Die Herrschaft Der Königinnen

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Aus der Reihe: Ring der Zauberei #13
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KAPITEL VIER

Gwendolyn kniete am Buck des Schiffs, und klammerte sich mit weißen Fingerknöcheln an der Reling fest, da sie gerade genug Kraft aufbringen konnte, sich aufzurichten, und zum Horizont hinüber zu blicken. Sie zitterte am ganzen Körper, schwach vom Hunger und ihr war schwindelig. Sie rappelte sich auf, und betrachtete erstaunt den Anblick, der sich ihr bot.

Gwendolyn blinzelte durch den Nebel, und fragte sich, ob es real war, oder nur eine Halluzination.

Dort, am Horizont, entlang der endlosen Küste, lag ein riesiger Hafen, dessen Einfahrt von zwei gigantischen goldenen Säulen gerahmt wurde, die sich hoch in den Himmel erhoben. Die Säulen und die Stadt wurden in ein gelbliches Grün getaucht, als die Sonne sich langsam senkte. Gwendolyn bemerkte, dass die Wolken hier besonders schnell trieben. Sie wusste nicht, ob es daran lag, ob der Himmel in diesem Teil der Welt so anders war, oder ob sie immer wieder das Bewusstsein verlor.

Im Hafen der Stadt lagen tausende stolzer Schiffe, jedes einzelne von ihnen grösser als alles, was sie je zuvor gesehen hatte, jedes einzelne reich mit Gold verziert. Das musste die reichste Stadt gewesen sein, die sie je gesehen hatte. Direkt ans Meer gebaut, schien sie sich in alle Ewigkeit auszubreiten. Sie fragte sich, welche Art von Menschen hier lebte. Es musste ein großartiges Land sein, ein Land des Empire.

Gwendolyn beschlich plötzlich ein mulmiges Gefühl, als sie bemerkte, dass die Strömung sie in den Hafen trieb. Bald würden sie in den Hafen einlaufen, umgeben von all diesen Schiffen, und gefangen genommen oder vielleicht sogar getötet werden. Gwendolyn dachte daran, wie grausam Andronicus gewesen war, wie herzlos Romulus sich gezeigt hatte, und wusste, dass das die Art des Empires war. Sie erkannte, dass es vielleicht besser gewesen wäre, auf See zu sterben.

Gwendolyn hörte schlurfende Schritte hinter sich, und sah Sandara, die schwach vor Hunger, doch mit stolzer Haltung an der Reling stand und eine goldene Reliquie hochhielt, die aussah wie die Hörner eines Bullen. Sie neigte sie so, dass sich die Sonne in ihnen fing. Gwendolyn sah zu, wie damit der Küste ein Signal gab. Sandara richtete es nicht auf die Stadt, sondern eher nach Norden, in Richtung von etwas, das aussah wie ein isoliertes Wäldchen an der Küste.

Als Gwendolyns Augen zufielen, und sie spürte, wie sie kraftlos zu Boden fiel, blitzen Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Sie war sich nicht mehr sicher, was real war, und was ihren Halluzinationen entsprang.

Sie sah Dutzende von Kanus, die aus dem dichten Dach des Dschungels hervorkamen, und auf die offene See, auf ihre Schiffe, zukamen. Sie konnte einen Blick auf sie erhaschen, und war überrascht, nicht die Rasse des Empire zu sehen, sondern eine andere. Sie sah stolze, muskulöse Männer und Frauen, mit schokoladenfarbener Haut und leuchtenden gelben Augen, mit mitfühlenden, intelligenten Gesichtern. Gwendolyn sah einen zufriedenen Blick in Sandaras Gesicht, und erkannte, dass es Sandaras Volk war.

Gwendolyn hörte ein hohles Pochen auf dem Schiff, und sah Enterhacken an Deck, Seile, die das Schiff einfingen.

Sie spürte, wie das Schiff sanft die Richtung änderte, und blickte hinab ins Wasser, und sah die Flotte von Kanus, die ihr Schiff durch die Strömung von der Stadt fortzogen. Gwendolyn begriff langsam, dass Sandaras Leute ihnen zur Hilfe kamen, um ihr Schiff in einen anderen Hafen zu bringen, weg von dem des Empire.

Gwendolyn spürte, dass das Schiff scharf nach Norden abdrehte, auf das dichte Blätterdach zu, und den kleinen, versteckten Hafen darunter. Erleichtert schloss sie die Augen.

Bald öffnete Gwendolyn die Augen wieder und lehnte sich über die Reling. Erschöpft und schwach spürte sie, wie sie das Gleichgewicht verlor und riss panisch die Augen auf, als sie bemerkte, dass sie gleich über Bord fallen würde.

Gwendolyns Herz pochte wild, sie konnte nicht fassen, dass sie, nach allem was sie durchgemacht hatte, so sterben sollte.

Während sie sich bereits fallen spürte, hörte sie ein plötzliches Knurren und fühlte, wie starke Zähne sie beim Hemd packten. Sie hörte ein Winseln, als sie am Hemd zurückgezogen wurde, fort vom Abgrund, und schließlich zurück an Deck. Sie schlug hart auf dem hölzernen Deck auf, doch sie war sicher.

Sie blickte auf und sah Krohn über sich stehen. Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Sie war überglücklich zu sehen, dass Krohn am Leben war. Er sah ausgemergelt aus, und sie bemerkte, dass sie ihn in all dem Chaos ganz vergessen hatte. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war in dem schlimmen Sturm gewesen, als sie unter Deck gegangen waren. Sie erkannte, dass er sich irgendwo unter Deck versteckt, und dort vor sich hin gehungert haben musste, damit die anderen essen konnten. So war Krohn. Grenzenlos Selbstlos. Und nun, wo sie sich wieder dem Land näherten, kam er wieder aus seinem Versteck.

Krohn winselte und leckte ihr das Gesicht, und Gwendolyn umarmte ihn mit letzter Kraft. Kraftlos ließ sie den Kopf sinken, während Krohn sich neben ihr zusammenrollte und den Kopf auf ihre Brust legte.

*

Gwendolyn spürte, wie eine Flüssigkeit, süß und kalt, auf ihre Lippen geträufelt wurde, und ihre Wangen und ihren Hals hinunter lief. Sie öffnete ihren Mund und trank, schluckte gierig, und das Gefühl weckte sie aus ihren Träumen.

Gwendolyn öffnete ihre Augen und trank gierig. Fremde Gesichter schwebten über ihr, und sie trank und trank, bis sie sich verschluckte, und husten musste.

Jemand half ihr dabei, sich aufzurichten, und sie setzte sich hustend auf, während ihr jemand anderes auf den Rücken klopfte.

„Schhhh“, hörte sie eine Stimme. „Trink langsam.“

Es war eine sanfte Stimme, die Stimme eines Heilers. Gwendolyn sah einen alten Mann mit tiefen Falten im Gesicht, die noch tiefer wurden, als er sie anlächelte.

Gwendolyn sah sich um, und bemerkte Dutzende von fremden Gesichtern, Sandaras Leute, die sie still anstarrten, und musterten, als wäre sie eine Kuriosität. Gwendolyn, deren Hunger und Durst nun wieder erwacht war, streckte die Hand nach der Blase mit dem Getränk aus, und trank und trank die süße Flüssigkeit, als ob es kein Morgen gäbe.

„Langsam, langsam“, sagte der Mann. „Sonst wird dir schlecht.“

Gwendolyns sah eine Vielzahl von Kriegern von Sandaras Volk, die ihr Schiff bevölkerten. Sie sah ihre eigenen Leute, die Überlebenden des Rings, wie sie lagen, knieten oder saßen, und jedem von ihnen von Sandaras Leuten ein Getränk eingeflößt wurde. Sie alle waren an der Grenze des Todes gewesen. Unter ihnen sah sie Illepra, die das Baby, das Gwen auf den Oberen Inseln gerettet hatte, an sich drückte und es fütterte. Gwendolyn war erleichtert, als sie es weinen hörte. Sie hatte es Illepra gegeben, als sie selbst zu schwach gewesen war, es zu halten, und es lebendig zu sehen, lies Gwendolyn an Guwayne denken. Gwendolyn war fest entschlossen, dass dieses Mädchen leben sollte.

Gwendolyn fühlte sich mit jedem Augenblick, der verstrich, besser, und sie setzte sich auf, um mehr von dem wundersamen Getränk zu trinken. Sie fragte sich, was es war, und war voller Dankbarkeit diesen Leuten gegenüber. Sie hatten ihrer aller Leben gerettet.

Neben sich hörte Gwendolyn ein Wimmern. Es kam von Krohn, der immer noch mit dem Kopf auf ihrem Schoss neben ihr lag. Sie gab ihm aus der Blase zu trinken, und er schlabberte es dankbar auf.

Sie strich ihm liebevoll über den Kopf. Wieder einmal schuldete sie ihm ihr Leben. Bei seinem Anblick musste sie an Thor denken.

Gwendolyn blickte zu Sandaras Leuten auf, und wusste nicht, wie sie ihnen danken sollte.

„Ihr habt uns gerettet“, sagte sie. „Wir schulden euch unser Leben.“

Gwendolyn drehte sich um, und sah Sandara an, die neben ihr auf die Knie ging, und Sandara schüttelte den Kopf.

„Mein Volk glaubt nicht an Schulden“, sagte sie. „Wir glauben, dass es eine Ehre ist, jemandem in Not zu helfen.“

Die Menge machte Platz, und Gwendolyns Blick fiel auf einen ernst dreinblickenden Mann, der ihr Anführer zu sein schien. Er schien um die Fünfzig zu sein, mit ausladendem Kiefer und dünnen Lippen. Er ging vor ihr in die Hocke, und eine große türkisfarbene Halskette aus Muscheln blitzte in der Sonne, als er seinen Kopf neigte, und sie mit gefühlvollen Augen musterte.

„Ich bin Bokbu“, sagte er mit tiefer, autoritärer Stimme. „Wir sind Sandaras Ruf gefolgt, weil sie eine von uns ist. Wir haben unser Leben für euch riskiert. Wenn das Empire uns in diesem Augenblick mit euch sehen würde, wären wir alle tot.“

Bokbu stand auf, und stemmte die Hände in die Hüften. Gwendolyn rappelte sich langsam mit Hilfe von Sandara und des Heilers auf, und sah ihn an. Bokbu seufzte, als er ihre Leute ansah, und den erbärmlichen Zustand ihres Schiffs sah.

„Es geht ihnen besser, also müssen sie jetzt gehen“, kam eine Stimme.

Gwendolyn drehte sich um, und sah einen muskulösen Krieger, der einen Speer trug, und auf Bokbu zukam, wobei er ihm einen kalten Blick zuwarf.

„Schick diese Fremden dorthin zurück, wo sie hergekommen sind“, fügte er hinzu. „Warum sollten wir Blut für sie vergießen?“

„Ich bin von deinem Blut“, sagte Sandara und sah den Krieger ernst an.

„Weshalb du diese Leute niemals hättest hierher bringen sollen. Du hast uns alle in Gefahr gebracht.“, herrschte er sie an.

„Du bringst Schande über unser Volk“, sagte Sandara. „Hast du die Gesetze der Gastfreundschaft vergessen?“

„Du bringst Schande über uns“, gab er zurück.

Bokbu hob seine Hände, und sie verstummten.

Er stand ausdruckslos da, und schien nachzudenken. Gwendolyn sah ihn an, und bemerkte, in welch gefährlicher Situation sie waren. Jetzt wieder in See zu stechen, würde ihrer aller Tod bedeuten, doch sie wollte diese Leute, die ihr geholfen hatten, auch nicht in Gefahr bringen.

 

„Wir wollten euch keinen Schaden zufügen“, sagte Gwendolyn an Bokbu gewandt. „Wir wollen euch nicht gefährden. Wir können wieder aufbrechen.“

Bokbu schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er. Dann sah er Gwen an, und musterte sie mit einem Ausdruck der Verwunderung auf dem Gesicht. „Warum hast du deine Leute hierher gebracht?“, fragte er.

Gwendolyn seufzte.

„Wir sind vor einer riesigen Armee geflohen“, sagte sie. „Sie haben unsere Heimat zerstört. Wir sind gekommen, um eine neue Heimat zu finden.“

„Ihr seid an den falschen Ort gekommen“, sagte der Krieger. „Das hier wird nicht eure Heimat werden.“

„Ruhe!“, sagte Bokbu, und warf ihm einen bösen Blick zu.

Bokbu wandte sich wieder Gwendolyn zu, und sah ihr in die Augen.

„Du bist eine stolze und edle Frau“, sagte er. „Ich kann sehen, dass du eine geborene Anführerin bist. Du hast deine Leute gut geführt. Wenn ihr wieder die Segel setzt, werdet ihr sicher sterben. Vielleicht nicht heute, aber es kann nicht lange dauern.“

Gwendolyn hielt seinem Blick stand.

„Dann werden wir sterben“, antwortete sie. „Ich will nicht, dass deine Leute sterben müssen, damit wir leben können.“

Sie starrte ihn mit festem Blick ausdruckslos an, ermutigt durch ihren Stolz und ihren Edelmut. Sie konnte sehen, dass Bokbu sie mit wachsendem Respekt ansah.

Eine angespannte Stille stand zwischen ihnen.

„Ich sehe, dass Kriegerblut in dir fließt“, sagte er. „Ihr bleibt bei uns. Deine Leute werden sich hier erholen, bis sie wieder gesund und stark sind. Egal wie viele Monde es dauert.“

„Aber Häuptling“, begann der Krieger.

Bokbu drehte sich um, und warf ihm einen ernsten Blick zu.

„Meine Entscheidung ist gefallen.“

„Aber ihr Schiff!“, protestierte er. „Wenn es hier im Hafen bleibt, wird das Empire es sehen. Wir werden alle noch vor dem neuen Mond sterben!“

Der Häuptling blickte zum Mast auf, dann sah er sich auf dem Schiff um. Auch Gwendolyn sh sich um, betrachtete die Landschaft, und sah, dass sie in einen versteckten Hafen gebracht worden waren, der unter einem dichten Laubdach lag. Sie drehte sich um, sah hinter sich das offene Meer, und wusste, dass der Mann Recht hatte.

Der Häuptling sah sie an und nickte.

„Du willst deine Leute retten?“, fragte er.

Gwendolyn nickte ernst.

„Ja.“

Er nickte ihr zu.

„Anführer müssen schwere Entscheidungen treffen“, sagte er. „Nun ist die Zeit für dich gekommen, eine Entscheidung zu treffen. Ihr wollt bleiben, doch euer Schiff wird uns alle umbringen. Ihr seid uns herzlich willkommen, doch das Schiff kann nicht bleiben. Ihr müsst es verbrennen, dann werden wir euch gerne aufnehmen.“

Gwendolyn stand da und sah den Häuptling an. Beim Gedanken daran tat ihr das Herz weh. Sie sah ihr Schiff an, das Schiff, das sie über das Meer um die halbe Welt gebracht und sie und all ihre Leute gerettet hatte. Es brach ihr das Herz. In ihrem Kopf kämpften widersprüchliche Gefühle miteinander. Dieses Schiff war ihre einzige Fluchtmöglichkeit.

Doch Fluchtmöglichkeit wohin? Zurück hinaus aufs Meer, wo sie alle sterben würden? Ihre Leute konnten kaum stehen; sie brauchten Zeit, sich zu erholen. Sie brauchten Zuflucht. Und wenn der Preis für ihrer aller Leben war, dieses Schiff zu verbrennen, dann sollte es eben so sein. Wenn sie sich entscheiden sollten, wieder in See zu stechen, dann würden sie ein anderes Schiff finden oder bauen, tun, was auch immer sie tun mussten. Doch jetzt, in diesem Augenblick, ging es um ihre Leben. Das war jetzt das Wichtigste.

Gwendolyn sah ihn an, und nickte ernst.

„Dann soll es so sein.“

Bokbu sah sie mit großem Respekt an. Dann drehte er sich um und rief einen Befehl, woraufhin alle Männer um ihn herum aktiv wurden. Sie verteilten sich über das ganze Schiff, halfen den Menschen aus dem Ring auf die Beine, und brachten sie über eine lange Planke an den Sandstrand. Gwendolyn stand neben Godfrey, Kendrick, Brandt, Atme, Aberthol, Illepra und Sandara an der Reling, und sah zu, wie die Menschen, die sie so sehr liebte, an ihr vorbeigingen.

Sie wartete, bis auch der letzte das Schiff verlassen hatte, bis nur noch der Häuptling, sie und Krohn an Deck standen.

Bokbu hielt eine brennende Fackel, die ihm einer seiner Männer gereicht hatte. Er begann, damit die hölzernen Aufbauten des Schiffs in Brand zu setzen.

„Nein“, sagte Gwen, und hielt ihn am Handgelenk fest.

Er sah sie überrascht an.

„Ich muss es selbst tun“, sagte sie.

Gwendolyn nahm zögernd die schwere brennende Fackel, drehte sich um, und hielt sie an eines der Segel, das aufgerollt an Deck lag.

Sie stand da, und sah zu, wie es Feuer fing, und sich die Flammen schnell über das ganze Schiff ausbreiteten.

Sie ließ die Fackel fallen, wandte sich um, und ging, gefolgt von Krohn und Bokbu die Planke hinunter an den Strand, in ihre neue Heimat, der einzige Ort, der ihr auf dieser Welt geblieben war.

Als sie sich in dem fremdartigen Dschungel umsah, hörte sie seltsame Schreie von Vögeln und Tieren, die sie nicht kannte, und fragte sich:

Konnten sie sich wirklich hier eine neue Heimat aufbauen?

KAPITEL FÜNF

Alistair zitterten von der Kälte. Sie kniete auf dem Stein und blickte dem ersten Morgenlicht des anbrechenden Tages entgegen, das langsam über die Südlichen Inseln kroch, und den Bergen und Tälern einen sanften Glanz verlieh. Ihre Hände und Füße steckten in hölzernen Fesseln und ihr Kopf ruhte auf dem Block, auf dem schon so viele Köpfe vor ihrem gelegen hatten. Sie konnte die getrockneten Blutflecken sehen und die Scharten, die das Henkersbeil auf dem Zedernholz hinterlassen hatte. Sie konnte die traurige Energie des Holzes spüren, als ihr Hals es berührte, die letzten Augenblicke, die letzten Emotionen all jener spüren, die hier den Tod gefunden hatten. Sie fühlte sich elend.

Sie sah zu, wie der neue Tag anbrach. Es fühlte sich schrecklich unwirklich an, dass dies ihr letzter Sonnenaufgang sein sollte. Sie genoss ihn diesmal mehr denn je zuvor. Als sie an diesem kühlen Morgen hinaus blickte, sahen die Südlichen Inseln unter der sanften Brise unglaublich schön aus, der schönste Ort, den sie je gesehen hatte, die Bäume glühten in allen nur erdenklichen Schattierungen von Orange und Rot hin zu Pink und Violett, eine reiche Auswahl saftiger Früchte wartete darauf, geerntet zu werden, und der süße Duft der Blüten wurde vom Wind auf den Platz herübergetragen. Der Nebel glitzerte im Licht, die Atmosphäre war magisch. Sie hatte sich noch nie an einem Ort so zu Hause gefühlt; hier hätte sie gerne für immer gelebt.

Alistair hörte Schritte. Sie sah sich um und sah, dass Bowyer sich näherte. Er hielt eine riesige Doppelaxt in der Hand, und blickte auf sie herab.

Hinter ihm konnte Alistair in der Morgendämmerung hunderte von Bewohnern der Südlichen Inseln ausmachen, die offensichtlich loyal hinter ihm standen. Sie sammelten sich in einem weiten Kreis um sie herum – niemand wollte zu nahe stehen, wenn das Blut spritzte.

Bowyer wollte es schnell hinter sich bringen. Alistair konnte sehen, dass er kaum erwarten konnte, König zu werden.

Alistair zog aus einer einzigen Sache zumindest ein wenig Befriedigung: So ungerecht es auch war, ihr Opfer würde es Erec erlauben, weiterzuleben. Das bedeutete ihr mehr als ihr eigenes Leben.

Bowyer trat näher und flüsterte ihr zu:

„Mach dir keine Sorgen, ich werde dich schnell töten“, sagte er, wobei sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte, „und Erec auch.“

Alistair sah verwirrt und erschrocken zu ihm auf.

Er lächelte sie an, ein kleines Lächeln, nur für sie, das niemand anderes sehen konnte.

„Ganz genau“, flüsterte er. „Vielleicht nicht heute; vielleicht sogar erst in ein paar Monden. Doch eines Tages, wenn er es am wenigsten erwartet, werde ich deinem Gemahl mein Messer in den Rücken rammen. Ich will dass du das weißt, bevor ich die zur Hölle schicke, Schönheit.“

Bowyer trat zwei Schritte zurück, umfasste den Schaft der Axt fest mit beiden Händen, und bereitete sich auf den Hieb vor.

Alistairs Herz pochte wild während sie vor dem Richtblock kniete, denn sie hatte bisher den Grad der Bösartigkeit dieses Mannes unterschätzt. Er war nicht nur grenzenlos ehrgeizig, und ging dafür über Leichen, er war auch ein Feigling und ein Lügner.

„Lass sie frei!“, verlangte plötzlich eine Stimme, und zerriss die angespannte Stille des frühen Morgens.

Alistair drehte sich so gut sie konnte um, und sah das Chaos, als zwei Gestalten sich ihren Weg durch die Menge bahnten, bis sie von Bowyers Wachen zurückgehalten wurden.

Alistair war überrascht und dankbar, Erecs Mutter und Schwester zu sehen.

„Sie ist unschuldig“, rief Erecs Mutter. „Du darfst sie nicht töten!“

„Würdest du wirklich eine Frau töten?“, schrie Dauphine. „Sie ist eine Fremde. Lass sie gehen. Schick sie zurück in ihr eigenes Land. Sie muss nicht in unsere Angelegenheiten hineingezogen werden.“

Bowyer drehte sich um und polterte los:

„Sie ist eine Fremde, die unsere Königin werden wollte, um unseren ehemaligen König zu töten.“

„Du bist ein Lügner“, schrie Erecs Mutter. „Du hast dich geweigert vom Brunnen der Wahrheit zu trinken!“

Bowyer betrachtete die Gesichter der Menge.

„Gibt es hier jemanden, der sich meinem Anspruch auf den Thron zu widersetzen wagt?“, schrie er, und blickte trotzig in die Menge.

Alistair sah hoffnungsvoll zu, doch einer nach dem anderen senkten alle anwesenden Männer, die zumeist aus Bowyers eigenem Stamm kamen, den Blick – nicht einer wollte sich ihm im Kampf stellen.

„Ich bin euer Champion“, polterte Bowyer. „Ich habe alle Gegner am Tourniertag besiegt. Es gibt niemanden hier, der mich schlagen könnte. Nicht einen. Wenn einer jedoch anderer Meinung sein sollte, soll er vortreten.“

„Ist denn niemand hier, der Erec retten will?“, schrie Dauphine.

Bowyer drehte sich um und sah sie böse an.

„Und wo ist dein Bruder jetzt? Er liegt im Sterben. Wir wollen keinen Krüppel zum König. Ich bin euer König. Ich war sein Gegner im Tournier. Nach den Gesetzen des Landes bin ich König. So wie mein Vater vor Erecs Vater König war.“

Erecs Mutter und Dauphine stürmten auf ihn zu, um ihn aufzuhalten, doch seine Männer hielten sie zurück. Neben ihnen sah Alistair Erecs Bruder, Strom, mit gefesselten Händen. Auch er wehrte sich, doch er konnte sich nicht befreien.

„Dafür wirst du bezahlen, Bowyer!“, schrie Strom.

Doch Bowyer ignorierte ihn. Stattdessen wandte er sich wieder Alistair zu, und sie konnte an seinen Augen sehen, dass er fest entschlossen war, es zu Ende zu bringen. Ihre Zeit war gekommen.

„Eine Herrschaft, die auf Betrug begründet ist, steht auf tönernen Füssen“, sagte Alistair zu ihm.

Er sah sie böse an; offensichtlich hatte sie einen wunden Punkt berührt.

„Und diese Worte werden deine letzten sein“, knurrte er.

Bowyer riss die Axt hoch über seinen Kopf.

Alistair schloss die Augen, wissend, dass sie in wenigen Augenblicken nicht mehr auf dieser Welt weilen würde.

Mit geschlossenen Augen spürte Alistair, wie die Zeit langsamer lief. Bilder blitzten vor ihr auf. Sie sah ihre erste Begegnung mit Erec, im Ring, beim Schloss des Barons, als sie eine Dienstmagd war, und sich beim ersten Blick in ihn verliebt hatte. Sie spürte ihre Liebe zu ihm, eine Liebe, die bis zu diesem Tag in ihr brannte. Sie sah ihren Bruder, Thorgrin, sah sein Gesicht; doch sie sah ihn nicht im Ring, in King’s Court, sondern in einem fernen Land, auf einem fernen Ozean. Sie sah ihre Mutter, die am Rande der Klippen vor ihrem Schloss stand, hoch über dem Ozean an der Brücke. Sie hatte die Arme ausgestreckt und lächelte sie liebevoll an.

„Meine Tochter“, sagte sie.

„Mutter“, sagte Alistair. „Ich komme zu dir.“

Doch zu ihrer großen Überraschung schüttelte ihre Mutter den Kopf.

„Deine Zeit ist noch nicht gekommen“, sagte sie. „Deine Aufgabe auf dieser Welt ist noch nicht erfüllt. Du hast noch immer ein großes Schicksal vor dir.“

„Doch wie, Mutter“, fragte sie. „Wie kann ich überleben?“

„Du bist grösser als diese Welt“, antwortete ihre Mutter. „Diese Klinge, das Eisen des Todes, ist von dieser Welt. Deine Fesseln sind von dieser Welt. Sie sind irdische Grenzen. Sie beschränken dich nur, wenn du an sie glaubst, wenn du ihnen Macht über dich zugestehst. Du bist Geist, Licht und Energie. Das ist, wo deine wahren Kräfte liegen. Du bist über alledem. Du lässt dich nur von physischen Grenzen zurückhalten. Dein Problem ist nicht die Stärke, es ist der Glaube daran. Der Glaube an dich. Wie stark ist dein Glauben?“

 

Während Alistair zitternd und mit geschlossenen Augen vor dem Richtblock kniete, hallte die Frage ihrer Mutter in ihrem Kopf wider.

Wie stark ist dein Glauben?

Alistair ließ sich gehen, vergaß ihre Fesseln und begab sich in die Hände ihres Glaubens. Sie ließ die physischen Fesseln der Welt hinter sich, und wandte sich der überlegenen Macht zu, der einen Macht, die allem anderen auf dieser Welt überlegen war. Eine Macht hatte diese Welt erschaffen. Eine Macht hatte all dies erschaffen. Das war die Macht, mit der sie eins werden musste.

Als sie es tat, spürte Alistair, wie plötzlich eine Wärme in ihrem Körper aufstieg. Sie brannte förmlich, fühlte sich unbesiegbar Sie spürte, wie Flammen aus ihren Händen schossen, fühlte wie ihr Geist summte und vibrierte, und wie eine unglaubliche Hitze zwischen ihren Augen bis in ihre Stirn aufstieg. Sie fühlte sich stärker denn je, stärker als die Fesseln, stärker als alles Materielle.

Sie öffnete ihre Augen, und die Zeit begann, wieder in normalem Tempo abzulaufen. Sie blickte auf, und sah wie Bowyer mit zu einer Fratze verzerrtem Gesicht die Axt auf sie herabsausen ließ.

Alistair fuhr herum und hob ihre Arme. Ihre Fesseln brachen wie dürre Zweige. In derselben Bewegung sprang sie blitzschnell auf die Füße und hob eine Hand gegen Bowyer. Während seine Axt auf sie zu sauste, geschah etwas Unglaubliches: die Axt zerfiel vor aller Augen zu Staub und Asche.

Bowyer, der mit leeren Händen die Bewegung fortführte, stolperte und fiel auf die Knie.

Alistair fuhr herum und sah das Schwert am Gürtel eines Kriegers am Rand der Menge. Sie streckte die andere Hand danach aus, und befahl dem Schwert, zu ihr zu kommen. Beim nächsten Wimpernschlag hielt sie es in der Hand. In einer einzigen Bewegung griff sie es, drehte sich um, hob es hoch, und ließ es auf Bowyers ungeschützten Nacken heruntersausen.

Die Menge keuchte schockiert, als Bowyers Körper schlaff zu Boden fiel und sein Kopf über die Pflastersteine rollte.

Er lag an derselben Stelle, an der er vor wenigen Augenblicken noch Alistair töten wollte.

Aus der Menge kam ein Schrei, und Alistair sah, wie sich Dauphine aus dem Griff des Kriegers befreite, den Dolch des Mannes ergriff, und ihm den Hals aufschnitt. In derselben Bewegung fuhr sie herum und schnitt Stroms Fesseln durch. Strom griff sofort nach dem Schwert des Kriegers neben ihm, fuhr herum und tötete drei von Bowyers Männern bevor sie reagieren konnten.

Jetzt, wo Bowyer tot war, wusste die Menge nicht, was sie tun sollte. Schreie erhoben sich. Sein Tod hatte all jenen Mut gemacht, die sich ihm nur widerwillig angeschlossen hatten. Sie überdachten ihre Allianzen, besonders als Dutzende von Männern, die Erec treu ergeben waren durch die Menge brachen und an Stroms Seite gegen jene kämpften, die Bowyer gegenüber loyal waren.

Der Vorteil war schnell auf Seiten von Erecs Männern, als sich Mann für Mann, Reihe für Reihe, neue Allianzen formten; Bowyers Männer, die all dem unvorbereitet gegenüberstanden, flüchteten über das Plateau den felsigen Hand hinauf, verfolgt von Strom und seinen Männern.

Alistair sah zu, wie ein wilder Kampf entlang des Berghangs entbrannte, und sich schnell ausbreitete. Schreie und Hörner schallten über die ganze Insel, deren Bewohner sich schnell auf eine der beiden Seiten schlugen. Der Klang der Schwerter und die Todesschreie der Männer erfüllten den Morgen, und Alistair wusste, dass ein Bürgerkrieg ausgebrochen war.

Sie stand unbewegt da. Das Schwert, das sie noch immer in der Hand hielt, glänzte in der Sonne, und sie spürte, dass sie von der Gnade Gottes gerettet worden war. Alistair fühlte sich wie neu geboren, mächtiger denn je, und spürte, dass ihr Schicksal sie rief. Sie war optimistisch. Sie wusste, dass Bowyers Männer getötet werden würden. Die Gerechtigkeit würde obsiegen. Erec würde sich wieder erheben und sie heiraten. Und bald würde sie die neue Königin der Südlichen Inseln sein.

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