Krone der Drachen

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Aus der Reihe: Das Making of Riley Paige #5
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KAPITEL DREI

Die Sonne brannte auf Lenore herunter, während sie und die anderen weiterliefen. Um sie herum lagen Weizen- und Gerstenfelder, die sich sanft im Wind bewegten, Trockenmauern, die sie trennten, und Viehtreiberpfade, die ihnen den Weg von einem Ort zum anderen wiesen. Hier und da stand eine Vogelscheuche auf den Feldern oder eine kleine Anzahl Bäume unterbrach die Monotonie der Landschaft.

Sie waren jetzt seit Tagen unterwegs, bewegten sich mit Vorsicht und hielten sich an die kleineren Wege zwischen den Feldern. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung, aber sie wusste, dass sie sich nicht beschweren sollte. Sie hatten das Glück, jetzt nicht tot zu sein. Im Vergleich dazu war ein wenig Unbehagen nichts.

„Geht es Euch gut, Prinzessin?“, fragte Odd. Er war besorgt um Lenores Wohlergehen, seit sie die Stadt verlassen hatten und aufs Land gegangen waren. Er sah in edlen Kleidern immer noch seltsam aus, sein geschorenes Haar passte nicht dazu und er hielt seinen Umhang um sich, als wäre er ein Ersatz für seine Mönchsrobe.

„Mir geht es gut“, sagte Lenore. In Wahrheit war sie hungrig und müde und verängstigt, aber sie würde stark sein. Sie wusste, wie sie jetzt aussehen musste. Ihre Kleidung war fleckig und an den Rändern zerrissen, weil sie sich an Brombeerhecken verfangen hatte, durch die sie sich hatten durchkämpfen müssen. Ihr dunkles Haar war zurückgebunden, um es aus ihrem Gesicht zu halten, und das Sonnenlicht blendete sie.

Erin ging voran und stützte sich auf den Stock, der ihren kurzen Speer tarnte. Sie war schmutziger als beide von ihnen, weil sie immer die erste war, die durch Bäche oder über niedrige Mauern stürzte. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, schimmerte ihre Rüstung, und ihre Gesichtszüge unter ihrem kurzen Haar sahen entschlossen aus, die Schmerzen, die sie fühlen musste, nicht  zu zeigen. Sie hielt nach Bedrohungen Ausschau und betrachtete jeden Busch, Baum und jedes mit Weizen gefüllte Feld misstrauisch. Sie war in den letzten Tagen recht still gewesen und Lenore wusste nicht, ob es ihre anhaltende Wut auf sie war, dass sie nicht geblieben waren, um zu kämpfen, oder die Trauer über den Tod ihrer Mutter.

Lenore teilte diesen Kummer und auch den Zorn, der damit einherging. Wenn sie die Augen schloss, konnte Lenore immer noch den Moment sehen, in dem Ravin sein Schwert vor ihrer Mutter erhoben hatte, die hilflos an einen Hinrichtungspfahl gebunden war. Sie konnte sich dem Anblick dieser Klinge nicht entziehen, die in ihre Mutter eintauchte und sah den Moment, in dem sie gestorben war, immer und immer wieder. Warum sollte es für Erin anders sein?

„Könnt Ihr etwas vor Euch sehen, Erin?“, fragte Odd.

Erin antwortete nicht.

„Erin?“, fragte Lenore. „Ist der Weg frei?“

„Es ist alles frei“, antwortete Erin. Sie sah sich um und warf Odd einen harten Blick zu, bevor sie antwortete. „Ich denke, dass vor uns ein Dorf liegt, hinter diesen Bäumen. Ich kann Schornsteinrauch sehen.“

Lenore schaute in die Ferne und konnte Rauch sehen, genau wie ihre Schwester sagte. Sie hoffte, dass es Schornsteinrauch war. Es gab zu viele schlimmere Dinge, die man so kurz nach einer Invasion erwarten könnte.

„Wir sollten vorsichtig vorgehen“, sagte Odd, als würde er dasselbe denken.

„Was ist los mit Euch?“, schoss Erin zurück. „Angst?“

Lenore hielt einen Seufzer zurück. Es war so gewesen, seit sie losgegangen waren. Zuvor schienen Erin und Odd trotz der Seltsamkeit des ehemaligen Mönchs eine perfekte Ergänzung zu sein. Nun … gab es Spannungen zwischen ihnen. Sie übten kaum miteinander und Erin nahm nicht an Odds Morgenmeditationen teil. Mit Lenore schien keiner ein Problem zu haben, aber die Spannung zwischen den beiden war spürbar.

„Wir werden es uns genauer ansehen, wenn wir näher herankommen“, sagte Lenore. „Wenn es ausgebrannt ist, müssen wir weitergehen, aber ich glaube nicht, dass es so sein wird.“ Ravin glaubt, er kann das Land beherrschen, also will er nicht alles verbrennen.“

Nur seinen Namen zu sagen, ließ Lenore ihre Hände zu Fäusten ballen.

„Dort könnten Wachen sein“, sagte Odd.

„Dann töten wir sie“, schoss Erin zurück.

Lenore ging weiter. „Wir müssen es riskieren. Wir brauchen mehr Vorräte.“

Diese erwiesen sich als kostspielig. Weil sie für diesen Moment vorgeplant hatten, hatten sie Geld und Schmuck mitnehmen können, der bei Bedarf verkauft werden konnte, aber trotzdem war Lenore besorgt, dass sie nicht genug mitgebracht hatten.

„Wir können nicht für immer davonlaufen“, sagte Erin.

„Ich könnte einen sicheren Ort für uns finden“, sagte Odd. „Irgendwo jenseits des Königreichs.“

Lenore blieb auf der Strecke stehen. Sie hatte keine Zeit, dieses Problem jetzt zu lösen, aber sie wollte etwas klarstellen. Sie starrte die anderen an und ihr Gesichtsausdruck verriet ihre Entschlossenheit.

„Hier geht es nicht ums Davonlaufen“, sagte sie. „Wir sind aus der Stadt geflohen, aber ich werde nicht mein ganzes Leben damit verbringen, wegzulaufen. Ravin wird das nicht gewinnen, nicht nach allem, was er getan hat. Streitet euch über alles andere, wenn ihr wollt, aber wir werden dieses Königreich zurückerobern.“

Sie sahen sie erst überrascht an, aber dann mit einem Hauch von Respekt. Lenore ging jedoch schon wieder weiter. Sie hatte nicht genug Zeit, um das Problem zu schlichten, das die beiden hatten. In diesem Moment fühlte es sich an, als hätte sie bereits zu viel Zeit verschwendet. Sie hatte sie damit verschwendet, die Prinzessin zu sein, die alle erwartet hatten. Sie hatte sie damit verschwendet, sanftmütig, gehorsam und passiv zu sein.

Das würde sie jetzt nicht mehr tun. Für Lenore fühlte es sich an, als würde irgendwo in ihr ein Feuer brennen, angeheizt von all dem Verlust, den sie in den letzten Monaten empfunden hatte, all den Arten, wie sie betrogen oder verletzt worden war oder die von ihr gehen zu sehen, die sie geliebt hatte. Den Tod ihrer Mutter mitanzusehen, war das schlimmste gewesen, aber es war nicht das einzige. Ihr Bruder Rodry war tot und auch ihr Vater. Ihre Schwester Nerra war fort und Lenore wusste nicht, ob sie lebte oder tot war. Greave fehlte ebenfalls und er war auch nicht dafür geeignet, in einen Krieg verwickelt zu werden.

Lenore war es auch nicht gewesen, aber es fühlte sich an, als würde dieses Feuer in ihr etwas in ihr verhärten, wie die Hitze von Devins Schmiede. An ihn zu denken, brachte eine Welle anderer Emotionen mit sich und sie wünschte, er wäre da – dass er sie finden würde. Lenore wusste jedoch, dass sie sich konzentrieren musste. Sie durfte nicht abgelenkt werden, auch nicht von dem Gedanken an Devin.

Sie liefen weiter und bald lag ein Dorf vor ihnen, eingebettet zwischen Bäumen auf der einen Seite und offenen Feldern auf der anderen Seite. Es sah klein und verschlafen aus, mit Strohdächern und ruhigen Gärten zwischen den Häusern. Es gab eine Schmiede, ein Gasthaus, einen Getreidespeicher und einen kleinen offenen Platz mit ein paar Leuten, die ihren Angelegenheiten nachgingen, aber darüber hinaus gab es wenig zu sehen.

Lenore ging ins Dorf, die anderen blieben hinter ihr. Die Leute starrten sie an und versuchten offensichtlich herauszufinden, wer sie waren und ob sie irgendeine Bedrohung darstellten. Lenore sah sich um und versuchte zu erraten, ob unter ihnen Stille Männer sein könnten. Das war der schwierige Teil bei dem, was sie tun würde: In dem Moment, als sie begann, Unterstützung zu suchen, bestand die Gefahr, dass Ravin davon erfuhr und zurückschlug.

Trotzdem musste sie es tun, also ging sie in die Mitte des Dorfplatzes und stellte sich dort hin, während Erin ihre Hand fest auf ihrem Speer hielt und Odd sich nach möglichen Bedrohungen umsah.

„Wer ist in diesem Dorf verantwortlich?“, fragte Lenore und bemerkte dann, dass sie zu leise sprach, um gehört zu werden. Sie konnte sich ihre Mutter dort vorstellen, die ihr sagte, sie solle lauter sprechen, damit ihre Stimme durch die Halle zu jedem einzelnen Lord getragen würde. „Wer führt die Dinge hier?“

Ein Mann trat vor, vielleicht vierzig, mit dem wettergegerbten Aussehen, dass man nur bei der Arbeit auf dem Feld oder auf See erhält.

„Ich bin Harris, der Müller“, sagte er. Er nickte einem anderen Mann zu, der zehn Jahre älter sein musste als er, mit einem graumelierten Bart. „Und das ins Lans, unser Amtmann. Davon abgesehen sind dies jedoch einige von Lord Carricks Ländereien. Wer seid Ihr, meine Dame?“

Lenore holte Luft, blickte von Erin zu Odd, um Unterstützung zu finden, und fühlte sich so nervös wie vor einem höfischen Tanz oder schlimmer. Sie wusste, wie viele Gefahren es in diesem Moment geben könnte, all die feindlichen Beobachter, die lauern könnten, all die Bedrohungen, die sich aus dem ergeben könnten, was sie sagen wollte. Trotzdem musste sie es sagen.

„Ich bin Lenore, Tochter von Königin Aethe und König Godwin dem Dritten. Ich bin aus Royalsport gekommen, um mit Euch allen zu sprechen – um Unterstützung zu holen und den Schaden, den König Ravin angerichtet hat, rückgängig zu machen.“

Der ältere Mann, Lans, sah Lenore einen Moment an, bevor er den Kopf schüttelte.

„Was für ein Scherz ist das?“, forderte er. „Seid Ihr hier, um von uns zu stehlen oder um unsere Loyalität zu testen? Warum lügt Ihr uns an, Mädchen?“

„Nein“, sagte Lenore. „Es ist keine Lüge. Ich bin Prinzessin Lenore.“

„Prinzessin Lenore ist tot“, sagte Lans. „Jeder weiß das. Herolde kamen hierher, um es zusammen mit dem Tod der Königin zu verkünden.“

Er drehte sich um und schüttelte den Kopf. Der Müller wollte mit ihm gehen, aber Lenore trat vor und packte ihn am Arm. Er wollte sie abschütteln und schob sie zurück und Lenore sah, wie Erin auf ihn zuging. Erin packte den großen Mann und drehte seinen Arm auf eine Weise hinter seinem Rücken, die schmerzhaft aussah. Das war nicht das Klügste in diesem Moment. Sie hob eine Hand, um ihre Schwester zurückzuhalten.

 

„Erin, lass ihn gehen“, sagte sie. Sie konnte sehen, wie einige der Dorfbewohner um sie herum unruhig wurden, und sie konnte sehen, wie Odds Hand zu seinem Schwert fuhr und er nach Drohungen Ausschau hielt.

„Aber er will nicht zuhören“, antwortete Erin.

„Er wird zuhören“, sagte Lenore. „Aber nicht, wenn der einzige Grund, warum er es tut, darin besteht, dass wir ihn verletzen. Lass ihn gehen.“

Sie tat es und Lenore atmete erleichtert auf. Sie sah, wie der Müller sein Handgelenk rieb, wo Erin ihn gepackt hatte, und wusste, dass sie nur einen kurzen Moment Zeit hatte, um seine Meinung über sie zu ändern.

„Wenn Ihr gehört habt, dass ich tot bin“, sagte Lenore, „solltet Ihr vielleicht überlegen, warum sie das sagen. Vielleicht liegt es daran, dass sie wissen, dass wir eine Bedrohung für sie sind. Vielleicht liegt es daran, dass wir die einzige Chance sind, uns gegen all das zu wehren, was passiert ist. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber ich bin Prinzessin Lenore, und das ist meine Schwester, Prinzessin Erin. Ihr habt gehört, dass sie bei den Rittern des Sporns gelernt hat? Glaubt Ihr, jemand von so kleiner Statur, der nicht von Rittern ausgebildet wurde, könnte Euch das so leicht antun?“

Der Müller sah Erin an. „Ja, vielleicht.“

„Und das ist Odd“, sagte Lenore und deutete auf die Stelle, an der der ehemalige Ritter noch immer mit der Hand am Griff seines Schwertes bereitstand. „Er war früher Sir Oderick der Verrückte.“ Sie sah, wie der Müller Odd in offensichtlicher Angst anstarrte. „Würde jemand darüber lügen? Würde sich jemand trauen, es zu behaupten, wenn er wüsste, wie viel Ärger es bringen würde? Allein dadurch, dass ich Euch sage, wer ich bin, habe ich mich und meine Schwester in Gefahr gebracht.“

„Möglich …“, sagte Harris der Müller.

Lenore wusste, dass sie jetzt mit Nachdruck vorgehen musste, sonst würde sie ihn nie überzeugen. „Wir sind nicht hier, um Euch anzulügen oder von Euch zu stehlen, sondern, um eine Armee aufzubauen. Versammelt die Leute und lasst sie mir zuhören. Danach habt Ihr die Wahl, was Ihr tun wollt und ob Ihr mir glaubt. Bitte.“

„In Ordnung“, sagte er. „Heute Abend im Gasthaus, aber ich kann nicht versprechen, dass sie zuhören werden.“

„Sie werden zuhören“, sagte Lenore. „Ich werde sie dazu bringen, dass sie zuhören.“

KAPITEL VIER

Nerra stand auf der Terrasse des Tempels der Insel der Hoffnung und beobachtete, wie die Menschen der Insel nacheinander auf den Brunnen zukamen. Nerra stand daneben und versuchte, ihnen Zuversicht zu geben, als sie gingen, um ihr Schicksal zu erfüllen. Oben auf den Hängen saßen die Drachen, ihre kollektive Präsenz konzentrierte sich auf den Teich und löschte die letzte Magie des Fluches aus. Shadr war in ihrem Herzen größer als jeder von ihnen, von einem Schwarz, das so tief war, als würde man in den Nachthimmel schauen.

Die anderen Vollkommenen nahmen Schöpflöffel und Tassen, Becher und alle anderen Behälter, die sie finden konnten, und gaben das Wasser an diejenigen mit der Drachenkrankheit weiter. Nerra nahm ihrerseits eine Tasse, tauchte sie in den Brunnen und gab sie an eine junge Frau weiter, die aussah, als wäre sie erst vor kurzem auf der Insel angekommen, weil die Schuppenflecken auf ihrer Haut noch nicht auffällig waren. Nach menschlichen Maßstäben war sie zierlich gebaut und hübsch und sie biss sich auf die Lippe und starrte die Tasse an, die Nerra ihr gab.

„Ich habe Angst“, sagte das Mädchen.

„Das musst du nicht“, beruhigte Nerra sie. „Das wird dir helfen. Es wird dich das sein lassen, was du immer sein solltest. Ich hatte auch Angst, als ich hierherkam.“

„Werde ich so sein wie du?“, fragte sie.

Wie sie. Nerra brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, was sie war. Sie blickte auf die blauen Schuppen, die ihre Arme bedeckten, spürte, wie sich die Krallen nach Belieben ausdehnten, und schmeckte die Luft mit Sinnen, die sie nie zuvor gehabt hatte.

„Du wirst etwas Großartiges werden. Trinkt alle, trinkt.“

Sie tranken auf einmal, einige tranken einen kleinen, andere einen großen Schluck. Für einen Moment passierte nichts, aber Nerra wusste es besser, als  jetzt noch zu glauben, dass es nur Wasser war.

Sie hörte den ersten von ihnen schreien, sah den ersten von ihnen zusammenbrechen und für eine Sekunde erfasste sie Angst. Was wäre, wenn etwas schiefgelaufen wäre? Was wäre, wenn der Fluch nicht wirklich aufgehoben worden wäre?

Vertraue uns, Nerra, sagte Shadr zu ihr. Vertraue mir. Sie verändern sich und sterben nicht.

Während die Schreie um sie herum aufstiegen, konnte Nerra den Prozess beobachten. Die Körper begannen sich zu dehnen und neu zu formen, und die Schreie wurden gutturaler und bestialischer, als sich die Menschen dort zu verwandeln begannen. Wie viele würden vollkommen werden und wie viele würden als die Geringeren übrig bleiben?

Was auch immer es sein würde, sie würden immer noch mehr als menschliche Dinge sein.

Nerra schluckte, wissend, dass es wahr war, und hasste es dennoch, zu sehen, wie sich Knochen streckten und brachen, die Haut riss und sich verzerrte und sich reformierte.

Komm, Nerra, drang Shadrs Stimme beruhigend in ihre Gedanken. Flieg mit mir.

Die Drachenkönigin senkte ihren Hals und erlaubte Nerra, hinaufzuklettern. Ihre Krallenhände fanden Halt auf den aufgerauten Schuppen an den Schultern des Drachen. Shadr breitete die Flügel so weit aus wie die Segel eines großen Schiffes und stieg mit wenigen Flügelschlägen in die Luft. Innerhalb von Sekunden war die Insel der Hoffnung weit unter ihnen. Die Ruinen des Dorfes schwelten immer noch.

Es ist schwer für dich, ihren Schmerz zu beobachten, sagte Shadr, als sie über der Insel waren. Aber dieser Schmerz ist ein notwendiger Teil der Dinge, die sich ändern. Sie werden mehr, viel mehr sein, wenn es vollzogen ist.

„Ich weiß“, sagte Nerra. Der Wind peitschte ihr die Worte von den Lippen, aber sie wusste, dass der Drache sie hören würde. „Es tut dennoch weh, sie zu sehen.“

Du bist gütig, sagte Shadr zu ihr. Du musst aber auch stark sein. In den kommenden Schlachten musst du es sein.

„Das werde ich“, versicherte Nerra ihr. „Wann werden wir dorthin fliegen?“

Demnächst. Bald wird die Welt wieder so sein wie sie war. Wie sie sein muss.

Nerra hatte gesehen, was diese Welt sein würde und was sie gewesen war. Es war wunderschön gewesen, als die Drachen herrschten und die Vollkommenen als Verbindungen zwischen ihnen und der Masse der Menschen dienten. Ja, es gab immer noch einen Teil von ihr, der einen winzigen nagenden Zweifel zu haben schien, aber Nerra ignorierte ihn, weil es keinen Sinn ergab. Dies hier war das, was geschehen musste.

Es gibt jedoch etwas, das zuerst passieren muss.

Shadr ruderte auf den Boden zu und landete auf einem leeren Strand. Nerra rutschte von ihrem Rücken herunter und starrte sie dann an.

„Was? Was muss passieren? “

Es gibt eine Bedrohung, die in den Erinnerungen unserer Art an die Rebellion der menschlichen Dinge groß ist, ein Objekt, das die Chancen für sie ausgeglichen, und Brutverwandte gegeneinander aufgebracht hat. Sie konnten uns nicht aus eigener Kraft bekämpfen und entwickelten einen Trick, um uns zu überwältigen.

Nerra konnte kaum glauben, dass irgendetwas die Drachen aufhalten konnte, aber wenn es wahr war und so etwas da draußen war, war es eine große Gefahr.

„Zeig es mir“, sagte sie.

Shadr neigte leicht ihren großen Kopf und Bilder überfluteten Nerras Gehirn.

Sie sah zu, wie Menschen gegen die Drachenmassen marschierten. Sie sah einige von ihnen brennen, einige von ihnen von Krallen oder Schwanzschlägen zerrissen zu Boden fallen. Sie sah Blitze und Feuer und mehr über sie strömen. Sie sah, wie die Reihen der Geringeren ein Feld überfluteten, das so groß war, dass es sich bis zum Horizont zu erstrecken schien. Für einen Moment schien es, als würde die Rebellion niedergeschlagen und die natürliche Ordnung der Dinge wieder aufgenommen.

Dann trat ein Mann vor, er hielt etwas mit beiden Händen fest, als wäre es zu kostbar, um das Risiko eines Sturzes einzugehen. Es leuchtete mit Juwelen in den verschiedenen Farben der Drachenverwandten und in seiner Mitte lag eine Schuppe, die sich im Licht der Drachenflamme spiegelte. Nerra wusste, ohne dass es ihr gesagt wurde, dass es von einem der mächtigsten ihrer Art stammte, von einer ehemaligen Drachenkönigin, eingesammelt von eifrigen Händen, als die Schuppe in einem Kampf gefallen war.

Nerra sah den Moment, als der Erste der Geringeren vor diesem Amulett zurückwich. Sie sah jedoch schlimmeres, denn die Drachen selbst stockten in ihrem Flug und nun fielen ihre tödlichen Flammen auf die Geringeren und sogar die Vollkommenen.

Dann begannen sie, ihre eigene Art anzugreifen.

In Nerras Gedanken blitzten jetzt Bilder und Momente, wo Drachen aufeinander zuflogen, nicht nur in der Schlacht, sondern immer wieder darüber hinaus. Sie sah, wie sie sich vom blauen Himmel herunterstürzten, so wie Falken auf wartende Tauben stürzten, und mit Krallen, die zu scharf waren, um Widerstand zu leisten, an ledrigen Flügeln rissen. Manchmal fielen die angreifenden Drachen, aber die Menschen kümmerten sich nicht darum. Es war nur ein weiterer toter Drache für sie.

Der Schrecken ging weiter. Nerra sah Drachen in schrecklichen Verwicklungen am Himmel kämpfen, sah die Luft voller Feuer, Gift und Eis. Sie sah, wie die jungen Drachen von älteren getötet wurden, und sah, wie Drachen menschliche Jäger zu den Verwundeten führten, um sie zu töten. Nerra schrie auf, sie wollte nicht mehr zuschauen, konnte das Blut und den Tod von Kreaturen nicht ertragen, die so schön und mächtig waren. Wie konnten die menschlichen Dinge etwas so Böses tun, um sie zu töten, wenn sie im Vergleich zu den Drachen solch schwache, grausame Dinge waren?

Nerra kehrte mit einem Atemzug der Angst in die Gegenwart zurück. Sie lag am Strand, Shadr stand über ihr, Mitgefühl floss vom Drachen zu ihr.

„Wie … wie konnten sie das tun?“ sie forderte. „Sie müssen aufgehalten werden!“

Das werden sie. Die Dinge werden wiederhergestellt, aber dafür muss das Amulett zerstört werden.

Und dafür mussten sie es finden.

„Es ist nicht im Freien“, sagte Nerra. „Es ist nichts, worüber mir bisher irgendjemand etwas erzählt hat.“

Ich weiß, sagte Shadr. Selbstverständlich wusste sie es, da die beiden so stark verbunden waren. Aber du kennst die Königreiche der menschlichen Dinge. Wo würden sie ein Objekt von solcher Macht verstecken?

Nerra versuchte nachzudenken, aber die schiere Anzahl von Möglichkeiten war überwältigend. So etwas könnte nach so langer Zeit überall versteckt sein. Ein Adliger könnte es als Schmuckstück haben oder es könnte im Laufe der Generationen hundertmal gestohlen und wieder gestohlen worden sein. Menschenleben vergingen so schnell, dass es in eine Kiste gelegt und vergessen, begraben und verloren worden sein könnte.

Wenn es verloren ist, ist es keine Bedrohung, betonte Shadr. Aber es wird nicht verloren sein.

„Ein Großteil des Wissens über die Drachen war verloren“, sagte Nerra. „Die Menschen wissen, dass sie existieren oder existierten, aber sie behandeln sie so, als wären sie etwas sehr Fernes. Sie behandeln sie fast wie Mythen.“

Es gibt die, die es wissen, beharrte Shadr. Der Wächter auf dieser Insel wurde aus einem bestimmten Grund hierher gebracht, und es gibt diejenigen, die dafür gesorgt hätten, dass das Wissen nicht verloren ging. Dies ist eine zu mächtige Magie, um sie zu vergessen.

„Sammler von magischen Dingen könnten es haben“, sagte Nerra. „Außer dem königlichen Magier gibt es immer jene, die mit der Magie arbeiten. Jeder von ihnen könnte es in seinem Besitz haben.“

Vielleicht.

Das fühlte sich jedoch nicht richtig an und selbst ohne Shadrs Aufforderung wusste Nerra, dass sie so nicht weiterkamen. Sie versuchte sich in die Denkweise der Menschen von vor so langer Zeit zu versetzen. Wie hätten sie gedacht? Was hätten sie getan?

„Diejenigen, die den Krieg gewonnen haben, wären die neuen Herrscher gewesen“, sagte Nerra.

Ich kann mich nicht erinnern, weil keiner von uns dort war, um es zu sehen, antwortete Shadr.

„Nein, das wären sie gewesen, ganz sicher. Und die Leute, die herrschten, hätten gewusst, wie wichtig eine solche Waffe ist. Sie hätten daran festgehalten – bei einem Gegenstand mit solch machtvoller Magie hätten sie es jedoch sicher denen gegeben, die damit umgehen könnten.“

 

Plötzlich schien die Zahl der Möglichkeiten geschrumpft zu sein. Wer würde das Wissen der Drachen aufrechterhalten? Wer würde das Wissen über magische Dinge bewahren und bereit sein, wenn der König sie rief? Nerra konnte sich nur zwei Möglichkeiten vorstellen.

„Entweder hat es der Magier des Königs oder das Haus der Gelehrten“, sagte sie. „Wenn es der Magus ist, wird er es in seinem Turm in Royalsport haben. Wenn es die Gelehrten sind … sie haben auch ein Haus in Royalsport, aber so einen Gegenstand … Ich denke, sie würden ihn in ihrer Bibliothek in Astare verstecken. Greave sprach oft über die Bibliothek. Er wollte eines Tages dorthin gehen.“ Es war seltsam, so an ihren Bruder zu denken, jetzt, wo sie so weit über alles Menschliche hinaus war.

Wir müssen uns entscheiden, wo wir suchen wollen, sagte Shadr. Mir gefällt der Gedanke nicht, zuerst in den Turm des Magiers oder zum Ort der Könige zu gehen. Das birgt zu viel Risiko.

„Dann fliegen wir nach Astare?“, fragte Nerra.

Der Drache blies einen Hauch von Schatten in den Himmel. Wir fliegen nach Astare und holen uns das eine, was uns aufhalten könnte.