich dir helfen,” bot ich ihm an und packte ihn unter dem Arm.

„Es geht mir gut,” wehrte er meine Hilfe ab und schob sanft, aber bestimmt meine Hände von sich.

„Michael, ein Pfeil steckte gerade eben noch in dir. Du warst bis vor wenigen Minuten noch tot. Es geht dir nicht gut. Jetzt lass mich dir doch helfen!”, fuhr ich ihn an. Als er meinen wütenden Blick sah, begriff er, dass es mir ernst war. Ein resignierter Seufzer verließ seine Lippen, und er reichte mir seinen Arm.

Ich schob uns beide zwischen den Bänken hindurch und hinaus auf den Gang. Pater Michael legte einen Arm um meine Schultern und konnte sich so auf mich stützen, während ich einen Arm um seine Mitte legte und ihn festhielt. Wir waren nur wenige Schritte gegangen, als mir eine gewisse Kleinigkeit wieder ins Gedächtnis kam, die ich schon fast vergessen hatte. Erschrocken blieb ich stehen. „Ähm, Michael. Da wäre noch etwas,” sagte ich und starrte auf den grauen Steinboden der Kirche. Ich spürte die Blicke des Paters deutlich auf mir. Ohne ihm eine Erklärung zu geben, drehte ich uns beide herum und zog ihn mit zum Portal. Dort angekommen, bot sich uns ein Anblick des Grauens. Das pure Chaos. Ein Schlachtfeld, das seines Gleichen suchte.

„Warst du das etwa?”, fragte mich Pater Michael und klang dabei so überrascht wie noch nie.

Ich schaute zu ihm auf und zuckte grinsend mit den Schultern. „Ups,” war meine einsilbige Antwort, als wäre es nur versehentlich passiert. Dabei war mein Rachefeldzug keineswegs ein Versehen gewesen. Nach allem, was sie Pater Michael und somit auch mir angetan hatten, war dies nur die gerechte Strafe.

Pater Michael seufzte neben mir und schüttelte den Kopf. „Das Aufräumkommando wird wohl Überstunden machen müssen,” meinte er, und mein geliebtes schiefes Grinsen tauchte in seinem Gesicht auf, begleitet von einem Zwinkern. Ich grinste nur zurück. Dann drehte ich uns wieder herum, und wir gingen den Gang hinunter, geradewegs auf das Taufbecken zu.

„Es ist wirklich erstaunlich, Ada. Wie hast du es nur geschafft, allein gegen all diese Kreaturen anzukommen?”, wollte der Padre wissen.

Ich hörte seine Fassungslosigkeit, aber auch Stolz für seine Schülerin heraus. „Du hast mir geholfen,” antwortete ich. Pater Michael blieb plötzlich stehen und zwang mich ebenfalls anzuhalten. Verwundert sah er mich an. „Na ja, als sie dich getötet haben, hat mich das rasend gemacht. Meine Wut auf sie hat mich aus der Starre herausgeholt und mir die Kraft und Schnelligkeit verliehen, die ich brauchte, um es mit ihnen allein aufnehmen zu können. Sie wussten erst was passierte, als es schon zu spät war. Ich bewegte mich automatisch, stach und schlug zu, als wäre ich eine Maschine. Das habe ich mir von meinem Lehrer abgeschaut,” gestand ich und grinste ihn an.

Pater Michael strahlte über das ganze Gesicht. Es war voller Stolz und Liebe für mich und erfüllte das Innere der St. Mary’s Kirche mit sonnenhellem Licht. Er zog mich an seine Brust und hielt mich für einen Moment in den Armen. „Danke,” flüsterte er in meine Haare und gab mir einen sanften Kuss auf den Kopf.

Im medizinischen Raum angekommen half ich Pater Michael dabei, sich zu entkleiden, und gemeinsam besahen wir uns seine Verletzung. Sie war tief und blutete immer noch. Es tat mir leid, dass ich ihm noch mehr wehtun musste, als ich die Wunde reinigte. Aber ich tat nur das, was er mir mit seinen Anweisungen befahl. Dann verband ich alles mit einer sterilen Mullbinde und sicherte den Verband mit ein paar Pflastern. Mit Hilfe eines Spiegels begutachtete er mein Werk und nickte anerkennend. Dann bestand ich darauf, dass er sich in sein Bett legte und ausruhte. Der Vorschlag gefiel ihm nicht so gut wie mir. Doch mit mir war diesbezüglich nicht zu verhandeln. Ich hätte ihn notfalls auch k.o. geschlagen. „Viel hätte es dazu wohl nicht gebraucht,” dachte ich bittersüß und brachte ihn in sein Schlafzimmer.

Vor Schmerz zog er scharf den Atem ein, als er sich hinlegte. Auf dem Rücken konnte er nicht liegen, also rollte er sich vorsichtig auf die Seite. Ich legte die wärmende Decke über ihn und setzte mich auf die Bettkante. Pater Michael lächelte mich dankbar an und schloss dann die Augen. Es dauerte nicht lange, bis ihn die Weichheit der Kissen und die Wärme des Bettes ins Traumland hinübertrugen.

Erstaunlicherweise reichten ihm die wenigen Stunden Schlaf, um sich zu erholen. Ich wunderte mich sehr über diese schnelle Genesung. Aber wahrscheinlich ist das so, wenn man Gottes Hilfe hatte. Es ging dem Padre am nächsten Tag bereits wieder so gut, dass er unbedingt aufstehen und seiner Arbeit nachgehen wollte. Wir führten eine unmöglich lange Diskussion darüber, welcher Wochentag war, denn er wollte mir nicht glauben, dass wir erst Mittwoch hatten und noch jede Menge Zeit war, um eine Predigt für den kommenden Sonntag zu schreiben. Weder mein Vorrechnen noch der Kalender, in dem seine sämtlichen Termine standen, reichten aus, um ihn zu überzeugen. Es war ihm unheimlich, dass ihm durch seinen „Scheintod“ Zeit geraubt worden war, und der erholsame Schlaf hatte seine innere Uhr so durcheinander gebracht, sodass er dachte, er müsse mindestens zwei Tage geschlafen haben. Meine Bestätigung, dass er das nicht getan hatte, war ihm nicht genug. Ich konnte es noch so sehr beteuern, dass ich ihm die Wahrheit über die vergangenen Stunden erzählte. Er glaubte mir nicht und wollte mir ausbüchsen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wieso er das tat und wie es ihm helfen würde, aber er war felsenfest entschlossen, sich irgendwie einen eigenen Reim darauf zu machen.

„Du bleibst liegen, Michael!”, schimpfte ich, packte ihn an den Schultern und drängte ihn zurück ins Bett. Er wehrte sich gegen mich, und es war wirklich erstaunlich, wie viel Kraft er schon wieder aufbringen konnte. Aber ich war stärker und schubste ihn zurück auf die Matratze. Als sein Rücken auf das Bett traf und er nicht aufschrie oder sonstige Schmerzlaute von sich gab, brachte mich das kurz aus dem Konzept. Mhh, die Wunde schien schon ziemlich gut verheilt zu sein. Aber sein immer noch etwas blasses Gesicht und die fehlende Kraft, mit der er mich sonst einfach zur Seite gestellt hätte wie eine Spielzeugpuppe, sagten mir, dass er noch Erholung brauchte. „Ich sperre dich hier drin ein, wenn du nicht das tust, was ich sage, Michael!”, warnte ich ihn und wedelte mit einem erhobenen Zeigefinger vor ihm herum.

„Das würdest du nicht wagen!”, gab er zurück und sah mich entsetzt an.

„Versuch es doch,” schlug ich vor und sah ihn herausfordernd an. Ich sah, dass er angestrengt über seine Möglichkeiten nachdachte. Nach einer Weile gab er eines seiner „Mhhs“ von sich, legte sich zurück in die Kissen und faltete die Hände über seiner Brust. Mit grimmigem Gesichtsausdruck starrte er an die Decke. „Also, ehrlich. Das ist doch lächerlich,” meckerte er und drehte ungeduldig die Daumen.

„Ja, ja. Blubbere du nur so viel vor dich hin, wie du willst,” kommentierte ich seine Worte und lehnte mich über ihn, um die Bettdecke um ihn herum festzustecken.

„Ich blubbere nicht!”, sagte er beleidigt und richtete sich empört auf.

Mit wenig Aufwand stieß ich ihn wieder zurück in die Kissen und deckte ihn weiter zu. „Doch, du blubberst. Wie ein siedender Kochtopf. Es fehlt nur noch der Dampf, der aus deinen Ohren strömt,” erklärte ich ihm und richtete mich auf. Ich hatte es endlich geschafft, ihn ordentlich einzupacken, und besah mir meine Arbeit. Als ich zu seinem Gesicht kam, verblüffte mich sein Anblick. Ich hatte mich geirrt. Er blubberte nicht nur. Er kochte bereits vor Wut.