Buch lesen: «Auf dem Lande alles dicht?», Seite 3

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Sie sagten, für die Jugendarbeit sei es wichtig, dass die Jugendlichen mit eingebunden werden in die Kommune. Wie könnte das konkret aussehen?

Die Jugendlichen sollten das Stadtbild mitgestalten dürfen. Es gibt schon in manchen Kleinstädten Programme für Jugendarbeit, wo den Jugendlichen ganze Häuserwände auf öffentlichen Plätzen oder sogar Busse des öffentlichen Nahverkehrs zur Verfügung gestellt werden, um sie zu gestalten. Das Stadtbild wird dadurch sicher bunter und die Jugendlichen fühlen sich willkommen und eingebunden. Warum sehen die meisten unserer Schulen so lebensfeindlich, kalt und unfreundlich aus? Warum lässt man nicht die Schüler*innen gemeinsam mit Expert*innen, z.B. Innenarchitekt*innen, neue Gestaltungsformen finden für Räume, in denen Schüler*innen wie Lehrer*innen immerhin fast die Hälfte ihrer täglichen Lebenszeit verbringen müssen? Es gibt inzwischen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, das Recht der Jugendlichen, bei allen kommunalen Entscheidungen, die sie betreffen, angehört zu werden. Es gibt viele Ideen, wie Kommunen jugendliche Partizipation jenseits der traditionellen Jugendbeiräte und -parlamente kreativ und wirksam gestalten können. Oft fehlt nur der Wille, zur jugendfreundlichen Stadt zu werden. Es ist wie beim Klimawandel: Der Problemdruck ist da, wird aber von vielen Verantwortlichen ignoriert und geleugnet, obwohl die Folgen der Ignoranz allerorts spürbar sind. Denn Politikmüdigkeit, Rechtspopulismus usw. entstehen bei Jugendlichen wie bei ihren Eltern vor allem aus dem Gefühl heraus: Ich habe keinen Einfluss auf meine Umwelt. Ich bin nicht gefragt. Keiner legt hier Wert auf meine Meinung.

Daraus entstehen oft Trotzreaktionen, die kontraproduktiv sind. Man muss den jungen Menschen ermöglichen, sich einzubringen und ihre Lebenswelt zu beeinflussen, ihnen zeigen, dass ihre Stimme zählt. Jugendliche sollten so oft wie möglich beteiligt und gefragt werden und die Möglichkeit bekommen, in der eigenen Stadt Präsenz zu zeigen. Sie sollten zeigen dürfen: Wir sind hier, wir leben auch in dieser Stadt, dies ist auch unsere Gemeinde.

Und damit es kein einmaliges Strohfeuer wird, sondern die Stadt oder die Region nachhaltig verändert, sollten sich Städte und Landgemeinden selbst verpflichten, eine jugendfreundliche Stadt bzw. Gemeinde zu werden, und entsprechend „Runde Tische für eine jugendfreundliche Stadt“ starten, bei denen sich Politik, Verwaltung, Schule, Polizei, Verbände, Vereine, Kultureinrichtungen, Jugendarbeit, Wirtschaft und Jugendliche regelmäßig treffen und an dem Thema arbeiten.

Viele Jugendliche sind bereits in einem oder mehreren Vereinen. Hat hier die Jugendarbeit trotzdem eine Chance, etwas weiterzubringen?

Ja, das Zeitbudget von Jugendlichen wird immer enger, manche junge Leute haben schon einen Terminkalender wie ein Abgeordneter. Umso mehr brauchen Jugendliche aber auch einen Freiraum, wo sie nichts Sportliches, Musikalisches oder sonst etwas für ihren weiteren Karriereweg Sinnvolles leisten müssen. Einen Ort, wo sie einfach nur zusammen sein, sich austauschen und entspannen können. Das kulturelle Engagement rund um die Jugendarbeit garantiert Vielfalt, sodass man zum Beispiel sowohl in der Gemeindekapelle als auch in der Metal-Band spielen kann. Das ehrenamtliche Engagement im Verein ist sehr wichtig und positiv für die Jugendlichen, aber oft auch sehr hierarchisch aufgebaut. Das heißt, die Jugendlichen dürfen sich zwar einbringen, aber das Sagen haben meistens ältere Männer, die seit Jahrzehnten den Verein führen und entscheiden, wo und wie genau die Jugendlichen sich engagieren dürfen, und nicht bereit sind, auch nur einen Millimeter ihrer Macht abzugeben. Genau deshalb braucht es auch die Offene Jugendarbeit, wo eine andere Mentalität herrscht.

Wo soll es hingehen mit den Jugendkulturen? Was wünschen Sie sich von den jugendlichen Aktivist*innen?

Nichts anderes als das, was sich alte Säcke schon immer von „der Jugend“ wünschen: Sie mögen endlich mal wieder mehr rebellieren. Denn dass die Welt, wie wir sie den Jungen hinlegen, zum Teil erbärmlich ist – Bienen sterben aus, Banken und Autokonzerne erhalten Milliarden geschenkt, aber für die Renovierung maroder Schulen ist kein Geld da; Menschen verhungern oder leben unter der Armutsgrenze, während Konzerne wie Apple, Google, McDonal?s, Amazon oder Starbucks in Deutschland Milliarden umsetzen, ohne darauf Steuern zu zahlen usw. -, dürfte klar sein. Aber: Die Jugend selbst, so engagiert sie auch sein mag, hat keine Chance, dies zu ändern. Sie braucht Bündnispartner bei den älteren Generationen. Auch eine Jugendarbeit, die nicht zur bloßen Pädagogik und PR-Show ger*innen will, wird verstärkt intergenerative Lobbyarbeit betreiben und sich politisieren müssen.

Gibt es heute ein Patentrezept für Eltern, damit ihre Kinder „auf den richtigen“ Weg kommen?

Kein neues, aber ein nach wie vor wirkmächtiges altes: Respekt, Anerkennung, „Kinder stark machen“, wie ein alter pädagogischer Leitsatz heißt. Selbstbewusste Menschen müssen nicht andere erniedrigen, um sich zu erhöhen, und nur wer sich selbst schätzt und mag, ist auch in der Lage, Empathie für seine Mitmenschen zu entwickeln. Leider haben immer noch sehr, sehr viele Jugendliche wenig Anlass und Chancen, Selbstbewusstsein zu erwerben. Während die Armut der Gesamtgesellschaft sinkt, wächst die Kinder- und Jugendarmut ungebremst weiter. Die Schere zwischen denen, die fast alles haben, und denen, die an und unter der Armutsgrenze leben, öffnet sich weiter. Während „die Jugend“ heute in ihrer Gesamtheit zu einer der reichsten Generationen seit Jahrzehnten gehört, wird ein Drittel dieser Generation vom Reichtum und den Chancen der postmodernen „Multioptionsgesellschaft“ systematisch ausgeschlossen. Viele Junge fühlen sich schon mit 13, 14 Jahren überflüssig in dieser Gesellschaft. Und auch die Schule ist bis heute strukturell nicht in der Lage bzw. willens, da gegenzusteuern und eine Anerkennungskultur zu entwickeln, die Schüler*innen für gute Leistungen belohnt statt für Versagen bestraft und herabwürdigt. Respekt ist nicht zufällig ein Schlüsselwort fast aller Jugendkulturen. Respekt ist das, was Jugendliche am meisten vermissen. Viele Erwachsene, klagen Jugendliche, sehen Respekt als Einbahnstraße an. Sie verlangen von Jugendlichen, was sie selbst nicht zu gewähren bereit sind, und beharren eisern auf ihre Definitionshoheit, was anerkennungswürdig sei und was nicht: Gute Leistungen in der Schule werden belohnt, dass der eigene Sohn aber auch ein exzellenter Gitarrist ist, die Tochter einen vielbesuchten Blog gestaltet, interessiert zumeist nicht – es sei denn, um es zu problematisieren: Bleibt da eigentlich noch genug Zeit für die Schule? Musst du immer so extrem herumlaufen, deine Lehrer finden das bestimmt nicht so gut … Noch nie war die Erwachsenenwelt derart desinteressiert an der Kreativität, den Leidenschaften ihrer „Kinder“. Dabei weiß doch nicht nur jede*r gute Lehrer*in, welche Schüler*innen am meisten Stress verursachen: die Gleichgültigen, die, die sich für gar nichts interessieren, die keine Leidenschaft kennen, für nichts zu motivieren sind. Schule braucht heute nicht nur motivierte – und damit auch professionell ausgebildete und gut bezahlte – Lehrer*innen, sondern auch engagierte, kreative, selbstbewusste Schüler*innen. Und Eltern, die dies unterstützen, fordern, zulassen und nicht die Schule verklagen, weil ihr Kind eine schlechte Note erhalten hat.

Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen: Wenn die Leute in 25 Jahren erwartungsgemäß auch über „die heutige Jugend“ schimpfen, welches werden dann die Hauptprobleme sein?

Die gleichen wie heute: Auch die Jugend der Zukunft wird als respektlos und unpolitisch gelten, als konsum- und markenverliebt; sie wird zu viel Rauschmittel nehmen und sich zu wenig engagieren; statt gute Bücher zu lesen, wird sie weiterhin die Sprache in Comics, Chatrooms, SMS-Botschaften und noch kommenden neuen Kommunikationsmedien verstümmeln; statt reale Beziehungen zu knüpfen, wird sie autistisch vor dem PC sitzen und virtuelle „Freunde“ in Sozialen Netzwerken sammeln. Denn man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu erkennen, dass die Erwachsenengesellschaft ihre eigenen Sündenfälle und Problemlagen gerne auf „die Jugend“ überträgt. Betrachten wir „die Jugend“ von heute, dann wissen wir, was „die Eltern“ von morgen ihren Kindern in die Schuhe schieben werden.

Dies ist eine ergänzte Fassung des Interviews von Lucia de Paulis vom 22. Februar 2020 (Treffen von Klaus Farin mit Südtiroler Jugendarbeitern, Plattform-Netzwerktreffen vom netz I Offene Jugendarbeit, Jugendzentrum Fly in Leifers, 13.02.2020), veröffentlicht in der Reihe Picobello, einer salto.bz-Reihe über Jugendkultur in Südtirol, s.a.: https://www.salto.bz/it/article/18022020/interview-mit-klaus-farin [11.04.2020]



Die Idee vom Dazugehören

Prasanna Oommen

Auf der einen Seite steht der rechte Heimatbegriff, das Narrativ einer rückwärtsgewandten homogenen Mehrheitsgesellschaft. Demgegenüber steht eine gesellschaftliche Realität, die eine unumkehrbare Vielfalt und damit die Neuen Deutschen repräsentiert. Einen Heimatbegriff dafür gibt es in der Mitte der Gesellschaft noch immer nicht. Kann Kulturelle Bildung Brücken bauen? Nicht solange sie Mechanismen reproduziert, die Menschen ausschließen und ihnen Anerkennung und Zugehörigkeit verwehren.

Mein Heimatbegriff ähnelt dem Bild einer ewig unglücklichen Liebe: Trotz großer Gefühle führte häufiges Infragestellen irgendwann zu einer distanzierten Haltung. Dies wiederum ermöglichte mir einen anderen, freiheitlichen Blick auf meine Heimat. Der jüdischstämmige Medientheoretiker Villem Flusser war ein Widerständler gegen den traditionellen ortsgebundenen Heimatbegriff: „Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen.“ Als ich diese Sätze zum ersten Mal hörte, schienen sie mir wie für „uns“ gesprochen. Für die Kinder mit migrantischen Wurzeln, die hier stets zu wenig waren. Zu wenig deutsch, türkisch, italienisch, indisch, spanisch, koreanisch etc.

Flusser ging noch weiter, er empfahl Migrant*innen die aktive Rolle der Brückenbauer*in. Doch genau hier tat sich ein Dilemma auf: Mir und vielen anderen mit ähnlichen biografischen Bezügen war genau diese Rolle oft mehr als unangenehm. Unter anderem, weil ich eine Seite der Brücke nicht im Geringsten kannte, sondern mich vielmehr auf das Hörensagen der Eltern verlassen musste. Ich verstand zunehmend, dass wir, die „Neuen Deutschen“, Verantwortung für die eigene Beheimatung übernehmen mussten. Heute, 47 Jahre nach meiner Geburt in einem Land, das nicht die originäre Heimat meiner Eltern ist, bin ich überzeugt, dass es für ein echtes Zugehörigkeitsgefühl von zentraler Bedeutung ist, in der Mehrheitsgesellschaft willkommen zu sein – inklusive der eigenen kulturellen Prägung. Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt die Bedeutung des gesellschaftlichen Miteinanders für sein Heimatgefühl folgendermaßen: „Heimat hat für mich nichts mit Nation zu tun, sondern mit meiner unmittelbaren Lebenswirklichkeit. Die Freunde, die Sprache, was mich jeden Tag beschäftigt.“ Dies bildet sicher einen Teil positiver Heimaterfahrungen ab. Aber aus meiner Sicht sind sie unvollständig, da sie das mangelnde WIR-Gefühl in unserer diversifizierten postmigrantischen Gesellschaft ignorieren und auch wichtige Fragen außen vorlassen: Wer darf wirklich dazugehören und welche Stimmen wollen (sollen?) gehört werden?

Sicher sehnen wir uns nach einfachen Antworten in diesen bewegten Zeiten. Doch ein stabiles Gefühl der Verankerung setzt mehr als positive Erfahrungen Einzelner voraus. Ohne einen starken gemeinsamen politischen Willen sind die Erfolgsaussichten gering. Die Soziologin Cornelia Koppetsch subsumiert unter Heimat „Erinnerungen an Kirchturmglocken und gemähtes Gras aus Kindheitstagen mit drängendsten Problemen der Gegenwart: Herkunft, Bleiberecht, Wanderung und vor allem das Streben nach Zugehörigkeit, Stabilität und Vertrautheit.“ Es sind genau diese ungelösten Probleme, die den Heimatdiskurs seit mehreren Jahren konsequent nach rechts lenken. Subversiver Rassismus und die Angst vor dem Fremden in der gesellschaftlichen Mitte sind nach wie vor hoffähig und spätestens seit Thilo Sarrazins islamophober Mission schamlos offensiv zur Schau gestellt worden. „Kümmeltürke“, „Spaghettifresser“, „griechische Parasiten“, „Mafiarussen“, „Kinder statt Inder“1 – die Liste abwertender Stereotype und Ausschlussmechanismen für marginalisierte Gruppen ist endlos und natürlich kein rein deutsches Phänomen. Deutschlandspezifisch ist die späte Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein. Als Jürgen Rüttgers um die Jahrtausendwende Wahlkampf auf dem Rücken der indischen Minderheit machte, verstand auch ich es: Wir gehörten trotz aller Anstrengungen meiner Eltern, trotz einer „Fast-Assimilation“ nicht dazu. Weiterhin gilt: Mehr als 60 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen verfügen die Enkel*innen der Migrant*innen der ersten Stunde noch immer nicht über dieselben Zugänge wie Herkunftsdeutsche. Die sogenannte gläserne Decke, die durch kulturelle Codes unausgesprochen ausschließt, ist nach wie vor gesellschaftliche Realität. Da dies auch für Herkunftsdeutsche aus nicht privilegierten sozialen Klassen gilt, muss sich ein Heimatdiskurs ganz wesentlich am sozialen Zusammenhalt entfachen. Wenn wir also einen Heimatbegriff für alle wirklich wollen, dann sind wir in der Pflicht, ihn aus der rechts-konservativen Ecke zurückzuerobern.

Und weil Heimat nicht einmalig bestimmbar ist, sondern ständig im Miteinander neu ausgehandelt wird, müssen die gesellschaftlichen Strukturen durchlässiger werden, um eine Gesellschaft der Vielen glaubwürdig zu repräsentieren und das Heimat-Narrativ so auch emotional für alle zu öffnen. In der Kulturellen Bildung könnte gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt werden, wenn das kulturelle Erbe aller gleichwertig in Inhalte und Vermittlung einfließt und wenn die Deutungshoheit darüber, was und wer dazugehört, nicht einer gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten bleibt. Das bedeutet – radikal formuliert, aber längst nicht neu – die endgültige Absage an die wertende Unterscheidung von Hochkultur, Soziokultur und Subkultur. Kinder und Jugendliche, deren kulturelle Prägung jenseits der westlichen Kulturrezeption stattgefunden hat, müssen als Produzent*innen und Rezipient*innen ernst genommen, statt aufgrund ihrer Herkunft als „nicht kulturaffin“ eingestuft werden. Gute Beispiele für die damit verbundenen Erfolge gibt es bereits vielfach: Das Import Export Kollektiv des Theaterpädagogen Bassam Ghazi am Schauspiel Köln, das Klavierfestival Ruhr oder auch transkulturelle Theater wie das Gorki Theater Berlin, das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin u.v.a. sind Beispiele, wie inklusive Kulturproduktion aktiv die Regelbetriebe zum schrittweisen Umdenken bewegt und solche Produktionen Teil eines Angebots für unsere vielfältige Gesellschaft werden.

Zukünftig geht es um den konsequenten Transfer dieser Erfahrungen auf die Regelbetriebe, was wiederum vom bereits angesprochenen politischen Willen abhängig ist. In vielen Kommunen sowie auf Bundesebene sind notwendige interkulturelle/transkulturelle2 Öffnungsprozesse etwa im öffentlichen Dienst bereits im Gange. Hierbei handelt es sich um strukturelle Change-Management-Prozesse, die Jahre dauern werden.

Warum hinkt ausgerechnet unsere Kultur- und Bildungslandschaft hinsichtlich einer konsequenten Öffnung hinterher, obwohl es um den Zusammenhalt unserer nicht mehr umkehrbaren diversen Gesellschaft geht? Warum absolvieren Erzieher*innen, Lehrer*innen, Fachkräfte der kulturellen Jugendarbeit, Kulturpädagog*innen, Künstler*innen sowie das Lehrpersonal in Ausbildungsstätten des Kulturbetriebs nicht längst verpflichtende interkulturelle/transkulturelle Qualifizierungen und antirassistische Trainings? Warum wird die Erinnerungskultur der postmigrantischen Gesellschaft nicht in Schul- und Geschichtsbücher integriert? In den Kultur- und Bildungseinrichtungen unserer beneidenswert reichen Gesellschaft befinden sich doch die wertvollen Räume, in denen Verwurzelung außerhalb der Familie möglich ist. Warum liegen diese Chancen und Möglichkeiten brach?

Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte.

Mein Aufwachsen war innerfamiliär von einer friedlichen Koexistenz westlicher und außereuropäischer Musik- und Tanztraditionen geprägt. Das schloss den Respekt vor Kulturschaffenden jeglicher Sparte und Couleur mit ein. Meine gesellschaftlichen Beobachtungen deckten sich damit leider nicht. Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte. Weil dort beispielsweise sogar die ehrenamtlichen Strukturen weitestgehend herkunftsdeutsch besetzt warenund dementsprechend Multiperspektivität nicht möglich war. Auffallend war, dass gerade in der professionellen Kulturszene migrantisches kulturelles Erbe nicht mehr als eine Randerscheinung sein durfte. Erst seit einigen Jahren werden die Strukturen und Angebote der hochsubventionierten bundesdeutschen Kulturlandschaft und auch Bereiche der Kinder- und Jugendbildung vorsichtig infrage gestellt: Weil vieles nicht ausreichend genutzt wird bzw. zu wenige Menschen erreicht werden und gleichzeitig auch aus den Steuergeldern derjenigen Menschen finanziert wird, die von Kindesbeinen an exkludiert werden. Stattdessen reproduziert sich weiterhin eine herkunftsdeutsche bildungsbürgerliche und finanzstarke Elite. Wenn ich heute auf Kulturproduzent*innen mit migrantischen Wurzeln treffe, lautet die einstimmige These: Die Begrenzung auf herkunftsdeutsche und westliche Narrative privilegierter Akteur*innen stand früher wie heute für die aktive Sicherung von Macht und Privilegien. Dabei könnte die quantitative Erweiterung des Kanons einen qualitativen Zuwachs an Programm, Personal und auch Publikum bedeuten und damit die TOP-Themen im aktuellen kulturpolitischen Diskurs mitbearbeiten. Doch für die derzeitigen Kulturakteur*innen bedeutet jede Verschiebung des inhaltlichen Fokus (auch von Förderkriterien) einen möglichen Verlust eigener Privilegien. Wenn die Kultur eine relevante Stimme für einen offeneren Heimatbegriff gegen die Vereinnahmung von rechts werden soll, wird es allerhöchste Zeit, dass sich die Kulturbourgeoisie dieses Landes ihren eigenen Vorurteilen, Rassismen und Ansprüchen auf Deutungshoheit stellt. Denn Heimat und Kultur sind nicht erst seit dem Einzug der Rechtspopulisten in die Landtage und den Bundestag umkämpft. Für „uns“, die Nicht-Herkunftsdeutschen und eben auch die nicht privilegierten Herkunftsdeutschen waren sie auch vorher nicht frei verfügbar. Für einen beständigen Zusammenhalt wären wir dies aber unserer Heimat, die wir lieben, schuldig.

Literatur

Flusser, Vilem: Heimat und Heimatlosigkeit. 1 CD. Suppose Verlag: Köln 1999.

Kermani, Navid: Von Heimat zu Heimat. Zitiert nach dem Beitrag von Ruth Bender vom 26.01.2018, s.a.: http://www.kn-online.de/Nachrichten/Kultur/Schriftsteller-Navid-Kermani-im-Gespraech [31.03.2020].

Koppetsch, Cornelia: „In Deutschland daheim, in der Welt zu Hause? Alte Privilegien und neue Spaltungen“, in: Soziopolis vom 22.12.2017. Online: https://soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/in-deutschland-daheim-in-der-welt-zu-hause/ [10.02.2020].

1Vor der Landtagswahl 2000 polarisierte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers mit dem Wahlkampf-Ruf „Kinder statt Inder an die Computer“ der die Haltung der CDU zugunsten der Förderung von heranwachsenden (deutschen) Kindern statt zugewanderten Ausländern verdeutlichen sollte. Auslöser war, dass ausländische IT-Fachkräfte – insbesondere aus Indien – mittels der von der rot-grünen Bundesregierung eingeführten Greencard nach Deutschland eingeladen werden sollten. Dies wurde von den Republikanern dann mit der Phrase „Kinder statt Inder“ im Landtagswahlkampf 2000 übernommen.

2Der Begriff der Transkulturalität nach Prof. Wolfgang Welsch geht im Gegensatz zur Interkulturalität und Multikulturalität davon aus, dass Kulturen nicht homogene, klar voneinander abgrenzbare Einheiten sind, sondern dass sie – besonders infolge der Globalisierung – zunehmend vernetzt und vermischt werden. Die Transkulturalität umschreibt genau diesen Aspekt der Entwicklung von klar abgrenzbaren Einzelkulturen hin zu einer Globalkultur.

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