Buch lesen: «Auf dem Lande alles dicht?», Seite 4

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Heimat als Gefühls- und Praxisraum. Ethnographische Zugänge

Dr. Juliane Stückrad

Heimatvorstellungen

Im Gespräch mit dem Kirchenvorsteher eines Dorfes bei Leipzig erfuhr ich, wie wichtig es der Gemeinde ist, dass Konfirmationen der Jugendlichen aus dem Dorf in der eigenen und nicht in der Nachbarkirche stattfinden. Er begründete diese Forderung an den Pfarrer mit: „Heimatgefühl. Das kann man nicht ersetzen.“1

Jenseits aller Debatten um Deutungen, Missbrauch und Gefahren des facettenreichen Begriffs Heimat,2 spielt dieser im Alltagswissen vieler Menschen eine wichtige Rolle. Bei meinen ethnografischen Erkundungen zur Bedeutung von Kirche und zu Stimmungslagen in ländlichen Räumen begegnen mir häufig Heimatvorstellungen. Und als Zugang zu den Forschungsfeldern eignen sich Heimatmuseen und Heimatvereine hervorragend, um einen Einblick in die lokalen Geschichtsschreibungen und Identitätskonstruktionen zu erhalten. Über dieses alltägliche Heimatverständnis kann es gelingen, die Lebenswirklichkeiten der Menschen zu ergründen und zu verstehen. Das könnte die Basis für einen gesellschaftlichen Diskurs darüber sein, wie eine Heimat zu gestalten ist, die sich angstfrei öffnet und nicht argwöhnisch abschottet. Es geht dabei nicht um einen wehmütigen Blick auf die „gute alte Heimat“, die in der Erinnerung immer viel schöner ist, als sie es jemals war, sondern um eine auf die Zukunft ausgerichtete Perspektive, wie man ausgehend vom Lokalen eine Welt erschafft, in der jede*r heimisch werden kann. Begriffsgeschichtlich betrachtet entwickelte sich Heimat vom Rechtsraum zum Gefühlsraum. Heimat beschrieb ursprünglich das Haus, den Hof und das direkt erfahrbare dörfliche Umfeld, den Ort, der das Überleben sicherte.3 Heimat war Besitz an Grund und Boden. Wer kein Haus und Hof besaß, war in den alten Rechtsvorstellungen heimatlos. Die mobilere bürgerliche Bevölkerung verknüpfte seit dem 19. Jahrhundert neue Vorstellungen mit Heimat und reicherte sie mit Gefühlen an, die die Unsicherheiten des eigenen Lebens kompensierten. Heimat wuchs so über den Hof, das Elternhaus, die lokale Gemeinschaft hinaus und wurde über die Landschaft gelegt. Sie verwandelte sich in der Heimatbewegung, in der Heimatkunst oder im Heimatschutz in ein „Kontrastprogramm“ zur industrialisierten Großstadt. Heimat wurde nun vorwiegend mit bäuerlichen Lebenswelten in Verbindung gebracht und transportierte Bilder, die bis heute nachwirken. Aus diesen Ideen von Heimat entstanden Reformprogramme. Diese Entwicklung konnte bereits aggressive Züge annehmen und verlief parallel zur nationalistischen und bald auch rassistischen Aufladung des Heimatbewusstseins, die uns den unbefangenen Umgang mit Heimat erschweren. Mittlerweile findet der Begriff Heimat Verwendung für einen Identifikationsraum, der in seinen Ausmaßen variabel bleibt. Heimat kann als ein „Ort tiefsten Vertrauens“ wahrgenommen werden.4 Bormann deutet die Verknüpfung materieller, historischer und sozialer Gegebenheiten des Raumes als Notwendigkeit „einer kulturellen Produktion von Lokalität, im Sinne von raum-zeitlichem Verortet-Sein.“5 Das „raum-zeitliche Verortet-sein“ erfolgt bei vielen Menschen, denen ich bei der Feldforschung begegne, in überschaubareren Teilräumen, dem direkten Wohnort und dem sozialen Nahbereich, die Danielzyk und Krüger (1994: 115) als „Geborgenheitsraum“ beschreiben. Ausgehend von den lokalen Bedingungen beurteilen die Menschen die Qualität ihrer Lebenswelt.6 Heimat als „Geborgenheitsraum“ oder „Satisfaktionsraum“7 wird als Utopie von der Realität regelmäßig herausgefordert und gerade dann zum Thema, denn sie ist weder statisch noch krisensicher.

Unmut und Utopie

Unmut entsteht, wo wir mit Erwartungen an etwas herantreten und diese sich nicht mit den Erfahrungen decken. Lässt man sich auf das Schimpfen über die Heimatregion ein, kann man daraus Erwartungen ablesen. Schimpfen als Ausdruck des Unmuts entwickelt identitätsstiftende Kraft. Es dient der Positionierung in Raum und Zeit. Der Prozess dieser verbal ausgetragenen Positionierung offenbart Konflikte in der Identitätsfindung und lässt erahnen, was von einer Region bezüglich der Lebensqualitäten erwartet wird. Dabei sind wirtschaftliche und identitätsbezogene Argumente untrennbar miteinander verwoben. Man wünscht einen Raum, der den nötigen wirtschaftlichen Hintergrund bietet, sich privat zu entfalten und soziale Beziehungen aufbauen und pflegen zu können.8 Es stellt sich die Frage, wie aus der Enttäuschung heraus konstruktive Potenziale für die Gestaltung von Heimat entwickelt werden können. Erfahrungen aus ethnografischen Datenerhebungen in ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten zeigen, ohne eine sensible Aufarbeitung der Transformationserfahrungen wird eine zukunftsorientierte Arbeit an der Heimat schwierig. Es geht dabei nicht nur darum, Verletzungen und Verluste herauszuarbeiten, sondern auch die erstaunlichen Lebensleistungen vieler Menschen zu würdigen, die im gesellschaftlichen Umbruch nach 1989 ihr Schicksal und das ihrer Wohnorte selbst in die Hand nahmen. Es handelt sich dabei um Transformationserfahrungen, die für eine gesamte Gesellschaft angesichts des fortschreitenden Wandels von großem Gewinn sein können und Inhalt kultureller Bildungsprojekte sein sollten.


Meine bisherigen Feldstudien in Ostdeutschland brachten einen Mangel an Zukunftsperspektiven für viele Dörfer und kleine Städte zutage. Viele Menschen glauben weder an einen wirtschaftlichen Aufschwung noch an den Zuzug neuer und jüngerer Bürger*innen. Zahlreiche kulturell aktive Bürger*innen hoffen, den Status Quo irgendwie halten zu können, ohne wirklich an eine Verbesserung der Situation zu glauben. Häufig haben die Menschen schon gar keinen Mut mehr, Visionen für die Zukunft zu entwickeln. „Wer weiß, wie lange es das noch gibt.“ Diesen Satz hörte ich häufig, ob im Heimatmuseum, im Jugendclub, beim Sportverein oder in der Kirchgemeinde.

Diese Haltung ist gerade für jüngere Menschen wenig inspirierend, um sich einzubringen. Zuverlässige kulturelle Bildungsprogramme sollten hier entgegensteuern und ermuntern, gemeinsam Perspektiven für ein gutes Zusammenleben zu entwickeln. Unmut sollte man dabei nicht überhören, denn in ihm sind die Utopien enthalten, die als Grundlage dieser Zukunftsdiskurse dienen können.

Heimat in der kulturellen Praxis

In Verbindung mit dem Begriff Heimat wird häufig auch von Identität gesprochen. Heimat bezieht sich auf den Raum, auch wenn dieser nicht strikt einzugrenzen ist, während Identität eine innere Struktur umschreibt. Heimat und Identität werden häufig erst zum Thema, wenn eine Störung sozialer und kulturaler Tatbestände vorliegt.

Identität steht für die „Übereinstimmung des Menschen mit seiner Umgebung“ und wird als „Gegenbegriff zur Entfremdung“ angewendet.9 Rahel Jaeggi beschreibt Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Weiter erklärt sie: „Eine entfremdete ist eine defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat.“10 Entfremdung enthält den vielschichtigen Begriff „fremd“. In der deutschen Sprache zeichnet sich das dazugehörige Substantiv durch seine Genusvarianz aus: „der/die/ das Fremde“11 „Der Fremde“ ist der Unbekannte, dem man im eigenen und im fremden Raum gegenübertritt. Dabei existiert „der Fremde“ nicht per se, sondern wird zum Fremden gemacht; ein Vorgang, der in den Kultur- und Sozialwissenschaften als „Othering“ bezeichnet wird. „Die Fremde“ ist die Möglichkeit, die einem als irrelevant, als Option oder auch als unausweichliches Schicksal erscheint. „Das Fremde“ aber findet sich innerhalb des Eigenen. Es sind Dinge, Vorkommnisse und Anforderungen, die fremd erscheinen, die das Gewohnte infrage stellen und die nach einer Auseinandersetzung verlangen. Fremdsein bezeichnet keine Eigenschaft, sondern immer ein Verhältnis. Unmut über Fremde verweist nicht nur auf eine Krise in der Beziehung zum Fremden, sondern auch zu sich selbst.

Bildungsprojekte können anknüpfend an die Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte den Wandel des eigenen Heimatortes und der Heimatregion thematisieren, als Voraussetzung für die Überwindung von Entfremdungserfahrungen. So schaffen sie vor Ort Vertrauen durch Wertschätzung der Biografien und der lokalen Gegebenheiten.

Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.

Gemeinsames kulturelles Engagement kann identitätsstiftende Kraft entfalten. Viele Initiativen, die ich während meiner Feldstudien erkundete, haben das Ziel, der Entfremdung entgegenzuwirken und den Menschen Räume und Zeiten zu öffnen, in denen sie sich mit etwas identifizieren können. Denn, wie Jaeggi ausführt, verbinden wir uns in der Identifikation mit dem „Wohl oder Geschick“ von etwas oder jemandem.12 Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.

Daher sollten kulturelle Projekte die jeweiligen Identitätsdebatten vor Ort nicht ausblenden, weil sie oft die Ursache von Blockaden im kommunikativen Prozess sind. Vielmehr könnten sie fragen, wo und wozu Grenzziehungen stattfinden, bevor sie diese Grenzen überschreiten und den Menschen neue Perspektiven bieten können.

In vielen Städten und Dörfern, die ich während meiner Forschung kennenlernte, erklärten mir meine Gesprächspartner*innen, dass es heute weniger Zusammenhalt als früher gebe und es immer schwieriger werde, jüngere Menschen zu motivieren, sich am Kulturleben zu beteiligen. Dennoch erlebte ich sehr schöne Veranstaltungen und Feste, die generationsübergreifend organisiert werden. Auch lernte ich Vereine kennen, die keine Nachwuchssorgen haben, weil es durch starke Vorbilder gelingt, immer wieder Kinder und Jugendliche zu finden, die Verantwortung für ihren Heimatort übernehmen wollen. Wenn ich fragte, wie dies gelingt, hörte ich häufig, jeder wisse, was er zu tun habe. Es besteht also Routinewissen.

Dieses Wissen, mit dem wir auch unseren Alltag bestreiten, erleichtert Abläufe und regelt Verantwortlichkeiten. Es verweist auf die unproblematischen Seiten der Lebenswirklichkeit.13 Bildungsinitiativen sollten danach fragen, was vor Ort gut funktioniert und von den Erfahrungen und Netzwerken der Akteur*innen profitieren.

Dann lässt sich im nächsten Schritt erkunden, ob dieses Routinewissen auf weitere Aktivitäten übertragbar ist. Um Routinen und kulturelle Praxen zu erlernen, braucht es zuverlässige Angebote. Gerade angesichts der Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels sind Kontinuitäten notwendig. Es gilt, den einheimischen und ankommenden Menschen, die vor Ort an einer offenen und lebendigen Gesellschaft arbeiten, Wertschätzung entgegenzubringen und ihnen zuverlässig zur Seite zu stehen. Denn wir haben es in der Hand, welche Bedeutungen der Heimatbegriff in Zukunft transportieren wird.

Wir danken der kubi-Redaktion und Dr. Juliane Stückrad für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 16 „Heimat – der rechte Begriff?“, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2019, S. 6–11

Literatur

Bausinger, Hermann: „Heimat und Identität“, in: Moosmann, Elisabeth (Hrsg.): Heimat. Sehnsucht nach Identität. Berlin 1980, S. 13–29, hier S. 13–22.

Bausinger, Hermann et al. (Hrsg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1989, S. 205–210.

Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen 2001, S. 304.

Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld 2016.

Danielzyk, Rainer/Krüger, Rainer: „Region Ostfriesland? Zum Verhältnis von Alltag, Regionalbewußtsein und Entwicklungsperspektiven in einem strukturschwachen Raum“, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt/Main, New York 1994, S. 91–121, hier S. 115.

Gottowick, Volker: Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Präsentation. Berlin 1997, S. 136, 334.

Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt/Main 1972, S. 48.

Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines philosophischen Problems. Frankfurt/Main 2005, S. 22–23.

Köhle-Hezinger, Christel: „Kulturen der Landschaft – Kulturen der Heimat. Regionale Kulturen“, in: Welch Guerra, Max (Hrsg.): Kulturlandschaft Thüringen. Weimar 2010, S. 96–117, hier S. 103–104.

Ploch, Beatrice/Schilling, Heinz: „Region als Handlungslandschaft. Überlokale Orientierung als Dispositiv und kulturelle Praxis: Hessen als Beispiel“, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt/Main, New York 1994, S. 122–157, hier S. 124.

Stückrad, Juliane: „Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit.“ Eine Ethnographie des Unmuts am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises im Süden Brandenburgs. Kiel 2010, S. 165.

Stückrad, Juliane: Verantwortung, Tradition, Entfremdung. Zur Bedeutung von Kirche im ländlichen Raum. Eine ethnographische Studie in drei Dörfern im Gebiet des Regionalkirchenamtes Leipzig. Kohrener Schriften 2. Großpösna 2017, S. 26.

1S. Stückrad 2017, S. 26.

2Vgl. Costadura/Ries 2016.

3S. Köhle-Hezinger 2010, S. 103 f.

4S. Bausinger 1980, S. 13–22.

5S. Bormann, S. 304.

6S. Ploch/Schilling 1994, S. 124.

7S. Greverus 1972, S. 48.

8S. Stückrad 2010, S. 194.

9S. Bausinger 1989, S. 205–210.

10 S. Jaeggi 2005, S. 22 f.

11 S. Gottowick 1997, S. 136, 334.

12 S. Jaeggi 2005, S. 168.

13 S. Berger/Luckmann 2003, S. 44 f.


Jugend auf dem Land – Reiten, Feuerwehr und Bushaltestelle?

Ein Gespräch mit Dr. Frank Tillmann, Deutsches Jugendinstitut

Den ländlichen Raum gibt es nicht. Die Lebensbedingungen von Jugendlichen allerorten sind unterschiedlich. Die Frage nach der Benachteiligung durch den ländlichen Raum lässt sich dennoch definitiv mit ja beantworten. Abgesehen von ihren politischen Mitsprachemöglichkeiten, die von ihrer Altersgruppe in der Stadt als gleichermaßen schlecht bewertet werden, fühlen sich Jugendliche in ländlichen Räumen bei verschiedenen Fragen, die ihnen bezüglich ihres Herkunftsortes wichtig sind, benachteiligt.

Wie gestalten junge Menschen ihre Freizeit, was bewegt und beschäftigt sie?

Eine wichtige Entwicklungs aufgab e im Jugendalter ist die Ablösung vom Elternhaus und der Aufbau eigener sozialer Netzwerke. Von Gleichaltrigen natürlich, auch um sich der Erwachsenenwelt zu entziehen. Es geht darum, sich selbst zu finden, Vorlieben, Abneigungen, eigene kulturelle Ausdrucksformen zu entdecken. Die Freizeit ist der Raum, in dem das möglich wird.

Welches Bild von Jugend haben die jungen Menschen selbst?

Sie sehen sich durchaus als benachteiligte Interessengruppe. Sie haben das Gefühl, als Bevölkerungsgruppe nicht ernst genommen zu werden. Sie sehen auch, dass Altersgruppen um Ressourcen konkurrieren und verstehen nicht, warum Seniorenbegegnungsstätten aufgebaut und Jugendclubs geschlossen werden, sie noch dazu an öffentlichen Plätzen nicht geduldet werden. Das verstärkt sich im ländlichen Raum, weil da die Interessengegensätze zwischen den Generationen deutlicher werden angesichts der knappen Ressourcen oder des demografischen Wandels, der in Städten nicht so auffällt, selbst wenn er stattfindet.

Wie erleben junge Menschen das Leben in ländlichen Regionen?

Jugendliche hier sehen sich Vereinzelungstendenzen gegenüber. Wenn sich das Image eines Landkreises verschlechtert, dann sehen auch die Jugendlichen keine Perspektiven mehr für sich. Es kommt zur Abwanderung. Dann finden sie in ihrem Dorf oft keine Gleichaltrigen mehr, die eine wichtige Referenzgruppe für die benannten Entwicklungsaufgaben sind. Oder wenn, dann ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass sie gemeinsame Interessen teilen. Die möglichen Treffpunkte werden immer weniger, Jugendclubs werden geschlossen. Und was die Freizeit betrifft: Sie schrumpft bei Fahrtwegen zwischen Schule und Wohnort von bis zu zwei Stunden täglich und mehr auf ein Minimum zusammen.

Welche Faktoren bezüglich ihrer ländlichen Herkunftsregionen sind Jugendlichen wichtig?

In unserer Studie haben wir in Gruppendiskussionen mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 Jahren verschiedene Aspekte identifizieren können, beispielsweise die Beschäftigungsperspektive: Welche Einkommensmöglichkeiten habe ich, kann ich meinen Wunschberuf hier ausüben? Dann eine weiterführende Bildung: Welche Anschlüsse habe ich hier an die Schule? Diese beiden Faktoren sind es vor allem, die entscheiden, ob sie ihren Heimatkreis verlassen. Grundsätzlich haben Jugendliche eine hohe Identifikation mit ihrer Herkunftsregion. Wenn, dann gehen sie häufig nur als Zugeständnis an ihre berufsbiografische Entwicklung oder in selteneren Fällen, wenn sie sich Freiheitsgewinne versprechen, weil der höhere Konformitätsdruck ihrer persönlichen Entwicklung im Wege steht.

Wie steht es um Freizeitangebote?

Wir konnten feststellen, dass Mädchen in den von uns untersuchten Landkreisen ein geringeres Angebot vorfinden, das mit Karnevalsvereinen und Reiten noch dazu sehr mit Geschlechterklischees behaftet ist. Den Jungs wird nahegelegt, sich bei der örtlichen Jugendfeuerwehr zu engagieren oder dann später im Schützenverein. Da ist kaum Angebotsvielfalt zu erkennen.

Das Angebot der Jugendarbeit ist natürlich ein wichtiger Faktor. Wir konnten feststellen, dass Mädchen in den von uns untersuchten Landkreisen ein geringeres Angebot vorfinden, das mit Karnevalsvereinen und Reiten noch dazu sehr mit Geschlechterklischees behaftet ist. Den Jungs wird nahegelegt, sich bei der örtlichen Jugendfeuerwehr zu engagieren oder dann später im Schützenverein. Da ist kaum Angebotsvielfalt zu erkennen. Natürlich wollen sich Jugendliche auf dem Land auch mit Gleichaltrigen treffen oder an anderen Orten Freizeitangebote aufsuchen. Weil diese physischen Gesellungsformen wegen der eingeschränkten Mobilität aber nicht so einfach verfügbar sind, ist es umso wichtiger, sich in sozialen Netzwerken zu begegnen und dort virtuelle Räume zu haben. Andere Freizeitmöglichkeiten konfrontieren die Jugendlichen oft mit widersinnigen Bedingungen, wenn sie z.B. in ihr Schulgelände einbrechen bzw. über einen Zaun klettern müssen, um die Sportstätten nach Schulschluss nutzen zu können, obwohl die Schule in vielen ländlichen Orten die letzte öffentliche Institution ist. Oder Öffnungszeiten von Jugendclubs, wenn es sie überhaupt noch gibt: Gerade dann, wenn Jugendliche Zeit haben, nämlich am Wochenende, sind die Jugendfreizeiteinrichtungen in der Regel zu.

Benachteiligung und Vereinzelung – Wie bewältigen Jugendliche das?

Hier wird viel übers Internet kompensiert, durch soziale Netzwerke und Unterhaltungsmedien wie Online-Spiele. Der Breitbandausbau im Land ist aber noch sehr rückständig. Ansonsten organisieren sie sich schon ihre eigene Mobilität, lassen sich von Freunden abholen. Auch nicht motorisierte Mobilität, sprich Fahrrad, ist ganz wichtig.

Welche Möglichkeiten zur Teilhabe und Partizipation werden jungen Menschen in ländlichen Räumen geboten?

Viele Landkreise geben sich große Mühe. Oft kommen den Jugendlichen aber die Errungenschaften, die sie durch zähe Verhandlungen erzielen, selbst gar nicht mehr zugute, weil sie dann in einer anderen Lebensphase sind. Und weil die Formate überhaupt nicht jugendorientiert sind, z.B. formalisierte Gremienarbeit, wollen sich nicht so viele beteiligen. Das ist ein doppeltes Dilemma. Gleichzeitig unterschätzen Politik und Verwaltung die Beteiligungsbedürfnisse der Jugendlichen. Es ist absolut unzutreffend, dass sie nur daddeln und in Ruhe gelassen werden wollen. Die Entscheider*innen haben außerdem ein Problem damit, wenn Macht und Verantwortung auseinanderfallen und so ist das tendenziell bei Jugendbeteiligung: Jugendliche haben Mitspracherechte, müssen aber beispielsweise für Budgetentscheidungen nicht selbst geradestehen. Für Entscheidungsträger*innen ist das oft ein Grund, sich davor zu hüten, Macht abzugeben.

Was müsste passieren?

Jugendliche brauchen schnelle Erfolgserlebnisse, wenn es um Partizipation geht. Sie müssen Selbstwirksamkeit erfahren. Sie wollen wissen, was aus ihrer Stellungnahme geworden ist, egal ob erfolgreich oder nicht. Wir empfehlen in solchen Beteiligungsverfahren, mehr auf e-Partizipation umzustellen, weg von der klassischen Gremienarbeit. Jugendliche aus einem ländlichen Raum haben mir mal geschildert, sie suchen einfach einen Ort, den sie nach ihren Vorstellungen gestalten können, ob Jugendraum oder Schrebergarten ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist, dass nicht alles vorgegeben ist. Letztlich ist es auch an der Zeit, mehr in eine Art aufsuchende Partizipation einzutreten, weil eben die herkömmlichen Beteiligungsformate für Jugendliche einfach nicht passen oder zu hochschwellig sind.

Wir danken der kubi-Redaktion und FrankTillmann für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 18 „Land – alles oder nichts!?“ Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2020, S. 56–59. Das Interview wurde geführt und verfasst von Susanna M. Prautzsch.

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