Die Jägerin - Blutrausch (Band 2)

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Aus der Reihe: Die Jägerin #2
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Die Jägerin - Blutrausch (Band 2)
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Nadja Losbohm

Die Jägerin - Blutrausch (Band 2)

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Verzweiflung

2. Erwachen

3. Falsche Worte

4. Meine Flucht

5. Ende der Geduld

6. Durst

7. Lauschangriff

8. Eine Standpauke vom Feinsten

9. Lass mich dir helfen

10. Update

11. Die zwei UNs - UNerwartete UNhöflichkeit

12. Ich mache alles falsch!

13. Vorsicht ist besser als …

14. Die rote Welle

15. The Return of the Hunter

16. Ein trauriger Fund

17. Hausbesuch

18. Ich existiere nicht

19. Erinnerungen

20. Wunsch und Versprechen

21. Aufbruch

22. Ohne dich bin ich nichts

23. Ein wahres Weihnachtswunder

24. Seltsames Verhalten

25. Die Geburt eines Rituals

26. Die Nacht der Nächte

27. Feigling auf Pumps

28. Sarah

29. Schutz

30. Frühlingsgefühle

31. Der weiße Strauch

32. Nur ein Aberglaube?

33. Paranoia

34. Drei Klopse

35. Der rettende gelb-schwarze Fleck

36. Schonzeit

37. „Mhh.”

38. Geschenke

39. Empfangskomitee der besonderen Art

40. Wie romantisch!

41. Ich bin schon eine echte Wucht!

42. Schweigen

43. Wie es endet

44. Klassikkonzert in der St. Mary’s Kirche

45. Wie ein Schwamm

46. Selbstsüchtiger Wunsch

47. Schutz vom ersten Tag an

48. Sag auf Wiedersehen, Ada.

49. Gegensätze ziehen sich an

50. Tempus actum est

51. Wehre dich!

52. Stillstand

53. Zerstören

54. Herz oder Verstand?

Vorschau auf Band 3 „Die Jägerin – Vergangenheit und Gegenwart“

Impressum neobooks

Vorwort

Einsamkeit.

Ich fühlte mich einsam und verlassen.

Niemand konnte mir helfen.

Ich hatte panische Angst.

Denn der Schmerz war überall.

Er war in meinen Beinen, meinem Rücken,

in meinen Armen und im Kopf.

Aber am schlimmsten war es in meinem Bauch und

von dort aus abwärts.

Der Schmerz war so intensiv.

Es fühlte sich an, als würde es mich zerreißen.

Die Angst stieg in mir auf, dass es niemals enden würde.

Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und heulte.

Ich schimpfte und fluchte und bettelte um Erlösung.

Aber es hörte nicht auf.

Es hatte eigentlich gerade erst begonnen…

Es war der 29. September, als meine Tochter geboren wurde.

Pater Michaels Geburtstag.

1. Verzweiflung

Ich hörte die Stimme eines Mannes dicht neben mir reden. „Gehen Sie!” Was? Sprach er mit mir? Wieso sollte ich gehen? Ich fühlte mich nicht dazu in der Lage zu gehen. Mir taten sogar die Augenlider weh, als ich versuchte, sie zu öffnen. Ich ergab mich der Schwäche und ließ meine Augen geschlossen.

„Michael!” Aha! Er hatte den Pater gemeint. „Gehen Sie, und rufen Sie Dr. Fields! Er muss zusätzliche Blutkonserven herbringen und zwar schnell!” Wer zum Teufel war Dr. Fields? Und wozu Blutkonserven? Was ging hier vor sich? Ich versuchte erneut, meine Augen zu öffnen. Dieses Mal gelang es mir. Allerdings fiel es mir so schwer, wie eine Kiste mit zehn 1,5 Liter Flaschen anzuheben. Durch den schmalen Spalt konnte ich aber in den Raum sehen. Pater Michael stand an der Tür und sah ernsthaft besorgt aus. Und ich glaube, ich konnte Tränen auf seinem Gesicht erkennen. Wieso weinte er?

„Ihal?”, sagte ich. Selbst für meine Ohren klang es unverständlich, aber irgendwie schien er zu wissen, dass ich ihn gemeint hatte.

Sofort raste er durch den medizinischen Raum zu mir. „Ada”, flüsterte er mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen und streichelte mir über den Kopf.

„Was is los? Wo is mein Baby?”, brachte ich mühevoll hervor und wunderte mich darüber, dass meine Zunge schwer wie Blei war.

„Es ist alles in Ordnung, Liebste”, sagte er. Doch sein Gesichtsausdruck drückte das Gegenteil aus.

Panik stieg in mir auf. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, versuchte ich mich aufzusetzen. „Wo is mein Baby?”

„Du darfst dich nicht bewegen, Ada! Bitte!”, meinte Pater Michael bestimmt und drückte mich zurück auf die Patientenliege.

Ich war zwar ziemlich hinüber, dennoch war mir nicht entgangen, dass er meine Frage zum zweiten Mal ignoriert hatte. „Wo is mein Baby? Ich will mein Baby!” Meine Stimme zitterte nun vor Angst, weil ich nicht wusste, was passiert war. Ich versuchte meinen Kopf auf dem Kissen herumzudrehen, damit ich mich in dem Raum umsehen und nach meinem Kind suchen konnte. Aber aus irgendeinem Grund wollte er nicht so wie ich.

„Bitte, Ada! Du darfst dich nicht bewegen. Du musst dich ausruhen”, flehte der Pater mich an.

Ich weinte noch mehr, weil ich keine Ahnung hatte, was los war, und es machte mir eine wahnsinnige Angst. Meine Atmung wurde schneller. Ich war kurz davor zu hyperventilieren. Wieso gab er mir nicht einfach mein Kind? Wenn alles in Ordnung war, wieso zeigte er mir meine Tochter nicht? Die Angst und Verzweiflung lagen wie ein schweres Gewicht auf meiner Brust. Hastig versuchte ich Luft in meine Lunge einzuziehen, aber mir wurde nur schwindelig davon. Meine Augen blickten zur Decke, die sich merkwürdig schnell drehte. Dann wurde alles schwarz um mich herum.

2. Erwachen

Als ich erwachte, sah ich über mir die Decke meines Schlafzimmers. Angestrengt überlegte ich, was geschehen war. Langsam versuchte ich meinen Körper zu bewegen. Mit meinen Armen ging es ganz gut, auch wenn ich eine merkwürdige Schwere in ihnen verspürte. Ich strich mit ihnen über die Bettdecke. Unter meinen Fingern spürte ich die Stickereien der Überdecke, die jemand über mich gelegt hatte. Ich versuchte meine Füße zu bewegen. Auch das funktionierte. Und meine Beine? Ja, auch die konnten sich einwandfrei bewegen, obwohl auch in ihnen dieselbe Schwere lag wie in meinen Armen. Meine Fingerspitzen bewegten sich weiter tastend herum. Plötzlich spürte ich unter ihnen etwas Weiches. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass es Haare waren. Ich versuchte mich aufzusetzen, damit ich nachsehen konnte, wer es war. Allerdings kam ich nicht weit und fiel rasch wieder zurück in die Kissen. Ich hatte nur einen kurzen Blick werfen können, aber ich wusste, dass es Pater Michaels Schopf war, der neben meinem Bein auf der Matratze lag. Meine Hand wanderte blind zu seinem Gesicht und legte sich darauf. Ich fummelte herum. Irgendwie musste ich ihn ja schließlich wach machen! Er schlief allerdings so fest, dass es ihn herzlich wenig kümmerte, dass ich in seinem Gesicht herumstocherte. Also versuchte ich meine schweren Beine irgendwie so weit zu bewegen, dass ich ihn anschubsen konnte. Nach wenigen Augenblicken zuckte er zusammen. Na endlich!

 

Erschrocken schoss sein Kopf hoch, und er sah sich im Zimmer um, als müsste er sich erst wieder daran erinnern, wo er war. Dann sah er, dass ich wach war. „Ada!”, rief er überrascht aus. „Du bist wach. Endlich. Gott sei Dank.” Tränen traten in seine Augen. Er nahm meine Hand und küsste sie sanft.

Sofort entriss ich sie ihm wieder. „Ich will zu meinem Kind!” Ich bat ihn nicht darum. Ich verlangte es, ohne jegliche Umschweife. Pater Michael sagte nichts, sondern sah mich nur traurig an. „Michael, ich will sie sehen!”, verlangte ich erneut und spürte sofort, wie mir die Tränen in die Augen schossen und sich meine Kehle verengte. „Nur für einen Moment möchte ich sie in den Armen halten”, fügte ich mit brüchiger Stimme hinzu.

Der Pater seufzte und setzte sich auf die Bettkante, sah mich aber nicht an. „Du weißt, dass das nicht geht”, begann er, aber ich fiel ihm ins Wort.

„Ich will zu meinem Baby!” Meine Stimme war laut geworden, und die Verzweiflung machte sie schrill.

Aber Pater Michael ließ nicht mit sich reden. Er war unnachgiebig wie ein sturer Ochse! Wie konnte er nur so herzlos sein? Hatte er denn kein bisschen Verlangen danach, seine Tochter zu sehen? Wenn er mir mein Kind nicht geben wollte, würde ich es mir eben holen gehen!

Ich fing an, mit den Beinen die Decke weg zu strampeln und rollte mich zur anderen Seite des Bettes hinüber. Mir wurde schwindelig dabei, aber ich ließ mich davon nicht aufhalten. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und stellte mich hin. Alles in dem Raum drehte sich um mich herum, und ich hörte Pater Michaels Stimme hinter mir, die meinen Namen aufgeregt rief. Schwankend setzte ich einen Fuß vor den anderen und bewegte mich vorwärts. Meine Arme streckten sich nach der sich bewegenden Zimmertür aus. Meine Hände fuchtelten wie wild in der Luft herum und griffen nach etwas, was sie so sehr vermissten.

„Du darfst noch nicht aufstehen, Ada. Du musst dich ausruhen! Du bist noch zu schwach”, sagte der Pater und packte mich an den Schultern.

Ich wehrte mich gegen seine Hände, die mich zum Bett zurückziehen wollten. Krampfhaft versuchte ich sie abzuschütteln. Aber er war einfach zu stark, und ich war zu schwach. Ich schluchzte verzweifelt auf. Meine Knie wurden unter mir weich wie Pudding. Dann sackte ich zusammen. Ich landete in Pater Michaels Armen. Auch wenn ich dort jetzt am wenigsten sein wollte, krallte ich mich an ihnen fest. Bettelnd sah ich zu ihm auf. „Bitte, Michael. Bitte lass mich zu meinem Kind ge- .” Meine Stimme brach weg, als mich meine Tränen überwältigten.

„Es tut mir leid, Ada.” Das war alles, was er sagte.

Ich schluchzte laut auf, weil ich verstand, dass sie bereits weggebracht worden war. Und ich fragte mich, wie lange es wohl schon her war, dass man mir meine Tochter weggenommen hatte. Ich vergrub mein Gesicht in dem Stoff seiner Soutane und hielt mich an dem Mann nach Trost suchend fest, der für diesen Schmerz verantwortlich war.

3. Falsche Worte

Ich wusste nicht, wie ich zurück in mein Bett gelangt oder wie viel Zeit vergangen war, seitdem ich versucht hatte, aus meinem Zimmer zu gelangen. Ich hatte das Gefühl für alles verloren und an nichts Interesse. Trauernd lag ich in den Kissen und starrte vor mich hin. Pater Michael hatte mir etwas zu essen auf den Nachttisch gestellt. Auch daran konnte ich mich nicht erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war. Doch die Ränder des Käses waren bereits angetrocknet, was mir sagte, dass das Sandwich schon eine ganze Weile dort stehen musste. Mir war aber nicht nach essen. Und auch nicht nach trinken. Alles wonach ich verlangte, war, mein Kind zu sehen. Stattdessen öffnete sich die Tür zu meinem Schlafzimmer, und der Pater trat ein. Mein Blick war auf den Boden gerichtet, sodass ich nur seine Füße sah und wie sie sich mir näherten. Neben dem Bett blieb er stehen. „Du hast nichts gegessen”, bemerkte er. Am Klang seiner Stimme hörte ich, dass er besorgt war. „Du musst etwas essen”, sagte er fürsorglich.

Ich konnte es nicht ertragen, wie er jetzt zu mir war. Für mich klang es wie Heuchelei, dass er sich nun um mich Sorgen machte. „Ich will zu meinem Baby!”, forderte ich, ohne ihn dabei anzusehen. Ich hörte, wie er tief durchatmete. Verlor er die Geduld mit mir? Gut! Denn dann würde er mich vielleicht doch schon bald zu ihr lassen.

„Es geht nicht, Ada. Du weißt das. Wir haben es so oft besprochen”, sagte er. Meine Augen fingen an zu brennen, als die Tränen aufstiegen. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid”, säuselte er, als er sah, dass ich anfing zu weinen.

Alles in mir zog sich zusammen, als hätte mir jemand in den Bauch geboxt, und mein Herz fühlte sich an, als würde es von einer kalten Faust umschlossen. Vor Trauer und Wut verzog sich mein Gesicht. „Lass mich allein!”, brachte ich mit rauer Stimme hervor und schloss die Augen. Ich wollte ihn nicht sehen. Sein Anblick war für mich unerträglich. Er flüsterte meinen Namen und berührte mich an der Schulter. „Fass mich nicht an! Geh weg von mir! Lass mich einfach in Ruhe!”, fuhr ich ihn an. Seine Berührung war für mich entsetzlich, seine Gegenwart zuwider. Als er sich nicht rührte, drehte ich mich auf meine andere Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Irgendwie wusste ich aber, dass er mich ansah. Ich spürte seine Blicke so deutlich auf mir, als wären es seine Hände.

„Wieso weist du mich zurück? Ich will dir nichts Böses tun, Ada. Schick mich nicht weg. Nimm doch meine Hand. Sie bietet dir Hilfe und kann dir etwas von meiner Kraft abgeben. Lass mich dir doch helf- ”, begann er zu sagen, hielt dann allerdings inne, weil er sah, wie ich mir eine Hand aufs Ohr legte, damit ich seine falschen Worte nicht hören musste. Sie waren bedeutungslos für mich. Wie Staub. Man holt Luft, stößt sie wieder aus, und der Staub wurde mit ihr weggeweht. Und es war, als hätte es ihn nie gegeben.

Es verging noch ein Moment, dann spürte ich, wie sich unter mir die Matratze bewegte. Er war gegangen.

4. Meine Flucht

Die Uhr auf meinem Nachttisch sagte mir, dass es nachmittags kurz vor halb fünf Uhr war. Unter der Erde ist es schwer einzuschätzen, welche Uhrzeit ist. Oder welchen Tag wir hatten. Ich hatte seit einiger Zeit nichts mehr vom Pater gehört oder gesehen. Als er gegangen war, hatte er den Teller mit dem vertrockneten Käsesandwich mitgenommen, das nun wohl im Mülleimer lag. Wie auch schon die anderen Mahlzeiten, die er mir gebracht hatte. Ich fragte mich, was er gerade tat. Ob er schon eine neue Mahlzeit für mich vorbereitete, die ich letztendlich doch nicht anrühren würde? Oder vielleicht schlief er auch? Müde von meinem Benehmen. Ich hoffte sehr darauf, dass er in seinem Bett lag und mit träumen beschäftigt war. Denn ich hatte mir in den letzten Stunden einen Plan zurechtgelegt, um von hier weg zu gelangen.

Meine Kraft war immer noch nicht in meinen Körper zurückgekehrt. Ich war schwach, und es war mühsam, sich die vernünftigen Klamotten anzuziehen. Es hatte eine ganze Weile gedauert, wobei die Hose am schwierigsten gewesen war. Aber ich hatte es schließlich dennoch gepackt und war bereit, mich auf meine Flucht zu begeben. Eine ganze Zeit lang hatte ich es geschafft, meine Eile zu unterdrücken. Aber jetzt, wo es endlich daran war aufzubrechen, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Hastig lief ich zu meiner Zimmertür. Ich riss sie auf und wollte auf den Gang hinaustreten, als plötzlich Pater Michael vor mir stand und mir den Weg versperrte. Ich war so fassungslos, dass ich ihn nur mit offenem Mund anstarren konnte. Hatte er tatsächlich vor meiner Tür Wache gehalten? Hatte er gewusst, dass ich versuchen würde zu fliehen? War ich wirklich so leicht durchschaubar?

Als ich den ersten Schock verdaut hatte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah ihn trotzig an. „Lass mich gehen, Michael!”, verlangte ich und versuchte, mich an ihm vorbei zu drängen. Er reagierte schnell und stellte sich mir in den Weg. „Geh beiseite!”, forderte ich ihn auf. Er schüttelte nur den Kopf.

Also schön, wenn er es so haben will! Dieses Mal gab ich mir keine Mühe, um ihn herumzulaufen. Dieses Mal wagte ich einen Frontalangriff. Ich kratzte all meine Kraft zusammen und lief genau in ihn hinein. Unsanft prallte ich von ihm ab und wurde wie ein Gummiball zurückgeworfen. Pater Michael fasste mich an den Schultern und schob mich durch die Tür zurück in mein Zimmer. Schnell packte er die Türklinke und wollte die Tür verschließen. Als ich das sah, lief ich sofort los. Aber ich war zu spät. Ich rüttelte an der Klinke, schlug gegen das Holz und schrie. „Lass mich raus, Michael!” Verzweifelt hämmerte ich gegen die Tür. Ich trat mit den Füßen dagegen. Meine Finger versuchten in den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu gelangen, als könnte ich sie dadurch aufhebeln. Aber das Holz blieb unnachgiebig. Kraftlos lehnte ich mich dagegen und begann zu weinen. „Du elender Mistkerl! Lass mich gehen!”, rief ich aus und schlug ein letztes Mal mit der flachen Hand gegen die Tür. Dann rutschte ich erschöpft an ihr hinunter und blieb auf dem Boden davor sitzen. Ich wusste, dass er immer noch da war. Sein Schatten fiel deutlich unter dem Spalt der Tür in mein Zimmer. Er konnte mich also hören. „Wie kannst du mir das antun?”, fragte ich ihn. Er gab mir keine Antwort.

Ich weinte noch mehr. Meine Finger kratzten weiter über das Holz und tasteten erneut an der Klinke herum. „Bitte, lass mich raus. Ich möchte doch nur zu meinem Baby”, flehte ich Pater Michael ein letztes Mal an.

Aber er ignorierte mein Betteln. „Es tut mir leid, Ada”, hörte ich seine Stimme durch die Tür hindurch flüstern. Dann entfernten sich seine Schritte von meinem Zimmer, und ich war wieder allein und eingesperrt.

Irgendwann war ich auf dem Boden eingeschlafen, und als ich erwachte, begann ich sofort damit, die Tür erneut zu bearbeiten. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass ich sie doch noch dazu bewegen konnte, sich zu öffnen.

„Ada.”

Beim Klang seiner Stimme hörte ich abrupt mit meinem nutzlosen Schlagen und Hämmern gegen das Holz auf. „Lass mich gehen, Michael. Bitte, bitte, lass mich gehen”, bettelte ich. Ich hörte, wie er sich auf der anderen Seite der Tür bewegte. Vermutlich drehte er sich so hin, dass er direkt mit dem Gesicht zu mir saß.

„Was hast du dann vor?”, wollte er wissen. Er gab mir einen kurzen Moment, um darüber nachzudenken. Aber ich war so sehr über diese Frage verblüfft, dass ich kaum klar denken konnte. „Wo willst du hin, Ada?”, fragte er mich. Ich wusste keine Antwort darauf. „Es gibt keinen Ort, wo du leben könntest, und du hast nichts außer dem, was du an deinem Körper trägst. Du kannst nicht gehen.”

Die Wahrheit traf mich wie ein Schlag. Er hatte Recht. Ich hatte keine Ahnung, was nach meiner Flucht sein würde. Aber um ehrlich zu sein, war es mir scheißegal! Für mich zählte nur eines: Ich musste zu meinem Baby. „Bitte, lass mich raus”, flehte ich wieder. Ich begann zu weinen. Erst waren es stille Tränen, die über meine Wangen liefen. Doch dann wandelten sie sich zu merkwürdigen Klagelauten, die sogar mich erschreckten. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Das Wimmern musste einfach aus mir heraus.

 

„Grundgütiger, Ada”, flüsterte der Pater hinter der Tür. Er klang entsetzt und traurig. Aber es reichte trotzdem nicht aus, um die Tür zu öffnen und mich hinauszulassen. „Hör mir zu. Ich weiß, das alles tut dir weh. Aber du darfst eines nicht vergessen”, hörte ich ihn sagen. Ich schluchzte und wimmerte. Aber nicht, weil ich ihm dadurch signalisieren wollte, weiterzusprechen. Ich ahnte, was er sagen wollte. Nur war ich es leid, es zu hören. „Du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Und du kannst ihr nicht entgehen. Es ist dein Schicksal. Du kannst nicht einfach aufhören. Du wurdest als Jägerin geboren. Es ist deine Verpflichtung. Das hier ist dein Leben”, sagte er. Seine Stimme klang müde, als wäre er es leid, mich an diese Sache zu erinnern.

„Das hier ist nicht mein Leben. Es ist eine Rolle, in die ich geschlüpft bin, weil es andere so wollten. Mein Leben war das, was ich vor alledem hatte”, bemerkte ich bitter. Erschöpft kroch ich von der Tür weg und auf mein Bett zu.

Ich wusste nicht, was mich mehr erschütterte: die Tatsache, dass ich mein Kind niemals in meinen Armen halten oder dass der Pater so grausam war und mich niemals gehen lassen würde. Das hatte ich nun endgültig begriffen: Ich würde hier niemals herauskommen.

5. Ende der Geduld

Nicht einmal der Schlaf konnte mir helfen, Ruhe zu finden. Die Träume, die ich hatte, waren grausam. Und auch wenn ich mit offenen Augen dalag, sah ich die Bilder noch vor mir. Irgendwann hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und auch jede Empfindung abgeschaltet. Wie versteinert lag ich in meinem Bett und starrte vor mich hin. Wenn der Pater zu mir kam, um nachzusehen, ob ich seine gemachten Mahlzeiten gegessen hatte, lag ich immer noch genauso da, wie er mich zuvor schon gesehen hatte. Er seufzte dann jedes Mal, weil er feststellte, dass ich wieder das Essen hatte verderben lassen. Aber er gab nicht auf. In regelmäßigen Abständen kehrte er zurück und stellte mir etwas Frisches hin, nur um es wenige Stunden später unangetastet wegzutragen. Dann hörte ich auch den Schlüssel, der sich im Schloss herumdrehte. Er vergaß nie, die Tür zu verriegeln.

Ich saß aufrecht in meinem Bett und starrte auf die Überdecke. Die Muster ihrer Stickereien verschwammen vor meinen Augen. Ich war eine leblose Statue. Ich saß da, ohne mich zu bewegen. Ich aß nicht, weil ich keinen Hunger verspürte. Ich trank nicht, weil ich nicht durstig war. Es hatte keinen Sinn für mich. Nichts hatte für mich einen Sinn. Ich sah nichts Schönes mehr und nichts Gutes um mich herum. Ich spürte nur Kälte.

Pater Michaels Schritte ertönten im Gang vor meinem Zimmer. Die Tür wurde aufgeschlossen, und er trat ein. Er war immer da. Unaufhörlich, ohne etwas von seiner Energie zu verlieren wie ein batteriebetriebenes Spielzeug, kümmerte er sich und wollte mich davon abhalten, zu verhungern und zu verdursten. Für einen Moment blieb er im Rahmen stehen. Wahrscheinlich überraschte es ihn, mich in einer anderen Position vorzufinden als bei seinen anderen Besuchen. Rasch erholte er sich von seiner Verwunderung und kam zum Bett. Geräusche drangen an meine Ohren, die mir sagten, dass er einen Teller auf meinen Nachttisch stellte und dazu ein Glas. Es plätscherte leise, als das Wasser darin hin und her schwappte. „Ich habe dir ein paar Cracker mitgebracht. Bitte versuch doch wenigstens sie zu essen”, bat er mich. Seine Hand tauchte in meinem Blickfeld auf. Zwischen den Fingern hielt er einen Cracker.

Ich machte aber keine Anstalten, ihn zu nehmen. Ich wollte ihm den Gefallen nicht tun. Ich wollte nicht das Essen essen, das er mir anbot. Und ich wollte nicht das Wasser trinken, dessen Bläschen sprudelten, bis es nach Stunden abgestanden war. Pater Michael seufzte und senkte seinen Arm wieder. Ich spürte seine Verzweiflung, und es verschaffte mir Genugtuung.

Ich litt.

Er sollte auch leiden.

Er hatte mir keine Gnade gewährt. Nun tat ich das Gleiche mit ihm.

„Dein Schweigen und dein Verweigern bringen mich noch um den Verstand! Du müsstest dich sehen, Ada! Du bist ganz weiß und hast dunkle Schatten unter den Augen. Deine Wangen sind eingefallen und deine Lippen aufgesprungen, weil du nichts isst oder trinkst”, sagte er mir.

Was war los mit ihm? Gefiel ich ihm so nicht? Es war doch sein Werk!

„Bitte iss doch etwas. Wie sollst du denn wieder gesund werden, wenn du dich so stur verhältst?”, sagte er und hielt mir erneut den Keks vors Gesicht.

Ich ignorierte wieder sein Betteln. Er hatte es auch mit meinem getan. Und wozu sollte ich gesund werden? Was war es nütze, wenn mir das Wichtigste in meinem Leben fehlte? Doch es war einmal zu viel des Guten, und ihm riss der Geduldsfaden. Pater Michael kniete sich neben mich aufs Bett, packte mit einer Hand meinen Hinterkopf und versuchte mit der anderen, den Cracker in meinen Mund zu zwingen. Aber ich biss fest die Zähne aufeinander. Er hatte keine Chance. Das Essen zerbröselte nur zu kleinen Krümeln, die sich über die Decke verteilten. Er zog einen weiteren Cracker aus der Packung hervor und legte ihn zurecht. Ich spürte seine Finger an meinem Mund und wie sie versuchten, mit Gewalt meine Lippen auseinander zu kriegen, die sich so sehr zusammengepresst hatten, sodass es mir schon wehtat. Wieder gelang es ihm nicht. Frustriert schrie er auf und schleuderte nicht nur den Cracker, der neben mir gewartet hatte, durchs Zimmer, sondern auch die restliche Packung, die knisternd im hohen Bogen quer durch den Raum flog. „Verdammt, Ada!”, rief er aus und sprang vom Bett auf. Er drehte sich im Kreis herum und vergrub die Hände in den Haaren. Dann kehrte er zurück zu mir und packte mich an den Schultern. Kräftig schüttelte er mich durch. „Ich liebe dich, und ich brauche dich hier! Tu mir doch den Gefallen, und iss etwas!”, sagte er und versuchte, mir in die Augen zu sehen. Stur blickte ich an ihm vorbei und zeigte mich ihm völlig unbeeindruckt. „Wie kann man nur so dickköpfig sein?!”, schrie er mich an.

Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper und blieb stumm. Für eine Weile spürte ich seine Blicke auf mir. Dann seufzte er und gab sich geschlagen. Ihm fiel offenbar nichts mehr ein, was er noch tun konnte. Pater Michael lief hinüber zu der am Boden liegenden Cracker-Packung und hob sie auf. Dann verließ er den Raum. Und wieder hörte ich den Schlüssel, als er mich einschloss.