Theologie des Alten Testaments

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Teil 3 greift sich einige theologische Einzelthemen heraus, die im Zuge der gegenwärtig exegetisch und religionsgeschichtlich wie auch bibelhermeneutisch geführten Diskussionen von großer Bedeutung sind:

1.Monotheismus

2.Bilderverbot

3.Bedeutung und Verwendung des Gottesnamens

4.Königtum und Eschatologie

5.Israels Geschick

6.Der Bezugsrahmen der „Heiligen Schrift“

Der abschließende Anhang gibt einen Überblick über die Aufnahme der jeweiligen Themen in den Predigt- und Perikopenreihen bzw. in den geläufigen Schulcurricula unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen thematischen Kontexts.

Die zitierten Bibelstellen sind, sofern nicht anders angegeben, der Neuen Zürcher Bibel entnommen. Auf die oben genannten Theologien wird im gesamten Buch mit einem Kurztitel, gefolgt von der Seitenzahl, verwiesen (s. Literaturverzeichnis S. xy). Darüber hinausführende Literatur ist in den Literaturverzeichnissen im Anschluss an die Teilkapitel genannt. Da ein Lehrbuch wenig Raum für Forschungsdiskussion lässt, finden sich in den thematischen Literaturverzeichnissen nur wenige, einschlägige Titel neben regelmäßigen Verweisen auf Artikel in WiBiLex in den Anmerkungen. In diesem im open access publizierten Lexikon kann sich jede Leserin und jeder Leser ohne große Umstände einen Überblick über Thema und Forschungsstand verschaffen. Wegen des ständigen Zuwachses sei der Leserschaft die Prüfung des Erscheinens neuer Artikel empfohlen.

1Janowski, Der eine Gott, 29; vgl. bereits Zimmerli, Zur Gestalt.

2Vgl. Reventlow, Epochen der Bibelauslegung 4, 216; Kraus, Geschichte, 283 ff.; Smend, Beziehungen und Ders., Epochen, 11–32.

3Vgl. Janowski/Welker, Biblische Theologie.

4Ein knapper Überblick über vierzig gängige „Theologien“ des Buchmarkts findet sich bei Oeming, Ermitteln und Vermitteln, 18–38; vgl. auch Jeremias, Neuere Entwürfe, 15–46.

5Vgl. dazu Dalferth, Mitte, 186: „Jesus Christus ist der Orientierungs- und Zielpunkt evangelischer Schriftauslegung, weil er auch der Orientierungs- und Zielpunkt christlicher Selbst-, Welt und Gottesauslegung ist.“ Und darin wird die Frage nach der Mitte der Schrift als AT und NT zur Frage nach dem rechten Verständnis des Wortes Gottes aus der Schrift. Sie gilt nicht der „Sinnmitte einer Textsammlung, sondern der Sach- und Wirkmitte eines Geschehens.“

6Vgl. Westermann, Theologie, 5 f., der anstelle einer Mitte die „Geschehensstruktur“, die „das Ganze des Redens von Gott bestimmenden Linien“ (das ankündigende Wort, das weisende Wort, das kultische Wort) und „die Antwort der diese Geschichte Erfahrenden“ als gemeinsame Grundstruktur voraussetzt.

7Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit, 57 f. und Janowski, Der eine Gott, 27–29.

8Vgl. Hartenstein, JHWHs Wesen im Wandel, 12 ff. Leuenberger, Gott in Bewegung, 3 f. und Janowski, Der eine Gott, 29, der im Rekurs auf I. Dalferth die Sach- und Wirkmitte eines Geschehens voraussetzt, das mit JHWHs Gegenwart in Israel zu tun hat.

9Vgl. Schmidt, Frage, 171 mit Hinweis auf Kaiser, Theologie I, 329 ff. (Tora als Mitte) bzw. Herrmann, Die konstruktive Restauration (Deuteronomium als Mitte); kritisch Perlitt, Bundestheologie, 1–6.

10Smend, Die Mitte des AT, 75.

11Konkel, Vergebung, 60.

12Scholem, Offenbarung, 101 f.; vgl. zur Debatte Levenson, Warum Juden; einvernehmlicher Kalimi, Religionsgeschichte Israels; vgl. A. Martini/S. Talabardon, Art. Jüdische Bibelauslegung, www.wibilex.de.

13Zu Abb. 1 vgl. H. Liss, Art. Rabbinerbibel, www.wibilex.de, Abb. 1; vgl. Grohmann, Rezeption, 18 f.

14Der kreative Kanon, 101.103.

15Vgl. Kalimi, Models, 128 f.

16Vgl. Ders., Hauptprobleme, 59 f.; s. auch Hartenstein, JHWHs Wesen, 6 f.

17Stellvertretend für einen Neuansatz im Denken seien genannt Leonhardt/Rösel, Reformatorisches Schriftprinzip und gegenwärtige Bibelauslegung; Lauster, Schriftauslegung; Nüssel, Schriftauslegung.

18Janowski, Biblische Theologie, 1547; vgl. Ders., Der eine Gott, 29.

19Vgl. Keel, Welt der altorientalischen Bildsymbolik und Hartenstein, Altorientalische Ikonographie, 173–186.

20So z. B. Meissner, Babylonien, Bd. 2, der das 15. Kapitel „Kosmologie und Theologie“ tituliert, vgl. Assmann, Ägypten – Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur oder auch Zgoll, Die Kunst des Betens. Form und Funktion, Theologie und Psychagogik in babylonisch- assyrischen Handerhebungsgebeten.

21Albertz, Religionsgeschichte I, 30–33.

22Janowski, Theologie, 110–113.

23Assmann, Theologie und Weisheit, 66 f., und zum Ganzen Wagner, Primäre/sekundäre Religion.

24Spieckermann, Bild, 279.

25Schmid, Theologie, 57–63; vgl. Jeremias, Theologie, 7–10; eingeführt wurde die Unterscheidung von impliziter und expliziter Theologie durch Assmann, Ägypten, 21–23.

26Ähnlich Brueggemann, Theology, XVII, der Zeugnis (testimony), Auseinandersetzung (dispute) und Interessenvertretung (advocacy) als Charakteristika theologischer Wahrheitsfindung hervorhebt, die die Texte, Methoden und Interpretationsgemeinschaften gleichermaßen prägen.

27Hartenstein, JHWHs Wesen im Wandel; Leuenberger, Gott in Bewegung.

28J. Eggler/O. Keel/S. Schroer/C. Uehlinger, Art. Ikonographie, www.wibilex.de.

29Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, 40; ausführlich Ders., Hermeneutik der Idee der Offenbarung, 43–61, zu den fünf charakteristischen Redeformen des Alten Testaments.

30Ricœur, Hermeneutik der Idee der Offenbarung, 66–69. S.u. 3.6.2.

31Vgl. Schmid, Theologie, 57 f.; Janowski, Theologie, 103 f.

2. Theologische Themen in ihren biblischen Kontexten

Lässt sich für das Alte Testament ein „Oberthema“ bestimmen, das es seinen Leser(inne)n und Hörer(inne)n zu vermitteln sucht? In welche Leserichtung und Perspektive lässt sich die Gesamtheit der alttestamentlichen Texte bestimmen? Der Alttestamentler Walther Zimmerli hat diese Frage folgendermaßen beantwortet:

Das AT „hält durchgehend fest an dem Glauben an die Selbigkeit des Gottes, den es unter dem Namen Jahwe kennt. Es glaubt durch allen Wandel hindurch, daß dieser Gott Jahwe es mit seinem Volke Israel zu tun haben will“ (Grundriß, 11).

Monotheismus s. u. 3.1

Wir streifen hier ein Problem, das gegenwärtig vor allem unter dem Thema Monotheismus diskutiert wird. Es geht bei der „Selbigkeit“ nämlich zuerst um die Einzigkeit des Gottes Israels im Kontext einer Kultur, die unterschiedliche Götter kennt und voraussetzt. Es geht aber auch um verschiedene „Gottesbilder“ im Sinne von theologischen Konzepten; es geht um den „irreduziblen Kern des Gotteskonzepts“.1 Innerhalb der bestehenden Gottesbilder ist der Gedanke, dass sich die Offenbarung des Gottes Israels im Zuge der Offenbarung seines Namens vollzieht, von besonderer Bedeutung. Diese Besonderheit erklärt auch, warum das vorliegende Buch nicht gemäß der kanonischen Reihenfolge mit der Urgeschichte einsetzt, sondern mit dem Buch Exodus, wo sich mit Ex 3 und 6 zwei Erzählungen finden, die die Namensoffenbarung eigens thematisieren. Mit ihnen beginnt die Darstellung, die dann über die Großerzählungen von Exodus und Erzeltern als Gründungsmythen Israels, umrahmt von Urgeschichte und Sinaierzählung, den Aspekt der Selbigkeit Gottes narrativ entfaltet und dem jeweiligen Gottesbild in diesen – theologisch sehr unterschiedlich gewichteten – Kontexten nachgeht. In dem Wandel ist die historische Dimension angedeutet, die sich geradezu aufdrängt: Die politische Geschichte Israels bringt zahlreiche Veränderungen, Brüche und Neuanfänge mit sich, die sich im Verlauf der Literaturgeschichte in unterschiedlichen theologischen Akzentuierungen niederschlägt. Davon bleibt gerade die Gottesvorstellung nicht unberührt. Auch sie unterliegt einem stetigen Wandel. Die Rekonstruktion dieses Wandels hat nun aber die Schwierigkeit, dass die meisten der alttestamentlichen Texte und Bücher selbst im Zuge einer länger andauernden Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte gezielt theologische Überarbeitung erfahren haben. Das hat zur Folge, dass die Gottesvorstellungen in ein und dem selben Buch oder sogar innerhalb eines Einzeltexts divergieren können und darin eine innerbiblisch geführte theologische Auseinandersetzung sichtbar wird.

 

Aus diesem Grund haben viele Theologen ihre Darstellung nicht gemäß der kanonischen Buchreihenfolge, sondern anhand von – wenn auch umstrittenen – literarhistorischen Rekonstruktionen konzipiert: Welches sind die ältesten Texte, die uns überliefert sind, welche theologischen Grundeinsichten und Gottesvorstellungen lassen sie erkennen und wie verändern sich diese im Laufe der sich anschließenden Etappen der Textüberarbeitung? Welche Themen kommen erst spät auf? Diesem Duktus folgt z. B. die Theologie von G. von Rad. Alternativ kann sich die Darstellung an einem Dreischritt zu orientieren: 1) die sich durch die verschiedenen Bücher hindurch ziehenden bleibenden Züge der Gottesvorstellung im Wandel, 2) dynamische Züge und Veränderungen des Gottesbildes und 3) die anhaltend offenen Fragen bezüglich des Gottesbildes.2

Der Nachteil beider Darstellungsformen liegt für ein Lehrbuch darin, dass die Buchzusammenhänge soweit aufgelöst sind, dass die Übersichtlichkeit schwindet. Deshalb wird das vorliegende Lehrbuch an den narrativen Großerzählungen des Pentateuch/Tora () bzw. an den Propheten/Nebi’îm () und Schriften/Ketubîm () in ihren jeweiligen Buchkontexten weitgehend festhalten (Ausnahme Jesaja). In Kapitel 2.9. folgt schließlich überblickshaft die historische Rekonstruktion der heute noch identifizierbaren theologischen Strömungen.

2.1 Der Gott Israels offenbart sich in seinen Namen

Monotheismus s. u. 3.1

Der religionsgeschichtliche Befund zeigt für das Alte Testament eine Reihe von Gottesnamen bzw. Appelativen an: El, Eloah, Elohim, (El) Schaddai, Eljon, Adonaj und JHWH sind die wichtigsten Bezeichnungen für den Gott Israels in biblischen und epigraphischen Texten.3 Dank seines Namens wird ein Gott erkennbar, erfahrbar und von anderen Göttern unterscheidbar. Ein besonderer Akt der Offenbarung besteht in der Preisgabe des Namens.

Die exponierteste Erwähnung der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott verbunden mit einer Namensvorstellung findet sich in der Präambel des Dekalogs:

Ex 20,2 f. (vgl. Dtn 5,6 f.)

Ich bin der HERR [JHWH], dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. 3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Bundesvorstellung s. u. 2.5.1

Der Beginn des Dekalogs begründet die Beziehung zwischen Gott und Israel mit dem Rettungshandeln Gottes aus der Knechtschaft Ägyptens und verknüpft sie mit dem Anspruch der Alleinverehrung. Eingebettet ist der Dekalog in die Erzählung von der Gabe des Gesetzes bzw. in das Sinaigeschehen (Ex 19–Num 22; vgl. Dtn 5,1–5): Auf synchroner Ebene geht es in dieser Erzähleinheit darum, dass sich im Anschluss an den Auszug aus Ägypten JHWH den Israeliten auf dem Berg Sinai zu erkennen gibt, indem er ihnen durch Mose vermittelt einige Gesetze gibt (Ex 20–23), bevor er mit dem Volk einen Bund schließt (Ex 24).

Wichtig ist die Wendung: „Ich bin der Herr“ bzw. wörtlich „Ich bin JHWH“ (hebr. ’anokî JHWH/), die sogenannte Selbstvorstellungsformel. In ihr gibt Gott sich zu erkennen und stellt sich vor mit seinem Namen. Das bedeutet: Der Gott Israels offenbart sich in seinen Namen.

Exkurs: Der Gottesname JHWH

Gottesname s. u. 3.3

Das Tetragramm JHWH begegnet in der Bibel seit dem zweiten Kapitel der Genesis, allerdings zumeist als Zitationsform bzw. Gottesbezeichnung. Bis Ex 6 begegnet es in kontinuierlichem Wechsel mit der allgemeineren Gottesbezeichnung ’Elohîm. Beide Verwendungen lassen auf traditionelle bzw. redaktionelle Unterschiede im Gebrauch des Gottesnamens schließen und gelten als ein wichtiges Argument für die Quellenscheidung. Das Tetragramm wird von dem hebräischen Verb /hajah „sein, werden“ abgeleitet.4 In Gen 2–3 liegt die seltene Kombination beider Bezeichnungen vor: JHWH ’Elohîm (in deutscher Übersetzung oft: Gott der HERR). Im poetischen Teil des Hiobbuches (Hi 3–37) und in einem Teil des Psalters (Ps 42–83) fehlt das Tetragramm ganz. In jüngerer Zeit wurde der JHWH-Name sogar für unaussprechlich erachtet und deshalb in der jüdischen Tradition rezitiert als Adonaj („Herr“) oder „der Heilige“ u. a.5 Infolge der Tabuisierung der Aussprache des Gottesnamens findet sich in den meisten Übersetzungen als Wiedergabe des Tetragramms die Übersetzung „HERR“. Eigens thematisiert als Gottesname ist JHWH erstmals in Gen 4,26 „Und auch Set wurde ein Sohn geboren, und er nannte ihn Enosch. Damals fing man an, den Namen des HERRN (JHWH) anzurufen.“

Diese kurze Notiz im Kontext einer Genealogie, die sich an die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4) anschließt, verweist darauf, dass Enosch (hebr. „[Ur-]Mensch“) als Erster einen Gott namens JHWH verehrte. Diesem Vers nach wird Israel also von den frühesten Anfängen her mit einem Gott dieses Namens verbunden, und darin die Bedeutsamkeit des Gottes durch sein hohes Alter hervorgehoben.

Dem läuft auf der literarischen Ebene die Beobachtung zuwider, dass in den Texten Gen 1 – Ex 6 JHWH und ’Elohîm episodisch im Wechsel als Gottesbezeichnungen begegnen und ursprünglich wohl unverbunden nebeneinander verwendet worden sind. Aus dem Parallelgebrauch von zwei Gottesnamen lässt sich schließen, dass einige literarische Überlieferungen Israels das Tetragramm bevorzugt haben, während andere dieses zumindest für die Urund Erzelternzeit aussparten. Demnach präsentiert die sogenannte Priesterschrift einen Entwurf, in der sich der Gott Israels erstmals Mose unter seinem Namen JHWH zu erkennen gibt (s. u. Ex 6).

2.1.1 Die Offenbarung im brennenden Dornbusch (Ex 3)

Der Bericht von der Offenbarung des JHWH-Namens findet sich im Exodusbuch also gleich zweimal. Die erste Geschichte schließt sich unmittelbar an Moses Flucht aus Ägypten an. Als Schwiegersohn des midianitischen Priesters (2,16 ff. Reguel; 3,1 Jitro) offenbart JHWH sich ihm auf dem Gottesberg, der hier Horeb und nicht Sinai genannt ist.6 Gott erscheint ihm in einem brennenden Dornbusch und gibt ihm den Auftrag, nach Ägypten zurückzukehren und das Volk aus der Knechtschaft herauszuführen.

Ex 3,1–17

1 Und Mose weidete die Schafe seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Und er trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Gottesberg, den Choreb.

2 Da erschien ihm der Bote des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Und er sah hin, und sieh, der Dornbusch stand in Flammen, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt.

3 Da dachte Mose: Ich will hingehen und diese grosse Erscheinung ansehen. Warum verbrennt der Dornbusch nicht?

4 Und der HERR sah, dass er kam, um zu schauen. Und Gott rief ihn aus dem Dornbusch und sprach: Mose, Mose! Und er sprach: Hier bin ich.

5 Und er sprach: Komm nicht näher. Nimm deine Sandalen von den Füssen, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.

6 Dann sprach er: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, zu Gott hin zu blicken.

7 Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Schreien über ihre Antreiber habe ich gehört, ich kenne seine Schmerzen.

8 So bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu erretten und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes und weites Land, in ein Land, wo Milch und Honig fliessen, in das Gebiet der Kanaaniter und der Hetiter und der Amoriter und der Perissiter und der Chiwwiter und der Jebusiter.

9 Sieh, das Schreien der Israeliten ist zu mir gedrungen, und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie quälen.

10 Und nun geh, ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, heraus aus Ägypten.

11 Mose aber sagte zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?

12 Da sprach er: Ich werde mit dir sein, und dies sei dir das Zeichen, dass ich dich gesandt habe: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr an diesem Berg Gott dienen.

13 Mose aber sagte zu Gott: Wenn ich zu den Israeliten komme und ihnen sage: Der Gott eurer Vorfahren hat mich zu euch gesandt, und sie sagen zu mir: Was ist sein Name?, was soll ich ihnen dann sagen?

14 Da sprach Gott zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ich-werdesein hat mich zu euch gesandt.

15 Und weiter sprach Gott zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Der HERR [= JHWH], der Gott eurer Vorfahren, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer, und so soll man mich anrufen von Generation zu Generation.

16 Geh und versammle die Ältesten Israels und sprich zu ihnen: Der HERR, der Gott eurer Vorfahren, ist mir erschienen, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und hat gesagt: Ich habe auf euch geachtet und auf das, was euch angetan wird in Ägypten.

17 Und ich habe beschlossen: Ich will euch aus dem Elend Ägyptens hinaufführen in das Land der Kanaaniter und der Hetiter und der Amoriter und der Perissiter und der Chiwwiter und der Jebusiter, in ein Land, wo Milch und Honig fliessen.

Formal erinnert der Text an einen prophetischen Berufungsbericht7, dem eine Gottesschau (Theophanie) in der Vision des brennenden Dornbuschs vorausgeht (Ex 3,1–6), bevor schließlich die eigentliche Berufung (3,7–22) folgt8:

–Es wird verwiesen auf die Umstände, nämlich die Notlage Israels, unter denen sich die göttliche Intervention ereignet (Ex 2,23 und 3,7);

–Ex 3,4 formuliert den göttlichen Auftrag an die berufene Person in direkter Anrede, V. 10 die Sendung (hebr. /šala „senden“) und die Beauftragung (Herausführung aus Ägypten), die der berufene Mose wahrnehmen soll.

–Der klassische Einwand, der mit der Unfähigkeit des Beauftragten begründet wird, bevor das Amt bzw. die Aufgabe angenommen wird, kennt unterschiedliche Varianten (Ex 3,11.13 bzw. 4,1.10.13) und unterstreicht, dass Mose sein Amt nicht anstrebt, sondern allein auf göttlichen Befehl hin wahrnimmt.

–Gott entkräftet den Einwand, indem er Mose seinen Beistand zusichert („Ich bin mit dir“ Ex 3,12; vgl. Ex 4,15) und durch eine Zeichenhandlung bekräftigt (Ex 3,12 bzw. drei Zeichen in Ex 4,2–9).

Proto-Jesaja s. u. 2.6.1.3

Gnadenformel s. o. 2.5.1.3

Mit der Erzählung handelt es sich um einen Fremdbericht in der dritten Person. Anders als z. B. in dem Selbstbericht von Jesajas Berufung fehlt die ausdrückliche Annahme der Berufung durch Mose (vgl. Jes 6,8); doch kommt die Tatsache, dass der Berufene keine weiteren Einwände mehr äußert, einer Annahme gleich (vgl. Jer 1,7 ff.; Ez 2,8 ff.). Auffällig sind die Rückbezüge auf den Gott der Väter (3,6.15 f.) wie auch die theologischen Reflexionen, die von einigen Exegeten als redaktionell angesehen werden. So denkt R. Albertz, dass lediglich die Zusage des göttlichen Beistands zum ursprünglichen Berufungsbericht dazu gehört, während das In-Aussicht-Stellen der Rettung in V. 12* sowie die Namensoffenbarung (V. 15) und die Nennung der drei Patriarchen (V. 16b) erst redaktionell ergänzt worden seien.9 Die ursprüngliche Referenz ziele nämlich auf den Gott der Väter des Exodus und (noch) nicht auf den Gott der Erzeltern, die erst hier in der Wendung von V. 16 miteinander identifiziert werden. Stimmt diese Analyse, wäre dem Berufungsbericht sein eigentliches theologisches Profil erst nachträglich zugewachsen. Andere sehen jedoch gerade in diesen theologisch relevanten Versen in Ex 3,9–14* den Kern der Erzählung (Jeremias, Theologie, 95).

 

Die Verknüpfung der verschiedenen Gottesnamen ist theologisch bedeutsam: In synchroner Sicht offenbart sich der Gott deines [seines] Vaters (Ex 3,6) an den „Ägypter“ Mose in Midian, damit er als Gott eurer [ihrer] Väter (V. 13.15 f.) das Volk Israel mit Gottes Hilfe aus der Knechtschaft rette. Der kurze Abriss der Heilsgeschichte Israels, wie sie in den V. 6–10 zusammengefasst ist, erinnert an das deuteronomistische Credo in Dtn 26,5–9.10 Der im Anschluss offenbarte JHWH-Name dient als eine Art Pfand, der die Ernsthaftigkeit des Rettungsprojekts bescheinigt (Ex 3,13 f.), Gott als den lebendig Seienden anpreist11 sowie die Zusage vom Mit-Sein Gottes mit dem Volk (z. B. Gen 12,2 f.) erinnert und konkretisiert. Der Gottesname JHWH ist demnach ein sprechender Name mit geradezu performativer Wirkung, der Suspense, Neugier und ein Überraschungsmoment bereithält und darin die Zeitstufen miteinander verschränkt.12 Die in V. 14 gegebene Erläuterung des Namens /’æhejæh ’ašær ’æhejæh kann nämlich imperfektisch, präsentisch oder futurisch übersetzt werden im Sinne von „ich bin, der ich bin“, „ich werde sein, der ich sein werde“ oder auch „ich bin der Seiende/Werdende“ (LXX). Historisch-etymologisch legt die paronomastische Formulierung eine Ableitung von dem semitischen Verb hajah/hawah „sein, werden“13 nahe. Und darin liegt ein theologischer Kunstgriff: Denn der Name sagt aus, dass Gott nicht definierbar, auf einen Charakter oder eine Funktion festlegbar ist, sondern ein Gott im Prozess und Wandel ist. Gott entzieht sich und gibt sich doch zu erkennen. Das gibt die Übersetzung Paul Ricœurs durch „Ich bin der Ich-bin-da“ passend wieder.14 Zugleich wird der Name vom instruierten Leser durch den Rückgriff auf den Vätergott mit Heilstaten weit zurückliegender Epochen verbunden und als treuer Gott ausgewiesen, dessen Treue Israel auch künftig erhoffen kann. Es handelt sich um eine emphatische Erweiterung der sonst üblichen Selbstvorstellungsformel /anî JHWH (s. u. Ex 6), die das Verb „sein“ aufnimmt15 und die Autorität des Mose verstärkt. Dieser Gott voller Dynamik wird auch in Zukunft Israel aus seiner Knechtschaft befreien. – Und welch bessere Umschreibung könnte man für die Verbindlichkeit Gottes gegenüber Israel bei gleichzeitiger Betonung seiner Unverfügbarkeit finden (vgl. Ex 33,19; 34,6 f.)? Die Namensätiologie steht paradigmatisch für den Gedanken der Selbigkeit Gottes, die das Gottsein trotz allen (historisch bedingten) Wandels betont. Diese so spannungs- und andeutungsreiche Namengebung erhält in der jüngeren Gnadenformel (Ex 34,6–7) eine konkretere inhaltliche Füllung.

Zugleich erinnert das /mah šemô „was ist sein Name?“ in Gen 3,13 an die Frage des fremden Angreifers nach Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,28), die zur Umbenennung des Patriarchen in „Israel“ führt. Der Name gibt eine neue Zielrichtung, eine neue Bestimmung an.16

2.1.2 Die Selbstvorstellung Gottes (Ex 6)

Die Offenbarung des Gottesnamens findet in Ex 6 eine interessante Dublette.

Ex 6,2–13

2 Da redete Gott mit Mose und sprach zu ihm: Ich bin der HERR [’anî JHWH].

3 Abraham, Isaak und Jakob bin ich als El-Schaddai erschienen, mit meinem Namen ‚HERR‘ aber habe ich mich ihnen nicht kundgetan.

4 Auch habe ich meinen Bund mit ihnen aufgerichtet, ihnen das Land Kanaan zu geben, das Land, in dem sie sich als Fremde aufhielten.

5 Und ich habe auch das Seufzen der Israeliten gehört, die Ägypten zur Arbeit zwingt. Da habe ich mich meines Bundes erinnert.

6 Darum sprich zu den Israeliten: Ich bin der HERR [’anî JHWH]. Ich werde euch aus der Fron Ägyptens herausführen und euch aus ihrem Dienst erretten und euch erlösen mit ausgestrecktem Arm und durch gewaltige Gerichte.

7 Ich werde euch annehmen als mein Volk und euer Gott sein, und ihr sollt erkennen, dass ich der HERR bin [’anî JHWH], euer Gott, der euch herausführt aus der Fron Ägyptens.

8 Und ich werde euch in das Land bringen, das ich Abraham, Isaak und Jakob zu geben geschworen habe, und werde es euch zum Besitz geben, ich, der HERR [’anî JHWH].

9 So redete Mose zu den Israeliten, sie aber hörten nicht auf Mose, aus Kleinmut und der harten Arbeit wegen.

10 Da sprach der HERR zu Mose:

11 Geh hinein, sage dem Pharao, dem König von Ägypten, dass er die Israeliten aus seinem Land ziehen lassen soll.

12 Mose aber sagte vor dem HERRN: Sieh, die Israeliten haben nicht auf mich gehört, wie sollte da der Pharao auf mich hören, bin ich doch ungeschickt im Reden.

13 Da sprach der HERR zu Mose und Aaron und gebot ihnen, zu den Israeliten und zum Pharao, dem König von Ägypten, zu gehen und die Israeliten aus dem Land Ägypten herauszuführen.

Diese Variante zu Ex 3 kürzt an entscheidender Stelle, um an anderer Stelle zu ergänzen. So belegt dieser Bericht noch einen weiteren Gottesnamen, (El) Schaddai, der z. B. im Hiobbuch geläufig ist, aber in der Tora nur selten begegnet.17 Es scheint darin auf eine bestimmte religiöse Tradition angespielt zu sein, die Ex 6 bewusst einbeziehen will. Der Text präzisiert, dass der Gott Israels sich früher anders genannt hat und sich nun in einer neuen, für Israel verbindlichen Form offenbart. Die Selbigkeit Gottes wird hier religionsgeschichtlich argumentierend erklärt, und zwar als eine Abfolge von Offenbarungen unter unterschiedlichen Namen, die aber letztlich allesamt mit dem Gott, der sich im Exodus aus Ägypten erweisen wird, zu identifizieren sind.

Andererseits fehlt in Ex 6 die schöne Namensätiologie „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14). Die göttliche Offenbarung scheint dieser Fassung nach keiner weiteren Nachweise zu bedürfen. Sie konzentriert sich auf den Auftrag an Mose, zu seinem Volk zu gehen und für die Erkenntnis Gottes zu werben. Da das Volk taub bleibt, soll er zu Pharao gehen, um ihn zur Einsicht zu bringen. Die Offenbarung droht im Sande zu verlaufen und bedarf weiterer Protagonisten (Aaron) sowie der Plagen und anderer Wunderhandlungen, um am Ende Pharao und Volk an der Erkenntnis teilhaben zu lassen: „Ich bin JHWH“.

Selbstvorstellungsformel

Diese Formel, die sich in Ex 6 wiederholt findet, ist auffällig, da sie den Text strukturiert. Sie ist zudem doppeldeutig18: Sie kann verstanden werden in dem Sinne „Ich allein bin JHWH/Gott“ (s. Ex 20,2; Dtn 5,6 Dekalog) und beinhaltet dann eine Erkenntnisaussage, die die Exklusivität des Gottes betonen will. Die Formel kann aber auch auf die Selbstvorstellung Gottes abzielen („Mein Name ist JHWH […]“) und so das Rettungshandeln Gottes in Form eines Heilsorakels einleiten. In Ex 6,2–8 begegnet die Formel auf engstem Raum viermal, davon dreimal in der Kurzform ’anî JHWH „ich bin JHWH“, und einmal im Rahmen der Erkenntnisaussage als Langform (V. 7 und ihr sollt erkennen, dass ich JHWH bin, Euer Gott).

Formgeschichtlich fällt auf, dass die erste und die letzte Formel (V. 2 und 8) eine Inklusion bilden, die die JHWH-Rede eröffnet und beschließt. Die dritte Verwendung ist ein in Moses Mund gelegtes Zitat (V. 6), das auf V. 7 (die Erkenntnisformel) und V. 8 (den Abschluss der JHWH-Rede) vorgreift. Während V. 2–5 an Mose allein gerichtet sind, ist der Abschnitt „der Rede in der Rede“ (V. 6–7) an Israel gerichtet. Inhaltlich verhandeln V. 3–4 und 8 dasselbe Thema: Sie bilden einen Rekurs auf die Väter und die Landverheißung. V. 6–7 ergänzen um eine weitere Verheißung, die Herausführung aus Ägypten. Dies mündet in der Erkenntnisaussage: Denn im Exodusgeschehen soll und wird Israel seinen Gott erkennen.

Das erste Vorkommen der ’anî JHWH-Formel lässt tatsächlich an eine Selbstvorstellung denken. Der Gott, der in der priesterschriftlichen Urgeschichte von Gen 1–9 als Elohîm (Gott) auftrat und den Erzvätern als El Schaddai erschien (Gen 17,1; Ex 6,2), stellt sich jetzt erstmals unter seinem Namen JHWH vor. Man könnte von einer sich allmählich vollziehenden Offenbarung sprechen.19 Hier wird explizit eine Identifizierung vollzogen, die in Ex 3,6 („Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“) nur vage angedeutet ist. Gerade der Zusatz in V. 3 „mit meinem Namen JHWH aber habe ich mich ihnen nicht kundgetan“ betont den Akt der Selbstvorstellung und ihre verändernde Wirkung für die Zukunft.

V. 6 hingegen wirkt wie eine kurze Anspielung auf den Passus in Ex 3,13 „Die Leute werden mich fragen, wie der Name des Gottes ist, der mich gesandt hat […].“ Doch fehlt in Ex 3 der Gedanke der Unbekanntheit bzw. Namenlosigkeit Gottes. Denn hier wird Gott zwar mit seinem Namen JHWH erinnert, ist aber grundsätzlich mit dem Gott der Väter identisch gedacht und als solcher auch immer schon für die Leserschaft unter dem JHWH-Namen in den Texten präsent. In Ex 6 liegt die Sache etwas anders, indem hier die Entwicklungsgeschichte göttlicher Offenbarung nachgezeichnet wird. Demnach lässt sich die Selbstvorstellungsformel in V. 6 folgendermaßen verstehen: Ich bin JHWH, und deshalb werde ich herausführen, retten, erlösen etc.20 Ähnlich wie in Ex 3,14 will auch 6,6 f. unterstreichen, dass mit dem JHWH-Namen eine sehr konkrete inhaltliche Erwartung verbunden ist. Ex 6 zielt auf das bevorstehende geschichtliche Handeln Gottes.

Erkenntnisformel

Im vorletzten Beleg der Selbstvorstellungsformel (V. 7) geht es um Gotteserkenntnis, wie es die die priesterschriftliche Exodus- und Sinaierzählung (vgl. Ez 20) strukturierende Erkenntnisformel deutlich markiert. Der letzte Beleg in V. 8 will das Gesagte als bekräftigende Zusage herauszustreichen in dem Sinne: „So wahr ich JHWH bin!“

Vergleich Ex 3 und 6

Während Ex 3 in seiner Form einem prophetischen Berufungsbericht gleicht und darin vielleicht bewusst dazu beiträgt, Mose prophetisch zu stilisieren (vgl. Dtn 34,10), bildet Ex 6 formal ein Heilsorakel, wie es vor allem die Exilliteratur eines Deuterojesaja oder Ezechiel oder das Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) prägt.21 Ex 6 ist ein theologisches Lehrstück, das über theologische Referenztexte wie Gen 17 (P) oder auch Ex 3 (nicht-P; evtl. aber jünger) hinausgeht, indem es in auffallender Weise das Ringen um die Bezogenheit zweier Traditionskomplexe, nämlich der Erzelterngeschichte und der Volksgeschichte Israels, thematisiert. Die Verlässlichkeit, die dieser Gott einerseits den Vätern gegenüber gezeigt hat, wird in Ex 6 andererseits auf das Volk mit seinem Gott JHWH übertragen und in einen neuen heilsgeschichtlichen Rahmen (vgl. die Verbindung der „Ich-bin-JHWH“-Formel + Erkenntnisformel mit der Auszugsthematik in Ex 6,6 f.) gestellt. Die Geschichte JHWHs mit seinem Volk zielt darauf, dass das Volk seinen Gott erkennt.