Die Jägerin - In Alle Ewigkeit

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Aus der Reihe: Die Jägerin #6
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Die Jägerin - In Alle Ewigkeit
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Nadja Losbohm

Die Jägerin - In Alle Ewigkeit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Ein Brief an dich, meine Tochter

Danksagung

Impressum neobooks

1. Kapitel

„Ib glaube, ib mub `terben, Aba.“

„So ein Blödsinn! Du wirst nicht sterben. Noch nie ist jemand an so etwas gestorben.“

„Dann werbe ib der Erste sein.“

„Du übertreibst, Michael!

„Du mubt nett zu mir seib, Aba. Ib bin schwer krank.“

„Du bist nicht schwer krank. Du hast einen Schnupfen.“

Es war nun schon das vierte Mal, dass er eine Erkältung hatte, und noch immer stellte er sich an wie ein Baby. Man müsste meinen, der Mann wäre härter im Nehmen nach allem, was er durchgemacht hatte. Ich meine, er hatte unendliche Qualen durchlitten, als Gott ihn vor so ziemlich genau eintausend Jahren unsterblich gemacht hatte. Michael hatte gegen die unglaublichsten und unheimlichsten Kreaturen gekämpft: Pockenmonster, Krallenmonster, diabolische Männer mordende Dämonen und Vampire. Er war durch die Zerstörung der Wiege des Bösen gestorben und von Gott von den Toten auferweckt worden. Und nun kapitulierte er vor einer Erkältung? Ich hatte ihn noch nie so dermaßen wehleidig gesehen. Er kam mir wie ein Fremder vor. Okay, ich will mal nicht so gemein sein. Immerhin hatte er eintausend Jahre lang unter dem Schutz des Allmächtigen gestanden, der ihn vor Krankheit und Tod bewahrt hatte. Doch nun war er ein stinknormaler und vor allem sterblicher Mensch und nicht mehr gefeit vor Viren und Bakterien. Aber musste er es mit dem sich in die Gesellschaft eingliedern so genau nehmen und zu einem dieser jämmerlichen männlichen Waschlappen mutieren, die beim ersten Niesen sterben?

Michael hüstelte, zog die Nase hoch und streckte einen zitternden Arm nach der Taschentuchpackung auf dem Nachttisch aus. Auf halbem Wege fiel sein Arm schlapp auf die Matratze zurück und er klagte: „Ib kann nib. Ib kann nib.“

Ich verdrehte die Augen und stöhnte. „Ich kann nicht, gibt es nicht. Du willst nur nicht.“

„Ib will, aber mir tub die Knochen so beh“, erwiderte er. Also wenn er noch so viel plappern konnte, ging es ihm besser, als er vorgab. „Au! Die Kissen drübben mir in den Rübben.“ Das war eine versteckte Aufforderung, dass ich die Kissen für ihn richten sollte. Michael hatte eine interessante Art entwickelt, mir, ohne es direkt zu sagen, mitzuteilen, was er wollte. Wenn er sich über die Kissen beschwerte, wollte er, dass ich sie aufschüttelte. Jammerte er über zu kalte Füße, wollte er drei Paar Socken von mir übergestreift bekommen. Beklagte er sich darüber, dass ihm heiß war, wollte er, dass ich ihm die Stirn mit einem kühlen Lappen abtupfte. Jammerte er, er sei zu schwach, den Löffel zu halten, wollte er, dass ich ihn wie ein Kleinkind fütterte. Oder auch die Taschentücher reichte.

Ich ging um das Bett herum, zog ein Schnäuztuch aus der Plastikpackung, schüttelte es auseinander und hielt es ihm vor das Gesicht. „Eure Rotzfahne, Euer Lordschaft. Werdet Ihr es eigenhändig bewerkstelligen, Euren Riechkolben von jeglichem Schleim zu befreien, oder wünscht Ihr meine Assistenz dabei?“

Michael blickte mich mit seinen braunen, fast schon schwarzen Augen grimmig an. „Du bist herzlos, Aba“, erwiderte er und zog einen beleidigten Flunsch.

Ich zuckte mit den Achseln und ließ das Taschentuch auf seine Brust fallen. Es war gut möglich, dass ich etwas herzlos und unwirsch war. Aber ich war auch genervt von seinem theatralischen Getue und solch dramatischen Worten wie: Ich mache es nicht mehr für sehr lange, Ada. Ich bin mir sicher, ich sterbe an diesem Schnupfen. Es war die vierte Erkältung, seitdem wir unser neues Leben mitten in der normalen Welt begonnen hatten, und jedes Mal war es dasselbe mit ihm. Da kam auch ich an meine Grenzen und begann, allem mit übermäßiger Gleichgültigkeit und Forschheit zu begegnen und machte dabei nicht Halt vor meinem Liebsten. Beim zweiten Mal hatte ich sogar Gott gefragt: Herr, wieso tust du mir das an? Prompt hatte ich die Antwort erhalten: Du wolltest ihn doch zurückhaben. Ja, schon. Aber doch nicht so!

„Michael“, seufzte ich und setzte mich auf die Bettkante. „Erkältungen gehören zum Leben eines normal-sterblichen Erdenbürgers dazu. Es ist nicht schön, aber da muss jeder hin und wieder durch. Du hast das nur in all der Zeit vergessen. Jetzt reiß dich ein bisschen zusammen, bitte. Selbst Rosalie stellt sich nicht so an, wenn sie krank ist. Bist du ein Mann oder eine Maus?“

„Eine Maus“, antwortete er und schnaubte sich die Nase. Als er fertig mit dem Trompeten war, rutschte er im Bett nach unten und starrte mit leerem Blick hinauf zur Zimmerdecke. „Du habt ja Recht, Aba. Ib habe eb vergebben. Ib gelobe Besserung. Aber für dieses Bal bitte ib dich noch: Hab Bitleid“, flehte er und sah mich an.

Ich lächelte, lehnte mich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Einverstanden.“ Während ich mich schwer damit tat, ihn zu betütteln, war seine Tochter ganz Feuer und Flamme, ihren Vater zu hegen, zu pflegen und zu verwöhnen. Auf ihren kleinen Füßen kam sie in unser Schlafzimmer hereingelaufen und kletterte auf das Bett. Rosalie war nun zwei Jahre und beinahe drei Monate alt. Sie war ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen, das sich mit seinen großen braunen Augen die Welt stets aufmerksam besah. Ihre braunen Haare reichten ihr schon fast bis zur Hüfte und wuchsen schneller, als ich sie abschneiden konnte. Obwohl sie zumeist ein sonniges Gemüt hatte, mischte sich gelegentlich eine Spur von Nachdenklichkeit darunter, die nicht recht zu ihrem Alter passte. Aber auf diese Weise vereinte sie etwas von ihrem Vater und mir in sich. Etwas wehmütig beobachtete ich unsere Tochter dabei, wie sie ihrem todkranken Vater ihr Lieblingskuscheltier, einen hellbraunen schlappohrigen Hasen, den sie schon als Baby von ganzem Herzen geliebt hatte, auf die Brust setzte. Wenn ich krank war oder es mir schlecht ging, brachte sie mir nie ihr Kuscheltier. Mhh, vielleicht lag es daran, dass ich durch meine nächtliche Arbeit und das Schlafen am Tage weniger Zeit mit ihr verbrachte und sich Michael überwiegend um das Bringen und Abholen aus dem Kindergarten, Arzt- und Zoobesuche kümmerte, dass Rosalie sich mit ihm mehr verbunden fühlte als mit mir. Es war nicht ganz so schlimm, wie es sich anhört, aber es war spürbar, wie sehr sie sich zu ihrem Vater hingezogen fühlte. Manchmal störte es mich, und ich verspürte einen eifersüchtigen Stich deswegen, auch wenn ich ihre Zuneigung nachvollziehen konnte. Ich liebte ihren Vater ja ebenso sehr. Nur nicht, wenn er krank war. „Rosalie, bitte geh nicht so dicht an deinen Vater heran. Du steckst dich sonst bei ihm an“, sagte ich.“

„Mummy“, quengelte sie und blickte mich flehentlich an, während sie sich der Länge nach neben ihren Vater legte und ihren Kopf an seine Schulter lehnte.

 

Ich machte mich gerade noch unbeliebter bei ihr, aber ich tat es nicht aus Missgunst, sondern weil ich besorgt um sie war und auch weil ich keine Lust hatte, zwischen zwei Kranken umherzuspringen. Ist das egoistisch von mir? Auf jeden Fall! „Na komm, Schätzchen“, sagte ich, stand auf und ging auf die andere Seite des Bettes. „Dein Daddy muss sich ausruhen, damit er schnell wieder gesund wird. Lassen wir ihn jetzt schlafen, okay?“, sagte ich und reichte ihr meine Hand. Rosalie schüttelte den Kopf und schmiegte sich nur noch enger an ihren Vater. „Rosalie!“, sagte ich ihren Namen streng, doch sie blieb stur liegen. Wie war das? Sonniges Gemüt, nachdenklich und - dickköpfig. Wie ihre Eltern. Fantastisch!

„Lass sie doch, Aba, wenn sie böchte“, mischte sich Michael ein. „Sie ist bür mich die beste Bedizin.“ Zärtlich schmiegte er seine Wange an ihre Stirn und lächelte glückselig. Für einen kurzen Moment war ich versucht nachzugeben, doch dann hustete Michael heftig, und in seiner Lunge rasselte es, als würden in ihr Ketten liegen. Na, wenn das mal nicht reichte, um Rosalie anzustecken.

„Schluss damit! Junge Dame“, ich beugte mich hinunter und hob Rosalie hoch, „du kommst jetzt mit mir mit. Daddy hat deinen Stoffhasen, der ihm hilft, wieder gesund zu werden. Wir bringen uns nun beide lieber in Sicherheit.“ Meine Tochter protestierte zwar lautstark, schlug aber wenigstens nicht um sich, wofür ich sehr dankbar war. Sie streckte ihre kurzen Arme nach ihrem Vater aus und bettelte darum, ihm noch einen letzten Kuss zu geben, bevor wir das Zimmer verließen. Ich war streng, strenger als Michael, aber ich war auch keine Rabenmutter. Mit Rosalie auf dem Arm lehnte ich mich ein Stück hinunter, damit sie ihm ein Küsschen auf die Stirn geben konnte.

So sah nun das Leben der Jägerin aus: ein Kampf mit Quengelei von einem, nein, zwei Kindern, Erkältungen und Erziehungsmaßnahmen und, nicht zu vergessen, Vampiren. Ich gestehe, ich würde diese im Moment allem anderen vorziehen.

2. Kapitel

Ein Jahr war vergangen, seitdem die St. Mary’s Kirche zerstört worden war und wir unser Zuhause verloren hatten. Unmittelbar danach war die Frage aufgetaucht: Wohin? Viele weitere Fragen hatten sich uns damals gestellt, auf die es nur eine passende Antwort gegeben hatte: Aidan und Laney. Das Haus an der Küste war perfekt. Zum einen war Rosalie dort versteckt vor den gierigen und hinterlistigen Händen der Kirche, die ihren Vater unendlich viele Jahre betrogen hatte und auch nicht vor seiner Erbin Halt machte. Ich war zunächst zwar nicht sehr angetan gewesen von der Idee, meine kleine Tochter an einen Ort zu schicken, an dem Gefahren lauerten wie steile Klippen, spitze Steine und Bodenspalten, in die man hineintappen konnte. Aber dann hatte sich gezeigt, dass dies wohl der ideale Unterschlupf für uns war, um unterzutauchen, abzuschalten, die Geschehnisse zu verarbeiten und, in Michaels Fall, anzukommen in der normalen Welt. Mithilfe meines Bruders Alex, der herumtelefonierte und uns in unser Versteck brachte, waren wir zu unseren Freunden und unserer Tochter gezogen. Ja, auch ich hatte die Stadt verlassen und mir eine kleine Auszeit gegönnt. Ich hatte mich von Michael verabschieden müssen. Ich hatte seinen letzten Atemzug gehört, seinen letzten Herzschlag gespürt. Und dann war der Mann, den ich mit jeder Faser meines Seins liebte, zu Staub zerfallen. Ach was! Er war zu weniger geworden: Luft. Er war zu Luft geworden! Und dann – dann war er plötzlich wieder dagewesen. Er lebte. Er war zu einem sterblichen Menschen geworden, der sich frei bewegen konnte und nicht mehr an einen Ort gebunden war. Wie sollte ein Durchschnittsverstand wie meiner so etwas begreifen können? Ich hatte eine Pause gebraucht. Wir alle hatten sie gebraucht. Und zwei Wochen Erholung vom Jägerin-Dasein ist nicht viel, ganz besonders dann, wenn es um Vampire geht. Sorry, Leute. Aber ihr wisst, wie ätzend ich die Blutsauger finde.

Es war herrlich gewesen an der Küste! Das Haus hatte nicht viel Platz geboten für vier Erwachsene und zwei Kinder, denn Mailin, Aidans und Laneys Tochter, war ebenfalls mit uns dort, aber die Enge hatte es nur noch gemütlicher gemacht. Alles war so wunderbar normal gewesen. Wir waren spazieren gegangen durch die Landschaften, hatten uns den kalten Küstenwind um die Nasen wehen lassen und hatten das Salz in der Luft gerochen. Wir hatten Barbecues veranstaltet, für die wir mit Aidan zum Einkaufen in nahegelegene Dörfer gefahren waren. Zusammen mit Rosalie hatten wir den Strand und die Lebewesen des Meeres entdeckt wie Krebse, Muscheln und eklige Würmer, die sich aus dem Sand gebohrt hatten. Mein kleines Mädchen hatte das ganz wunderbar gefunden und sie in die Hand genommen, um sie eingehender zu betrachten und mir zuzuwerfen, woraufhin ich beinahe mein Frühstück von mir gegeben hatte. Wir hatten mit Brot Enten gefüttert und waren um unser Leben gelaufen, als gierige Möwen uns attackierten und uns den Beutel mit den Brotstücken entreißen wollten. Es war ein Heidenspaß! Und während Rosalie des Nachts friedlich geschlummert hatte, standen Michael und ich Arm in Arm am Rande der Klippen, vor denen mir vor nicht allzu langer Zeit noch gegraust hatte, und schauten auf das Meer hinaus, auf dessen Oberfläche das Mondlicht und die Sterne geglitzert und getanzt hatten. Es geschah mehr als einmal, dass wir uns dort liebten. Der steinige Boden war nicht gerade der bequemste Untergrund und es war kühl, ja geradezu kalt gewesen. Doch Michael hatte genug Hitze für uns beide gehabt und somit fror ich nie. Nur wenn ich ihn nachdenklich allein dort stehen sah, wie er in die Ferne starrte, der Wind zerzauste sein dunkles Haar und zerrte an seinen Kleidern, als wollte er sie ihm vom Leib reißen, was mich nicht gestört hätte, war mir kalt geworden. Ich hatte mich dann jedes Mal gefragt, was in seinem Kopf vorging. War er glücklich hier mit uns? Vermisste er etwas? Wünschte er sich, die Zeit zurückdrehen zu können? Wenn ich ihn danach gefragt hatte, versicherte er mir, er sei glücklich und zufrieden und wie um seine Worte zu untermalen, hatte er mich leidenschaftlich geküsst und mich fast überzeugt. Ein Rest Zweifel war stets geblieben. Bis heute. Ich wollte ihm glauben, ich musste ihm glauben. Wieso hätte er sonst den Pakt mit Gott geschlossen, der ihn zu mir zurückgebracht hatte? Vielleicht litt ich mittlerweile unter Wahnvorstellungen und bildete mir alles nur ein. Vielleicht war er einfach nur überwältigt gewesen von der Welt, die er so lange nicht gesehen, geschweige denn erkundet hatte, und die nun offen vor ihm lag. Er hatte die Möglichkeit, überall hin zu gehen. Stattdessen beschränkte er seine Rückeroberung des Erdkreises auf die kleine Hütte am Meer. War es das – fühlte er sich hier an jenem Ort ebenso sehr gefangen wie einst in der St. Mary‘s Kirche? An einem gewissen Punkt hatte ich mich dazu entschieden, es gut sein zu lassen. Ich wollte mich nicht selbst mit diesen Gedanken quälen, die sich am Ende ohnehin als irrsinnig entpuppen würden. Die Zeit würde mir schon zeigen, was stimmte und was nicht.

Zeit. Ja, die Zeit ist ein heimtückisch‘ Ding. Sie war rasend schnell verflogen, und schon bald waren die zwei Wochen vergangen, in denen wir wie eine ganz normale Familie gelebt hatten. Dann aber hatte uns unsere Vergangenheit eingeholt. Nicht auf monstermäßige Art. Nein. Die Viecher war ich ein für alle Mal los. Aber dafür hatte uns die Vergangenheit auf blutsaugende Art eingeholt. Wobei das auch nicht recht stimmt. Jedenfalls nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken. Uns hatte kein vampirischer Treck überfallen und uns allesamt abgeschlachtet in unserer kleinen, gerade erst gefundenen heilen Welt. Das wäre ja grausam gewesen und davon hatten wir doch in der letzten Zeit wahrlich genug gehabt. Die Blutsauger holten mich ein, indem Michael auf sie zu sprechen kam. „Oh bitte! Muss das sein? Wieso fängst du jetzt davon an?“, hatte ich gejammert und das Gesicht in meinen Händen vergraben. Gerade hatte ich noch genüsslich an einem Steak herumgeknabbert und er fing mit so etwas an. Mann ey!

„Wir müssen darüber reden, Ada. Es wird Zeit“, hatte Michael gemeint und meine Hände von meinem Gesicht gezogen. Da war sie wieder: die heimtückische Zeit.

Ich hatte ihn zuckersüß angelächelt und ebenso zuckersüß entgegnet: „Du hast wie immer Recht, Liebster.“

„Ada!“

„Was? Ich sagte doch, du hast Recht. Was willst du noch von mir?“

„Der Ton macht die Musik.“ Michael hatte sich in einen Sterblichen zurückverwandelt. Er konnte überall hin gehen, wohin ihn seine Füße trugen. Er war nicht mehr der Leiter der St. Mary’s Gemeinde. Ja, es hatte sich einiges verändert. Aber was sich wohl niemals, niemals, niemals ändern wird, ist sein oberlehrerhaftes Benehmen und sein Pflichtbewusstsein den Menschen gegenüber. Bewundernswert, aber auch schade. Doch wer das eine will, muss das andere mögen, nicht wahr?

Und somit hatte eine lange Diskussion begonnen darüber, dass ich zurückkehren musste, um meiner Aufgabe als Jägerin nachzukommen und die Menschen meiner Heimatstadt zu beschützen. Ich hatte sie sich viel zu lange sich selbst überlassen, wie Michael befand. Hey! Dan Meyers, der Reporter, und ich hatten sie gewarnt, aber sie hatten nicht hören wollen und sich verschlossen vor diesem übernatürlichen Schnickschnack, wie Alex mir aus den Kommentaren, die unter dem Internetvideo des Reporters gepostet worden waren, vorgelesen hatte. Aber ich hatte schon verstanden. Ich war die Jägerin. Es war meine Pflicht und es war - na was? - Zeit, das zu tun, was eine Jägerin tut.

Unsere Rückkehr in die Stadt gestaltete sich allerdings als problematisch. Ich galt für die Öffentlichkeit schon jahrelang als tot und Michael war im Feuer, das die St. Mary’s Kirche zerstört hatte, umgekommen. Es hatte uns alle überrascht zu sehen, dass diejenigen, die über Michael standen, alle erdenklichen Hebel in Bewegung gesetzt hatten, um seinen Namen aus den Schlagzeilen, die unweigerlich auf die Feuersbrunst gefolgt waren, herauszuhalten. Wir hatten zwar versucht, den Medien fernzubleiben, keine Zeitung gelesen und waren allem aus dem Weg gegangen, was uns irgendwie informieren konnte. Wir hatten sogar Alex gebeten, uns damit in Ruhe zu lassen, damit wir Abstand zu allem bekamen. Doch wie immer hatte er unseren Wunsch ignoriert und uns ständig auf dem Laufenden gehalten. Er war ein hoffnungsloser Fall. Er hatte vorübergehende Amnesie vorgetäuscht und munter drauf los geplappert. Im Nachhinein betrachtet, war es wohl besser, Bescheid zu wissen. Somit wussten wir, dass Michaels Name der Allgemeinheit nicht bekannt und auch kein Bild von ihm verbreitet worden war. Stattdessen war ein anderer Name aufgetaucht, ein gewisser Pater Ronald MacDugal, über den Alex nur so viel herausgefunden hatte, dass dieser eine Nachbargemeinde leitete und nun auch allgemein als Leiter der St. Mary’s Gemeinde galt. Die Berichte hatten es so ausgelegt, dass er schon immer für sie verantwortlich gewesen war. Also bitte! Geht es noch abgedrehter? Wie sie mit allem durchkamen? Nun, sie wussten, die Mitglieder der St. Mary’s Kirche konnten nicht den Mund auftun und etwas anderes behaupten, und schon gar nicht konnten sie herumerzählen, ein unsterblicher Priester hätte unter der Kirche gehaust. Erinnern Sie sich noch, was mit Dan Meyers geschehen war? Man hatte Hexenjagd auf ihn gemacht, und man würde Hexenjagd auch auf die Gemeindemitglieder machen. Die Obersten der Kirche wussten dies, und Michaels ehemalige Schäfchen wussten es auch. Was aber stimmte, war, dass Pater MacDugal tatsächlich verantwortlich für die St. Mary’s Gemeinde war, da man sie in seine eigene Gemeinde klammheimlich eingegliedert hatte, nun da die Kirche nicht mehr war. Einige Mitglieder hatten diese Entscheidung akzeptiert und sich gefügt. Aber es gab genügend, die es nicht hingenommen hatten und Pater MacDugal nicht als ihren Priester ansahen, folglich waren sie aus der Gemeinde ausgetreten, was ihrem Zusammenhalt aber nichts anhatte. Für sie war Michael ihr Gemeindeleiter und würde es immer bleiben. Ein paar von ihnen fragten mich sogar, wann er wieder ein Priesteramt bekleiden würde. Sie hofften immer noch auf dieses äußerst unwahrscheinliche Szenario. Doch ich wusste es besser. Er sprach zwar nie darüber, aber ich konnte ihm ansehen, wie tief die Wunde war, die der Betrug gerissen hatte. Jedes Mal, wenn seine ehemaligen Gemeindemitglieder das Thema ansprachen, spürte ich, wie Michael sich versteifte und sich seine Atmung beschleunigte vor unterdrückter Wut. Nein, er war ganz und gar nicht gut darauf zu sprechen. Er hatte sicherlich nicht seinen Glauben an Gott verloren, aber den Glauben in die Menschen, die ihm dienten, schon. Da war es umso rührender, die Treue und Verbundenheit seiner ehemaligen Schäfchen zu erleben. Sie boten uns ihre Hilfe an und erhielten auch weiterhin Beistand von Michael, obwohl er es nicht hätte tun müssen. Aber nach mehr als eintausend Jahren konnte er wohl einfach nicht aus seiner Haut.

 

Da man Michael nicht weiter kannte, weder sein Gesicht noch seinen Namen, schien es für ihn leichter zu sein, in die Stadt zurückzukehren. Aber was war mit mir? Ich war tot, sozusagen. Ich existierte nicht mehr. Ich war selbst zu einem Schattenwesen geworden. Mein Name konnte nicht einfach an einem Klingelbrett auftauchen. Was also tun? Nun, alle Dokumente wie Geburtsurkunden, Ausweise und so weiter waren nicht mehr vorhanden. Es gab nichts, was auf unsere wahre Identität deutete. Somit lautete das Zauberwort: Namensänderung. Ein Gemeindemitglied kannte ein anderes, das wiederum jemanden kannte…und so weiter und so fort. Kurz gesagt: Connections wurden genutzt, die schon vor Jahren geknüpft worden waren und nun zum Einsatz kamen. Es dauerte natürlich eine Weile, bis wir alle Anträge durchhatten und endlich unsere neuen Ausweise in Händen hielten. Doch dann war es schließlich soweit und wir kehrten als Mister und Misses Dale zurück in die Stadt. Wie sehr ich mir wünschte, es wäre wahr, Ehemann und Ehefrau zu sein. Da Michael aber sein Priesteramt nicht aufgegeben und aus der Kirche nicht ausgetreten war und es auch nicht tun konnte, ohne preiszugeben, dass er noch am Leben war, stand dies nicht zur Debatte. Manch einer denkt nun: Sie haben einen neuen Namen, eine neue Identität angenommen. Da sollte eine Heirat möglich sein. Sicher, das stimmt. Doch was soll man(n) tun, wenn das Gewissen etwas anderes sagt und einen regelmäßig daran erinnert, dass man(n) nach wie vor Priester ist und Ehelosigkeit geschworen hatte? Es fehlte der allseits bekannte Schlussstrich in dieser Angelegenheit. Mit seinem scheinbaren Tod war dieser zwar äußerlich gezogen, allerdings hatte Michael ihn nicht innerlich gemacht. Hin und wieder sprach ich das Thema, nicht direkt, eher durch die Blume und um drei Ecken, an. Ich kam mir unsagbar schlau vor, doch mein Herzblatt wusste genau, was sich hinter meinen Worten verbarg. Es sagte dann immer: „Ada, du bist meine Gefährtin, meine Königin.“ Und dann folgte stets ein Vortrag darüber, dass es einmal eine – mir wird ganz schlecht bei dem Wort – Zeit gab, in der Gefährtin auch Ehefrau bedeutete. Damit wollte mir Michael verklickern, dass er uns als verbunden, einander zugehörig, verheiratet sah. Sagt eine Hochzeit denn etwas anderes als das aus, dass man verbunden und zueinander gehört? Nein, ich glaube nicht. Und wir brauchten auch kein Stück Papier, auf dem geschrieben stand, was wir wussten. Dennoch schlichen sich in meine Träume gelegentlich solche Szenen, in denen ich Michael in einem schwarzen Anzug und mich in einem weißen Spitzenkleid vor dem Altar stehen sah. Beim Anschnitt der Hochzeitstorte wachte ich dann zumeist auf und dachte seufzend: Hach, wäre es doch wahr.

Wir wohnten nicht in derselben Gegend, in der die St. Mary’s Kirche gestanden hatte. Unsere Wohnung lag einige Kilometer davon entfernt in einer Nachbarschaft, bei der es kaum bis gar nicht möglich war, dass man mich erkannte. Da ich weiterhin überwiegend nachts mein Dasein fristen würde, um die Vampire zu jagen, war meine eigenartige Augenfarbe kein Problem und sollte es doch erforderlich sein, dass ich mich im Tageslicht zeigen musste – nun, ich hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit meinem früheren Schneewittchen-Look, sondern sah eher aus wie eine rothaarige böse Hexe – O-Ton Alex. Die Wahrscheinlichkeit, dass man mich wiedererkannte, war gen null.

Michaels ehemalige Gemeinde erwies sich beim Bezug unserer 4-Zimmer-Wohnung als ein wahrer Segen. Wir hatten kein Geld, um Möbel zu kaufen und was man sonst noch alles benötigte. Wir besaßen nichts außer dem, was wir am Leib trugen. Aber die treuen Menschen, mit denen ich oft auf den Holzbänken in der St. Mary’s Kirche den Predigten Michaels gelauscht hatte, versorgten uns großzügig mit allem, was es zu einem Neustart braucht. Sie spendeten Möbel, Teppiche, Geschirr, Besteck, Kleidung, Spielzeug für Rosalie und Bücher für Michael. Auch mich bedachten sie mit Geschenken. Es passierte nicht selten, dass April, die Mutter der kleinen Sarah, vorbeikam und mir Kleidung brachte und meinte, sie hätte sie kaum getragen und würde sie nicht mehr benötigen. Das Preisschild, das daran hing, übersah sie dabei geflissentlich. Auch die Tatsache, dass die Klamotten zufällig meine Größe hatten und der Frau, die einen Kopf größer und schmaler war als ich, unmöglich passen konnten, ließ darauf schließen, dass sie sie nur für mich gekauft hatte. Im Gegenzug hüteten wir Sarah, wenn April arbeiten musste oder ausgehen wollte. Ich hatte nie zuvor solche Aufopferung und Großzügigkeit erlebt. Alle gingen geradezu verschwenderisch mit ihrem Hab und Gut um und überhäuften uns mit liebevollen Gesten und Fürsorge. Man brauchte nur zu sagen Mir ist kalt! und schon warf einem jemand eine Strickjacke um die Schultern. Alles, was unsere Herzen begehrten, war also da und wir erhielten sogar noch mehr. Michael erhielt von einem Gemeindemitglied, das eine Anwaltskanzlei führte, sogar ein Jobangebot, bei dem er als Mädchen für Alles fungierte. Ich freute mich sehr für ihn, dass ihm diese Möglichkeit geschenkt wurde. Abgesehen davon half es uns sehr dabei, die Miete für die Wohnung zu bezahlen. Man bezahlte ihm eigentlich schon zu viel. Nun ja, ich weiß natürlich nicht darüber Bescheid, wie viel jemand mit seinem Aufgabenbereich, noch dazu ein Ungelernter, normalerweise verdient. Sein Gehaltsscheck erschien mir dann aber doch ungewöhnlich hoch. Nicht einmal ich hatte so viel Cash auf die Hand bekommen, als ich noch in dem süßen, kleinen Souvenirshop gearbeitet hatte. Vielleicht hatte man mich behumst? Es war einfach unheimlich, wie leicht ihm alles zufiel, während ich einige Probleme hatte, mich wieder in die wirkliche Welt einzuleben. Vor meiner Zeit in der St. Mary’s Kirche hatte ich mich in der Gesellschaft und auf unserem Planeten fehl am Platze gefühlt. Dann war mir meine wahre Bestimmung offenbart worden und ich hatte mich an mein Leben im Verborgenen gewöhnt. Jahrelang war es mir verboten gewesen, mich den Menschen zu zeigen, da sonst der Schwindel über mein Ableben aufgeflogen wäre. Ich führte mein Leben zwar weiterhin zu neunzig Prozent im Dunkeln. Trotzdem kam es vor, dass ich am Tage hinausgehen und ganz alltägliche Dinge erledigen musste, so zum Beispiel wenn Michael mit einer Erkältung halbtot im Bett lag. Dann war es an mir, Rosalie vom Kindergarten abzuholen, Einkäufe zu erledigen, Termine mit Handwerkern wahrzunehmen und mich über meine Mitmenschen zu ärgern, die rücksichtslos, arrogant und mit Scheuklappen vor den Augen umherliefen. Es fühlte sich an wie zu der Zeit, als ich noch nicht die Jägerin gewesen war. Die Mitglieder des Aufräumkommandos, die ich überwiegend nur als in Schwarz gekleidete Männer kannte, die hinter mir aufgeräumt hatten, plötzlich in ihren alltäglichen Berufen zu erleben, brachte mein Bild der Realität noch zusätzlich ins Wanken. Aidan in einen feinen Zwirn mit Seidenkrawatte und goldenen Manschettenknöpfen gesteckt zu sehen, ließ ihn auf einmal so normal erscheinen. Und eigentlich war er das ja nun auch wieder, jetzt da die Quelle zerstört worden war und die Monster nicht mehr schlüpfen konnten. Das Aufräumkommando war nicht mehr nötig. Wenn ich nun auf Patrouille ging, wartete niemand mehr auf mein Signal, zu dem und dem Ort zu fahren und sauber zu machen. Ich jagte nur noch Vampire und diese zerfielen zu Staub, wodurch sie sich quasi selbst entsorgten.

Für Michael hingegen schien das normal-sterbliche Leben das reinste Kinderspiel. Problemlos schaltete er von Gefangenschaft-Modus auf Freiheit und genoss das Leben in unserer modernen Welt sichtlich, in der er zum ersten Mal mit dem Bus und der U-Bahn fuhr, was für ihn ein echtes Abenteuer war. Es war faszinierend gewesen, ihn dabei zu beobachten, wie er den gelben Zug bei der Einfahrt mit kindlicher Neugier angestarrt und dabei genauso ausgesehen hatte wie der kleine vierjährige Junge, der an der Hand seines Vaters mit dem Zeigefinger auf die Bahn deutete und neben Michael stand. Michael hatte sich hingehockt und sich mit dem Kleinen unterhalten, während ich kopfschüttelnd auf einer Bank gesessen hatte, die etwas abseits stand. Ich hatte meine Begeisterung für Züge im Alter von sechs Jahren verloren, nachdem mich mein bescheuerter Bruder aus dem Zug gestoßen und sich meine Jacke in der sich schließenden Tür eingeklemmt hatte. Ich verstand schon, dass es für Michael aufregend sein musste, die technischen Wunder unserer Zeit mit eigenen Augen zu sehen, und somit wartete ich geduldig, bis er sich an den Zügen sattgesehen hatte. Doch seine Entdeckungsreise war noch lange nicht zu Ende. Es folgten Rolltreppen, ellenlange Aufenthalte in Supermärkten, in denen er staunend vor den Regalen stand und die Entscheidung, welche Sorte Schokolade er wollte, hinauszögerte, obwohl er ganz genau wusste, dass er die mit den ganzen Haselnüssen wollte, einfach um die bunte Vielfalt zu genießen, Fahrten mit gläsernen Fahrstühlen in Einkaufszentren, in denen wir an die hundert Mal rauf und wieder runter, rauf und wieder runter, rauf und wieder runter fuhren, bis uns ein aufmerksamer Sicherheitsmitarbeiter fragte, ob wir versuchten einen Rekord aufzustellen. Da er auch noch nie in einem Auto gesessen hatte und damit durch die Gegend gefahren war und auf diese Erfahrung auch nicht verzichten wollte, nahmen wir uns einmal ein Taxi. Michael war so begeistert von diesem Erlebnis, dass er während der Fahrt auf dem Beifahrersitz ständig vor dem Gesicht des Fahrers herumgefuchtelt hatte und wissen wollte, wofür dieser oder jener Knopf oder Hebel war. Ich hatte ihn an den Haaren ziehen müssen, damit er endlich still saß und den Fahrer nicht ablenkte, der Michael beäugt hatte, als wäre dieser ein aus einer Anstalt entflohener Irrer. Das Kino war ebenfalls etwas, was Michael zum ersten Mal erlebte, wo er vor Schreck zusammengefahren war und wie ein kleines Mädchen aufgeschrien hatte, weil er die Lautstärke nicht erwartet hatte. Dabei hatte ich ihn noch gewarnt, was er allerdings mit einer lässigen Handbewegung abgetan hatte. Als wir danach an einer Dönerbude vorbeigekommen waren, wollte er unbedingt dieses exotische Essen kosten. Er war so begeistert davon gewesen, dass er drei Wochen lang jeden Tag dorthin ging und uns beiden einen Döner zum Abendessen mitgebracht hatte. Ich war überhaupt nicht begeistert davon gewesen, denn während das Essen bei ihm nicht auf den Hüften landete, brauchte ich es am dritten Tag nur anzusehen und schon zeigte die Waage wieder zwei Kilo Speck mehr an. Nach diesen drei Döner-Wochen entwickelte Michael ein Faible für chinesisches Essen. So sehr sich sein Gaumen an den fremden Geschmäckern erfreute, sein Magen nahm es ihm übel und seit mehr als eintausend Jahren musste Michael reiern, als gäbe es kein Morgen mehr. Es ist kein Wunder, dass danach sein Interesse an chinesischem Essen schlagartig endete.