Das Feuerzepter

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Kapitel sechs

Edmund lag weinend in einem kleinen, dunklen Zimmer. Nichts war so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte Esther wehgetan, war von Madame Obsidian ausgenutzt worden und würde nun nie wieder in die Schule für Seher zurückkehren können. Wenn Professor Amethyst je herausfand, was er getan hatte, würde er ihn mit Sicherheit verstoßen.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Edmund setzte sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ja?“

Die Tür öffnete sich. Ein rothaariges Mädchen streckte den Kopf hinein. „Madame Obsidian hat nach dir gefragt.“

Edmund wurde schwer ums Herz. Es gab keinen Ausweg. Nachdem er die Schule betrogen hatte, war er von einem gewalttätigen Beben geweckt worden. Dann war Madame Obsidian erschienen und hatte ihm einen Platz in ihrer Schule angeboten. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als anzunehmen.

Er stand auf, sein Körper schwer wie Blei, und folgte dem rothaarigen Mädchen aus dem Zimmer.

„Ich bin übrigens Madeleine“, sagte sie, als sie ihn durch die dunklen Korridore führte.

Aber Edmund war zu niedergeschlagen, um ihr zu antworten.

„Du wirst dich daran gewöhnen“, meinte sie aufmunternd. „Es ist eine tolle Schule.“

„Sicher“, murmelte er, aber er wusste, dass dem nicht so sein würde.

Madame Obsidians Schule für Seher war ein furchtbarer Ort. Während seine alte Schule hell und modern gewesen war, handelte es sich hierbei um eine schäbige, alte Burg. Es war kalt. Es roch feucht. Er war erst seit einer Nacht hier und hasste es bereits.

Madeleine hielt an einer großen Holztür und klopfte mit ihren Fingerknöcheln an.

„Herein“, rief eine Stimme im Inneren.

Edmund erkannte sie sofort. Madame Obsidian. Die Frau, die ihn ausgetrickst hatte, seine Liebe, Esther, zu betrügen.

Madeleine öffnete die Tür und winkte Edmund zu, ihr zu folgen.

Im Inneren des Raumes befand sich eine Art Büro. Es gab einen großen Tisch mit vielen Stühlen; auf jedem einzelnen saß ein Obsidian-Schüler. Am Ende thronte Madame Obsidian.

Edmund sah sich die Schüler im Raum an. Ein sehr merkwürdig aussehender Junge mit schwarzem Haar und knochigem Gesicht war so blass war, dass er einem Totenkopf ähnelte. Seine Augen dagegen waren so leuchtend blau wie er es noch nie gesehen hatte. Neben ihm saß ein großes Mädchen mit dunklem Augenmakeup. Sie hatte die Arme verschränkt und strahlte große Boshaftigkeit aus. Neben ihr saß ein rundlicher Junge mit dunklem Haar und vollkommen schwarzen Augen. Sein Blick war auf die Tischplatte gerichtet. Er sah aus, als wäre ihm erst kürzlich etwas Traumatisches passiert.

Madeleine, das rothaarige Mädchen, setzte sich auf den einzigen freien Stuhl neben dem hinterhältig dreinblickenden Jungen, während Edmund alleine stehen blieb.

„Das ist Edmund“, kündigte Madame Obsidian an und lächelte kühl. „Mein Insiderinformant. Mein Spion der Extraklasse.“

Edmund spürte ein Rütteln tief in seiner Magengegend. Wie konnte sie es wagen, so zu tun, als wäre er ein Teil ihres Plans gewesen. Als hätte sie ihn nicht ausgetrickst, ihr zu helfen.

„Ich dachte, es sei vielleicht gut, wenn du den anderen selbst erklärst, was in der Schule für Seher vorgefallen ist“, fuhr die Schulleiterin fort. „Da du ja ein so entscheidender Teil der Mission warst.“

Edmund knirschte mit den Zähnen. Er schauderte, als er an das Beben in der Schule dachte. Wie die Wände begonnen hatten, in sich zusammen zu fallen. Wie die Äste des Kapok-Baums zerbrochen und die Verbindungsgänge zu Boden gekracht waren. Wie seine Lehrer und Klassenkameraden – und seine Freunde – durch die Notausgänge hatten flüchten müssen.

„Die Schule wurde evakuiert“, murmelte er und ließ schamvoll den Kopf hängen.

„Und warum wurde sie evakuiert?“, forschte Madame Obsidian nach.

Sie genoss die Situation offensichtlich. Edmund begann, Gefühle des Hasses ihr gegenüber zu entwickeln, wie er sie nicht einmal für Oliver, seinen Rivalen, empfunden hatte.

„Weil sie in sich zusammengefallen ist“, fuhr er fort. Die Verbitterung, die er fühlte, war auch in seiner Stimme zu vernehmen.

Die Obsidian-Schüler im Zimmer begannen zu applaudieren. Sie schienen begeistert zu sein und flüsterten aufgeregt miteinander. Edmund fühlte sich immer schlechter und beschämter.

Madame Obsidian dagegen sah vollkommen zufrieden aus. „Amethysts Schule für Seher steht vor dem Ruin“, kündigte sie an und gestikulierte wie wild mit den Händen. „Jetzt ist also der perfekte Zeitpunkt gekommen um ein Angriffskommando loszuschicken.“

Edmund keuchte auf. „Nein. Bitte, tun Sie das nicht! Was gibt es dort denn noch zu holen? Haben Sie nicht bereits alles bekommen, was Sie wollten?“

Madame Obsidian schnaufte verächtlich. „Edmund, Edmund, Edmund. Mein lieber, dummer Junge. Die Schule für Seher enthält einige der wichtigsten Artefakte der Menschheit. Professor Amethyst hat so viele Schriftrollen und Texte, so viele Archive, hinter Schloss und Riegel aufbewahrt, wie kein anderer. Er sitzt auf so viel Wissen. Er hält sich selbst für eine Art Pförtner und glaubt, dass nur ihm selbst und einer kleinen Anzahl von Sehern in der Geschichte des Universums, die Geheimnisse der Seher anvertraut werden können. Aber ich glaube an das Teilen von Informationen. Ich möchte das Wissen befreien, das er seit Jahrhunderten für sich behalten hat.“

Edmund sah, wie die Seher-Schüler am Tisch zustimmend nickten. Das war also die Lüge, die Madame Obsidian ihnen eingetrichtert hatte, dachte er. Während sie seine Liebe für Esther ausgenutzt hatte, um ihn unter ihr Kommando zu bringen, hatte sie auch für ihre eigenen Schüler eine Geschichte erfunden. Sie alle hielten Professor Amethyst für einen furchtbaren Mann, der alle Seher-Geheimnisse für sich behält. Aber Edmund kannte die Wahrheit. Er wusste, dass Professor Amethyst der beste Seher des Universums war und eine große Last auf seinen Schultern trug. Sein Herz war rein und sein einziger Wunsch bestand darin, seine Schüler gut zu unterrichten, sodass sie gemeinsam das Universum beschützen konnten.

Edmund wurde langsam klar, dass er den besten Mentor betrogen hatte, den es gab und dass es ein Privileg gewesen war, ihn zu kennen. Die Schule, die er liebte, war verloren. Und es war seine Schuld. Er fühlte sich niedergeschmettert. Hoffnungslos. Einsam.

Madame Obsidians Augen flackerten böswillig. Sie klatschte laut in die Hände. Plötzlich erschien ein wirbelndes Portal am anderen Ende des Raumes.

Ein Windstoß rauschte durch das Buero und Edmund keuchte, als der Wind auf ihn einschlug.

Madame Obsidian stand langsam von ihrem Thron auf und lächelte. Das Licht des Portals glitzerte in ihren Augen.

„Madeleine. Natasha. Malcolm“, sagte sie. Das mürrische Mädchen mit den schwarzen Haaren und der seltsame Junge mit dem Totenkopfgesicht standen gehorsam auf, genau wie Madeleine. Madame Obsidian sah zu dem rundlichen Jungen. „Und Christopher.“

Auch er stand auf. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, dachte Edmund. Er wirkte unmenschlich, ruhelos, traumatisiert. Und er sah fies aus, als wolle er sich rächen.

„Ihr seid mein Team“, kündigte Madame Obsidian an. „Meine besten und glänzendsten Schüler.“

Während sein Magen vor Scham brodelte, sah Edmund zu, wie die vier Obsidian-Schüler sich auf das Portal zubewegten um die Zerstörung der Schule für Seher ein für alle Mal zu besiegeln. Ein Prozess, den er angefacht hatte, als er sich mit der teuflischen Madame Obsidian verbündete.

„Es ist Zeit“, brüllte sie und stieß ihre Faust in den Himmel. „Zeit, die Geheimnisse der Seher zu offenbaren!“

Die vier Kinder verschwanden durch das Portal und Edmund spürte, wie seine Schultern zusammensackten. Die Schule für Seher war verloren.

Kapitel sieben

Oliver, Ralph und Hazel folgten eilig dem Mann, als dieser durch die Straßen von Florenz rannte. Oliver konnte es kaum glauben, dass sie sich in der Zeit Galileos befanden. Er hatte auf seinen Zeitreisen so viele seiner Helden kennengelernt, es war unbeschreiblich. Wenn man ihm damals, als er seine Erfinderbücher von der ersten bis zur letzten Seite verschlungen hatte, erzählt hätte, dass er eines Tages diese Menschen persönlich kennenlernen würde, hätte er das niemals geglaubt!

In ihrem Blickfeld erschien nun eine Reihe beiger, stufenförmiger Gebäude. Sie waren allesamt zwischen vier und sechs Stockwerke hoch, auf jedem Stockwerk befanden sich mehrere kleine, quadratische Fenster. Die Häuserreihe erinnerte Oliver an Wohnhäuser, doch der Junge, dem sie folgten, eilte durch die geschnitzte Holztür eines vierstöckigen Hauses. Und als sie näherkamen, sahen sie die Steintafel neben der großen, schweren Tür, in die die Worte Accademia delle Arti del Disegno graviert waren.

„So viel kleiner als ich erwartet hatte“, meinte Ralph.

Hazel fuhr mit den Fingern über die eingravierten Buchstaben, als versuche sie, einen Teil der Geschichte zu absorbieren. „Du weißt, dass dein Freund Michelangelo auch hier studiert hat, oder?“, fragte sie.

„Freund?“, witzelte Ralph. „Ich glaube nicht, dass wir jemanden, der wir einmal getroffen haben, Freund nennen können.“

„Er hat uns dabei geholfen, Esthers Leben zu retten“, antwortete Hazel mit einem verärgerten Stirnrunzeln. „Er ist also definitiv kein Feind!“

„Leute“, unterbrach Oliver sie. „Wir haben keine Zeit, zu zanken. Lasst uns reingehen.“

Er drückte die schwere Eichentür auf und sie öffnete sich knarrend. Oliver hatte das Gefühl, einen geheimen Ort zu stören. Es war ein Gefühl, das ihn oft überkam, wenn er in der Vergangenheit herumschnüffelte. Es war schwer, wirklich zu akzeptieren, dass das Universum es einem Seher mit einer Mission nicht übelnahm, in andere Zeiten einzudringen. Stets erwartete er deshalb, einem strengen Lehrer zu begegnen, der sie wegschickte.

 

In der Accademia delle Arti del Disegno war es, dank den Marmorböden und den kleinen Fenstern, die kaum Sonne hereinließen, eher kühl. Die dunkle Stimmung wurde von der lackierten Holzverkleidung unterstrichen, die halbhoch die Wände schmückte, und von einer Reihe ähnlich lasierter Balken, die quer an der Decke hingen, ergänzt wurde. Beeindruckende Steinstatuen standen in Intervallen im Korridor und vervollständigten die prachtvolle Atmosphäre.

Als die Kinder eintraten, echoten ihre Schritte durch den Raum. Oliver sah den Gang hinunter. Erst links, dann nach rechts.

„Da ist er!“, rief er, als er den Jungen durch eine Tür verschwinden sah.

Sie rannten ihm nach und folgten ihm durch dieselbe Tür.

Sie befanden sich nun in einem großen Vorlesungsauditorium, das Oliver schmerzvoll an Doktor Ziblatts Klassenzimmer erinnerte. Die Bänke waren auch hier rund um die Tribüne in der Mitte in Hufeisenform angeordnet. Statt weißer, glänzender und moderner Ausstattung war das Auditorium dagegen ganz aus Holz. Und statt dem großen Projektor-Bildschirm stand auf einer schwarzen Tafel in weißer Kreide geschrieben: Die Kunst der Perspektive lässt Flaches wie ein Relief und ein Relief wie etwas Flaches erscheinen.

Plötzlich hatte Oliver einen Geistesblitz und ihm wurde klar, dass er dieses Zitat bereits kannte. Er fühlte ein seltsames Rattern in seinem Kopf, als würden sich darin kleine Rädchen drehen. Dann wurde ihm klar, woher er das Zitat kannte. Es stammte von Leonardo da Vinci. Und Oliver hatte nicht die Erinnerung an ein Buch oder eine mitgehörte Unterhaltung abgerufen – die Erinnerung war seinem eigenen Verstand entsprungen. Sein ratternder Kopf hatte Leonardo da Vincis Wissen abgerufen, ein Wissen, das Oliver bei seiner letzten Mission in Italien eingepflanzt worden war.

Der Schock saß tief. Im großen Chaos, das mit Esthers Rettung und dem erneuten Sprung in ein Portal einhergegangen war, hatte Oliver ganz vergessen, dass er nun Zugriff auf Leonardos Erinnerungen hatte. Er besaß nicht nur Signora Morettis unglaublichen Seher-Kräfte, die nun tief in den grauen Zellen seines Verstandes schlummerten. Nein, er besaß außerdem auch die Kräfte und die Intelligenz von niemand geringerem als Leonardo da Vinci! Und genau wie die Sprachfähigkeiten von Moretti in dem Moment erschienen waren, als er sie benötigte, präsentierte sich ihm nun auch Leonardos Gedankengut. Er fragte sich, welch andere Fähigkeiten er außerdem erworben hatte, in welchen Umständen er auf sie zugreifen konnte und in welcher Situation er sie benötigen würde. Italienisch sprechen zu können würde ihnen bei ihrem Aufenthalt in Italien mit Sicherheit von Nutzen sein.

Oliver konzentrierte sich wieder auf den jungen Galileo, der vor ihm auf der Tribüne stand. Oliver nahm an, dass er sich vermutlich in seinen frühen Zwanzigern befand. Sicherlich würde er die meisten, wenn nicht sogar alle, seiner großen Entdeckungen erst später machen. Oliver erinnerte sich an ein Kapitel in seinem Erfinderbuch. Galileo war demnach bereits um die vierzig Jahre alt gewesen, als er am Fallgesetz und den parabelförmigen Flugbahnen arbeitete und Mechanik, Bewegung, Pendel sowie andere mathematische Formeln untersuchte. In seinen Fünfzigern dann hatte er seine großen astronomischen Entdeckungen gemacht, Berge auf dem Mond und die Monde des Jupiters entdeckt. Schließlich hatte er die langgeglaubte Einstellung herausgefordert, dass die Erde das Zentrum des Universums sei und war dadurch in die Ungnade der Kirche gefallen.

Oliver durchkämmte seine Erinnerungen und versuchte, herausfinden, womit sich der junge Galileo in seinen Zwanzigern beschäftigt hatte. Es musste für ihn eine verlorene Zeit gewesen sein. Er verließ die Universität von Pisa ohne Abschluss, nachdem er zwischen Medizin, Mathematik und Philosophie hin und hergesprungen war. Oliver fragte sich, warum Professor Amethyst sie zu dem Galileo dieser Zeit geschickt hatte, bevor dieser auch nur eine wichtige Entdeckung gemacht hatte.

Oliver, Ralph und Hazel rutschten in die letzte Bankreihe. Als Galileo mit seiner Vorlesung begann, lehnte sich Ralph zu Oliver hinüber.

„Ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt.“

„Es ist Italienisch“, flüsterte Oliver zurück.

Ralph verschränkte die Arme. Hazel schmollte.

„Wie unfair“, sagte sie. „Ich würde nur zu gerne wissen, was er sagt. Kannst du übersetzen?“

Aber Oliver forderte sie auf, still zu sein. „Ich kann nicht übersetzen, wenn ich nicht verstehe, was er sagt.“

Hazel verzog ihr Gesicht und ließ sich zurückfallen, während sie ihre Arme auf dieselbe Weise verschränkte wie Ralph. Oliver hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich eine Stunde einer vermutlich unglaublich faszinierenden Vorlesung anhören mussten, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen.

„Wie wir hier sehen können“, sagte Galileo und zeigte auf das Gemälde einer Frau, die ein blau-rotes Kleid trug und ein kleines Wesen in den Händen hielt, „wurde die Figur diagonal im Raum positioniert. Ihr Kopf dreht sich in Richtung der linken Schulter, die dem Betrachter am nächsten ist. Dadurch bleibt die Rückseite ihres Kopfes sowie die rechte Schulter im Schatten. Zur selben Zeit ruht ihre rechte Hand auf der Flanke des Hermelins. Das Hermelin, sowie ihre Nase, ihr Gesicht und ihre linke Schulter werden beleuchtet. Der Künstler vermittelt also den Eindruck der Lichtstreuung. Wir nehmen dadurch Distanz und Position in Relation zum Licht wahr.“

Dame mit dem Hermelin, dachte Oliver. Der Name des Gemäldes tauchte urplötzlich in seinem Kopf auf.

Hazel beugte sich zu Oliver. „Das ist ein Gemälde von da Vinci“, sagte sie.

Natürlich.

Und wieder hatte er eine Erinnerung abgerufen, die zu denen gehörte, die da Vinci in seinem Verstand verankert hatte. Doch dieses Mal fühlte sich die Erinnerung instinktiver an, als ob sie nicht nur aus Information, sondern auch aus Gefühl bestünde. Melancholie pochte in Olivers Brust, als ihm bewusst wurde, dass der Mann, dessen Wissen, Erinnerung und Emotion er in sich trug, in dieser Zeit bereits verstorben war. Und obwohl Oliver wusste, dass alles gleichzeitig passierte, dass Zeit nicht linear war, machte es ihn dennoch traurig, als er daran dachte, dass der brillante Leonardo in diesem Moment der Geschichte nicht unter ihnen weilte. Sein geniales Gehirn lebte nur in den Nischen von Olivers Verstand.

Eine Hand auf seiner brachte Oliver zurück in die Wirklichkeit. Er sah zur Seite und blickte in Hazels ernste, graue Augen.

„Machst du dir Sorgen um Esther?“, flüsterte sie mit weicher Stimme.

Oliver lachte traurig. „Jetzt schon.“

„Ups, tut mir leid“, antwortete Hazel, als sie ihren Fehler bemerkte. Sie runzelte die Stirn. „Woran hast du dann gedacht? Du sahst furchtbar aus.“

Oliver verzog den Mund. Er wollte Hazel nicht belasten, aber er wusste auch, dass es ihm auf lange Sicht nicht guttun würde, dieses Geheimnis für sich zu behalten.

„Da Vinci“, sagte er und versuchte, so leise wie möglich zu sein, um die konzentrierten Studenten um sie herum nicht zu stören. „Ich kann ihn fühlen.“ Er klopfte gegen seinen Kopf. „Hier oben.“

Hazels Augen wurden groß. „Du meinst, sein Wissen?“

„Sein Wissen. Seine Erinnerungen.“ Oliver bewegte seine Hand, sodass seine Finger über seinem Herzen ruhten. „Seine Gefühle.“

„Große Güte“, antwortete Hazel schockiert.

Da beugte auch Ralph sich zu ihnen. „Worüber redet ihr?“, fragte er wesentlich lauter, als die beiden anderen es gewesen waren.

Mehrere Schüler, die auf der Bank vor ihnen saßen, drehen sich wütend um und hielten die Finger auf die Lippen. „Psst!“

Ralph wurde rot vor Scham und versank in seinem Sitz. Er verschränkte die Arme und wirkte leicht angesäuert, weil er nicht in das Geheimnis eingeweiht worden war.

Die drei Freunde blieben für die ganze Vorlesung. Hazel saß aufrecht und neugierig da. Ralph dagegen war unglaublich gelangweilt. Einmal war er kurz davor, einzuschlafen.

Oliver selbst durchlebte verschiedene Sinneswahrnehmungen. Gedanken und Emotionen, die Leonardo gehörten, zupften an ihm, als Galileo die Theorie der Perspektive in der Kunst diskutierte. Es war mehr als seltsam und Oliver atmete erleichtert auf, als die Vorlesung endlich vorbei war.

Als die Studenten den Raum verließen, gingen die Kinder in die gegenteilige Richtung: die Stufen hinunter und auf Galileo zu.

„Verzeihung“, sagte Oliver, dem die italienische Sprache problemlos über die Lippen kam. „Signor Galilei?“

„Seid ihr nicht ein bisschen zu jung für meinen Unterricht?“, sagte Galileo und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß.

„Wir sind nicht in Ihrer Klasse“, erklärte Oliver ihm. „Wir sind Seher.“

Er hatte entschieden, sofort zum Punkt zu kommen. Professor Amethyst hatte sie aus gutem Grund an diesen Ort und in diese Zeit geschickt und jeder große Erfinder, den sie auf vorherigen Missionen bereits getroffen hatten, war entweder ein Seher gewesen oder hatte zumindest von ihnen gewusst. Es machte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden.

Er sah, wie die Augen des jungen Mannes wissend flackerten. Doch Galileo spielte dumm.

„Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet“, sagte er und sammelte seine Papiere zusammen.

„Ich denke, das tun Sie“, forschte Oliver weiter. „Wir wurden nach Florenz geschickt. Von Professor Amethyst. Vielleicht kennen Sie ihn? Er leitet die Schule für Seher. Wir haben den Auftrag, das Feuerzepter zu finden. Haben sie zufällig davon gehört?“

Galileo schob seine Dokumente nun so eilig in seine Tasche, dass Oliver klar war, dass er etwas wusste. Etwas, das er aus unbekannten Gründen nicht besprechen wollte.

„Noch nie davon gehört“, behauptete er und sah Oliver nicht länger in die Augen.

Oliver hatte die starke Vermutung, dass Galileo ihn anlog, auch wenn er nicht verstand, warum. Vielleicht war er kein Seher. Doch er hatte etwas Ungewöhnliches an sich.

Oliver entschied sich dafür, kühn zu sein. „Wir kommen aus der Zukunft“, sagte er.

„Ach tatsächlich?“, sagte Galileo. Er hielt inne. „Dann erzählt mir von etwas, das noch nicht erfunden wurde, um es zu beweisen.“

Oliver zögerte. Er wusste, wie hauchdünn das Gleichgewicht war. Wie vorsichtig sie sein mussten, um die Balance nicht zu stören. Dass ein kleiner Fehler katastrophale Auswirkungen haben konnte.

„Das kann ich nicht“, sagte er.

„Ha“, antwortete Galileo. „Wie ich es mir gedacht habe. Ihr lügt.“

„Das tun wir nicht“, sagte Oliver. „Fordern Sie mich zu etwas anderem heraus. Stellen Sie mir eine Frage, die nur Leonardo da Vinci beantworten könnte.“

Hazel zupfte ihn an seinem Ellbogen. „Oliver, was tust du?“

„Keine Sorge. Ich habe alles unter Kontrolle“, sagte Oliver aus dem Mundwinkel heraus.

„Okay“, sagte Galileo und klopfte sich nachdenklich ans Kinn. „Der Herzog von Valeninois hat bei da Vinci eine Karte der Stadt von Imola in Auftrag gegeben. Wann war das?“

Oliver durchkämmte seinen Verstand nach da Vincis Erinnerungen. „1502“, sagte er.

Galileo runzelte die Stirn. „Glückstreffer.“

„Fragen Sie mich etwas anderes“, forderte Oliver. „Und ich werde beweisen, dass es nicht geraten war.“

„Okay“, sagte Galileo. „Vielleicht eine Frage zur Geometrie. Erzähle mir von den fünf Konzepten.“ Er grinste hinterlistig, da er davon ausging, dass Oliver auf keinen Fall dazu im Stande war, diese Frage korrekt zu beantworten.

Wieder zapfte Oliver den Teil seines Verstandes an, der ihm von da Vinci geschenkt worden war. „Punkt, Linie, Winkel, Fläche und Körper.“

Galileo sah erstaunt, aber auch beeindruckt aus. „Und was ist am Punkt so besonders?“

„Na“, sagte Oliver, „er hat weder Höhe noch Breite, Länge oder Tiefe, weshalb er als unteilbar kategorisiert wird. Er nimmt im Raum keine Dimension ein.“

Er zitierte nun da Vinci selbst, während er die exakten Worte des Erfinders aus seinem Verstand herauskramte. Hazel wirkte vollkommen fassungslos. Ralph dagegen schien es etwas besorgniserregend zu finden, dass Oliver auf so viel Wissen zugreifen und dieses jederzeit anzapfen konnte.

Doch darum ging es nicht, dachte Oliver. Er sah Galileo an, um zu erkennen, ob er den Mann überzeugt hatte. Dieser schien die drei Kinder genaustens zu betrachten.

Endlich sah Galileo Oliver in die Augen. „Und warum wolltet ihr mich sehen?“

„Wir sind Seher“, sagte Oliver. „Aus der Zukunft. Wir glauben, dass Sie uns dabei helfen können, das sogenannte Feuerzepter zu finden.“

Galileo hielt für einen Moment inne und verzog die Augenbrauen. „Vielleicht solltet ihr mit mir mitkommen“, sagte er.

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