Buch lesen: «Schmunzelmord», Seite 3

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Autohandel

Schorsch Siebensohn trat den glimmenden Zigarettenstummel aus. Nervös drehte er die Fußspitze kräftig und lang darauf herum, bis die Fasern des Filters unter seiner Sohle hervorquollen. Wird alles laufen wie geplant? Was kann schiefgehen? Sein Freund war nicht so aufgeregt, er lehnte lässig am Kotflügel des schwarzen, auf Hochglanz polierten Audi A6, der zumindest optisch das Potenzial zum Dienstfahrzeug einer Konzernleitung hatte.

Sie warteten auf dem Parkplatz des Möbeldiscounters im Echinger Industriegebiet im Norden Münchens, ein gutes Stück hinter dem schwedischen Möbelgiganten an der Liebigstraße und seiner Konkurrenz auf der anderen Straßenseite. Von dort musste man links in den letzten Abschnitt der Dieselstraße abbiegen und an dessen Ende rechts die Hälfte der Ohmstraße entlangfahren, sonst landete man auf dem Ring der Heisenbergstraße, die um den ausladenden Flachbau des Bekleidungsgeschäfts führte. Für die bekannte Kette von Modemärkten hatte Birgit Schrowange jahrelang Werbung betrieben. Der Wind trug den Verkehrslärm von der westlich vorbeiführenden A9 bis zu ihnen herüber. Freitagnachmittag. Die Pendler verließen die Landeshauptstadt und schoben sich im Stau nordwärts.

Den Gebrauchtwagenmarkt auf dem Gelände des Aschheimer Autokinos wollten sie nicht für den Verkauf nutzen. Erstens fand der nur samstags statt, und das auch nicht an jedem Wochenende, und zweitens war ihnen das Publikum dort nicht geheuer. Zu viele dunkle Gestalten, die Fahrzeuge sonstwohin verschieben wollen, zu viele Nörgler, die auch am besten Auto trotz Topzustands noch etwas auszusetzen hatten. Auch wurde dort zu aggressiv nach unten verhandelt. Zu viele billige Autos. Der Ort hier versprach eine ungestörte Abwicklung. Sie waren auch nicht der Gefahr ausgesetzt, sich einer plötzlich zusammengerotteten Gruppe erwehren zu müssen, die ihre Sympathie für den potenziellen Käufer, einen der Ihren, vehement ausdrückte – und manchmal auch nicht nur verbal. Sie hatten ihre Erfahrung.

A6, 3-Liter Diesel, Quattro, 130.000km, unfallfrei, sieben Jahre alt, scheckheftgepflegt. Beim Händler gut und gerne seine 24.000 Euro wert.

Auf diesen Text hatten sie sich geeinigt, danach wollten sie, damit das Verkaufsgespräch lebendiger würde, mit verteilten Rollen noch die Extras und die weiteren Vorzüge aufzählen. Schorsch schlenderte um den Audi herum, es war seine vierte Runde nacheinander. In immer kürzeren Abständen drehte er das Handgelenk, schaute auf seine Armbanduhr. Er hatte sich entschieden, die Breitling-Replika zu tragen, sie passte am besten zu dem Fahrzeug. Sie sollte beeindrucken. Sein Freund nahm das nicht so genau, sein Outfit war Schorsch zu leger, aber Bastian hatte nur die Schultern gezuckt.

Dass der Käufer schon zwanzig Minuten überfällig war, zerrte an den Nerven. Wollte er sie weichkochen, mürbe machen?

Jedes Fahrzeug, das auf den Parkplatz fuhr, beäugte Schorsch intensiv. Meistens waren es kleinere oder ältere Autos, aus denen Leute stiegen, die ihrer Kleidung oder ihrem Auftreten nach durchaus die angemessene Klientel des preiswerten Möbelgeschäfts darstellten, in dem sie dann auch konsequenterweise verschwanden. Er kam sich in dieser Umgebung overdressed vor, wenn man diesen Begriff auch auf ein Fahrzeug der Oberklasse anwenden durfte. Das steigerte seine Nervosität, er fühlte sich auf dem Präsentierteller für alle Neugierigen, obwohl kaum einer Notiz von ihm nahm. Schließlich hätte er ja auch ein Kunde des riesigen Baumarkts oder des Dekorationsgeschäfts auf dem Nachbargrundstück sein können, der diesen Parkplatz hier nur nutzte, weil drüben die Parkbuchten für sein Schlachtschiff zu eng waren.

Den mattroten Mercedes Kombi, ein wirklich älteres Baujahr, beachtete Schorsch kaum. Der hielt, kaum, dass er die Zufahrt zum Parkplatz hinter sich gelassen hatte, etwas abseits der übrigen Fahrzeuge. »Wieder ein Familienvater, der einen billigen Schrankbausatz oder ein Jugendzimmer kaufen will.« Er schaute auf die Uhr. 25 Minuten. Hatte der Kunde sie versetzt? Dann wäre es immerhin ein Gebot der Höflichkeit gewesen, sich telefonisch zu melden, schließlich hatten sie die Handynummern ausgetauscht.

Bastian stemmte die Fahrertür auf, drehte sich zu Schorsch um, winkte ihn zu sich.

»Sie kommen. Haben eben angerufen, von der Zufahrt zum Industriegebiet aus. Waren an der Kreuzung beim Schotten.«

Schorsch seufzte. Wann konnte Bastian endlich mit dem Blödsinn aufhören, den Schnellimbiss amerikanischer Provenienz als schottisches Restaurant zu bezeichnen?

Der rote Mercedes hatte wieder Fahrt aufgenommen, langsam kam er dem Audi näher. Mit zwei Wagenlängen Abstand hielt er an, drei Personen stiegen aus.

Der flotte Mittdreißiger in beiger Hose und im Sommerhemd, dessen Qualität und Preis Schorsch sofort auffielen, kam auf ihn zu, ein kurzes Taxieren, dann gab er ihm die Hand.

»Hallo. Herr Siebensohn?«

Schorsch nickte.

»Herr Döbler? Grüß Gott.«

»Genau der. Die Verspätung tut mir leid, aber Sie kennen ja die A9. Die Abgase aus dem Stau riecht man bis hierher.«

Jetzt fielen sie Schorsch auch auf.

Die beiden anderen aus dem Benz kamen auf ihn zu. In einem ungünstigen Augenblick, denn er schnupperte gerade geräuschvoll mit nach oben gereckter Nase und hatte keinen Blick für die Neuankömmlinge.

Ein kurzer gegenseitiger Händedruck, keine weitere Begrüßung. Das Ritual wiederholte sich bei Bastian, der hinter dem Lenkrad hervorgeklettert kam.

Der Beifahrer von Döbler gab sich wortkarg, Schorsch und Bastian hatten bei seinem Anblick geschluckt. Seine Zurückhaltung war ihnen recht, sie hatten seinen starken Akzent nicht einordnen können, und verstanden hatten sie ihn auch kaum. Außerdem wollten sie mit dem stiernackigen Mann, aus dessen Muscleshirt voluminöse Schulterkugeln und mächtige Bizeps herauswuchsen, nicht allzu viel zu tun bekommen. Er musste reichlich Zeit für Bodybuilding aufgewandt haben.

Die brünette Begleiterin Döblers schien desinteressiert, sie schenkte ihren lila lackierten Fingernägeln mehr Aufmerksamkeit als den beiden Männern, denen Döbler das Auto abkaufen wollte. Ihre High Heels, die knappe Kleidung und ihr Gang passten zu diesem Verhalten.

Schorsch drehte sich höflich um, damit keiner sein Grinsen bemerkte. Ihm hatte sich beim Anblick der Brünetten der Bilderwitz mit dem betenden Jungen aufgedrängt: »Bitte, lieber Gott, gib den armen Frauen auf Papas Computer was Warmes zum Anziehen!«

Das Verkaufsgespräch entwickelte sich zu Schorschs und Bastians voller Zufriedenheit. Sie hatten ihre eingeübten Sprüche aufgesagt, Döbler mehrfach darauf hingewiesen, wie gut ihm dieses Nobelfahrzeug stünde, und seine Fragen bezüglich des Zustands detailliert beantwortet. Über die Technik wollte Döbler nichts wissen. Der Wagen sei nicht für ihn, er sei nur der Beauftragte von jemandem, der wisse, was er wolle. Und er wollte diesen Wagen.

Die Probefahrt verlief problemlos, Schorsch und Bastian tauschten immer wieder verstohlen vielseitige Blicke, ihre Augen strahlten. Döbler fuhr, Bastian hatte auf dem linken Rücksitz Platz genommen, Schorsch saß auf dem Beifahrersitz. Das stand ihm zu, er war der Aktivere bei dem Geschäft. Und bei der Brünetten wollte keiner der beiden zurückbleiben, hauptsächlich des Stiernackens im Tanktop wegen.

Für 24.000 Euro wurden sie den Audi dann doch nicht los. Zwar hatte Döbler nicht herumgemeckert, aber er baute einen Tablet-PC auf der Motorhaube seines Mercedes auf und zeigte den beiden einige Vergleichsangebote aus den einschlägigen Verkaufsportalen. Außerdem hätte sein Auftraggeber ihm eine finanzielle Obergrenze gesetzt. Schluckend schlug Schorsch bei 21.000 Euro ein. Das Unterschreiben des vorgefertigten Kaufvertrags war nach dem Handschlag kein Thema mehr.

Die Übergabe Zug um Zug gestaltete sich für Schorsch und seinen Kumpel spannend. Der Stiernacken öffnete die Heckklappe des Daimlers, zog einen an der Rückenlehne angegurteten Alukoffer an die Ladekante, nachdem er den Gummiriemen gelöst hatte.

Schorsch hielt den Atem an. »Wie im Krimi, jetzt dürfen wir kurz in den Koffer schauen, die Scheine zählen, und dann bekommen wir den Koffer im Austausch für Wagenschlüssel und KFZ-Brief, ach nein, Zulassungsbescheinigung heißt der Lappen ja seit Ende 2005.«

Er sollte beinahe recht behalten, nur rückte der Stiernacken nicht den ganzen Koffer zu Schorsch herüber, sondern entnahm ihm eine Kunststofftasche, die sehr an einen einfachen Kulturbeutel erinnerte. Schorsch griff hinein, ließ die eng gestopften Fünfziger durch seine Finger gleiten, fuhr mit dem Daumen über den freien Rand der Geldbündel, zählte die Banderolen. Überschlagsweise stimmte der Betrag von 20.000 Euro. Zwanzig 50-Euro-Scheine zog der Bodybuilder aus einem kleinen Abteil im Innern des Kofferdeckels und drückte sie Schorsch lose in die Hand.

Ein paar freundliche Floskeln zum Abschied, dann stieg der Stiernacken hinters Steuer des Kombis, Döbler führte seine Begleitung zum Audi und hielt ihr die Beifahrertüre auf. Ganz Kavalier der alten Schule. Nachdem sie sich in den Ledersitz fallengelassen und die sittsam aneinandergepressten Beine im Fußraum verstaut hatte, lief er hinten um den Wagen herum, stieg hinters Lenkrad. Nach einer halben Minute befanden sich beide Fahrzeuge in der Ausfahrt.

Schorsch und Bastian grinsten sich an. So einfach hatten sie sich das Geschäft doch nicht vorgestellt. Nun war der Wagen weg. Dass er gestohlen war, würde Döbler erst merken, wenn er irgendwann eine Grenze überquerte oder in eine Verkehrskontrolle geriet. Der Kaufvertrag mit den Namen aus den gefälschten Ausweisen würde auch nicht auf ihre Spur führen. Oder könnte Döbler von sich aus gleich zurückkehren, um den Vertrag aus seiner Sicht nachzubessern? Seinem schlagenden Argument im Muscleshirt wären sie nicht gewachsen. Aber das würde wohl nicht passieren.

Euphorisch schritten die beiden auf den Imbisswagen neben dem Eingang zum Möbeldiscounter zu. Sie hatten den Erfolg ihres Geschäfts in einem gehobenen Ambiente feiern wollen, aber das konnten sie jederzeit nachholen. Momentan hatten sie einfach Hunger.

»Zweimal das Nackensteak in der Semmel«, bestellte Schorsch bei dem Mann mit der senfbekleckerten Schürze, »und haben Sie Pikkolos?« Obwohl dessen Gehilfe sie bediente, ignorierten sie den und betrieben Smalltalk mit dem Budeninhaber, bis sie das Bestellte in Händen hielten.

Minuten später lehnten Schorsch und Bastian mit vollem Mund an einem der drei Stehtische. Den Imbisswirt hatte Schorsch mit einem der Scheine aus dem Täschchen bezahlt.

Sie standen mit dem Rücken zum Parkplatz. Sie hatten sich nicht mehr umgedreht, seit sie Döbler bei seiner Abfahrt zum Gruß kurz zugewinkt hatten. So entging ihnen, dass der Audi und der Benz undmittelbar nach dem Verlassen des Parkplatzes von zwei Streifenwagen gestoppt wurden. Sie kamen aus einem Firmengelände auf die Straße geschnellt, die die einzige Ausfahrt von diesem Teil des Industriegebiets darstellte. Den Rückweg schnitt Döbler & Co gerade ein drittes Polizeifahrzeug ab.

»Prost!« meinte Bastian.

Sie stießen mit den kleinen Sektflaschen an. Richtig kalt war der Sekt nicht, aber für den Abend war der Besuch einer Party angesagt. Dort konnte man den Handel angemessen begießen, und das auf Kosten anderer.

Noch auf dem letzten Bissen kauend – Bastian stocherte mit einem Zahnstocher zwischen Zähnen und Fleischstückchen herum - strebten die beiden gut gelaunt dem schmalen Durchgang im Zaun zwischen den zwei Parkplätzen entgegen. Mit Absicht hatten sie Schorschs alten Honda vor dem Baumarkt geparkt, dessen Vorgänger bis vor einigen Jahren mit dem Biber seine Werbung betrieben hatte.

»Würden Sie bitte stehenbleiben. Polizei.«

Zu dem Gehilfen der Imbissbude, der ihnen nachgegangen war, hatten sich zwei Arbeiter gesellt, die vorher neben einem unauffälligen Lieferwagen gestanden hatten. Sie versperrten ihnen den Rückweg, nickten den drei Zivilbeamten zu, die vor Schorsch und Bastian aufgetaucht waren und deren Sprecher denen gerade seinen Dienstausweis vorhielt. Die drei hatten neben dem Durchgang an einem Blumenkübel gestanden und sich unterhalten.

»Bitte, was haben wir getan?«

»Sie wissen doch, wer Banknoten fälscht oder nachmacht oder gefälschte oder nachgemachte Banknoten in Umlauf bringt …« Der Gehilfe von der Imbissbude wedelte lachend mit dem 50-Euro-Schein, mit dem Schorsch bezahlt hatte. »Und Sie haben eine ganze Tasche davon.«

Fahrzeugpanne

»Andreas, bist du´s wirklich? Ich hab´ ja Ewigkeiten nichts mehr von dir gehört. Wo steckst du gerade?« Wilhelmine Bertram presste sich das Mobilteil ihres Telefons fester ans Ohr. An seinen Namen erinnerte sie sich, sich jedoch sein Gesicht vorzustellen, wollte ihr nicht gelingen.

»Ich komme von Koblenz, bin auf dem Weg nach Rosenheim zu einer Weiterbildung. Die ganze Woche lang …«

Frau Bertram überlegte. Es war früher Nachmittag am … am Montag, fiel es ihr wieder ein.

»… und ich hatte gedacht, du freust dich, wenn ich am Wochenende bei dir ´reinschaue. Wir können ´was unternehmen, und ich lad´ dich zum Essen ein.«

»Kind, warum hast du nicht früher angerufen? Das kommt mir alles so plötzlich.«

»Ich wollte ja früher anrufen, aber deine Telefonnummer habe ich erst heute Morgen wiedergefunden. Außerdem habe ich gerade ein Problem, ich, äh, …« Andreas druckste herum. »Also, ich bin mit dem Auto bei Freising liegengeblieben. 20 Kilometer von dir weg. Ein elektronisches Steuergerät ist kaputt. Die Werkstatt sagt, das kostet wohl um die 2.000 Euro.«

»Und so viel Geld hast du natürlich nicht dabei?« Die alte Dame hatte Recht, wer trug schon so viel Bargeld mit sich herum, wenn er gerade einmal eine Woche von zu Hause weg war? An den Gebrauch von Kreditkarten, ec-Karten und Geldautomaten dachte sie gar nicht, die zu benutzen, war sie auch nicht gewohnt.

»Stimmt«, kam es aus dem Hörer, »und mein Konto ist so gut wie blank, deshalb will ich meine Karte nicht einsetzen.«

Die Oma kam wie gewünscht von alleine auf den Gedanken. »Kind, wie kann ich dir helfen? Wieviel, hast du gesagt, brauchst du?«

»2.000, aber zweieinhalb wären mir lieber, da fühlte ich mich sicherer. Kannst du mir so viel leihen? Bis nächsten Monat.«

„Ich hab´ ungern Bargeld im Haus, nur so 100 Euro.“

»Dann warte mal bitte.«

Das Telefon blieb eine Weile stumm, Frau Bertram befürchtete schon, dass das Gespräch abgebrochen worden sei. Nach einer Weile hörte sie wieder Andreas´ Stimme.

»Du, es ist geklärt. Ich schicke dir meine Freundin vorbei, sie kann mit dir zur Bank. Stefanie heißt sie. Ich will beim Auto bleiben, weil ich Firmenunterlagen und meinen Laptop dabei habe, und der Pilotenkoffer ist etwas schwer und sperrig.«

»Ach, du hast einer Freundin? Wie schön! Wie heißt sie?«

»Äh, ja, habe ich. Stefanie. Wir arbeiten in derselben Abteilung.«

Das Gespräch zog sich noch etwas. Frau Bertram wurde nervös vor Vorfreude. Ihren Enkel hatte sie das letzte Mal gesehen, als … ja, wann eigentlich? Und auf seine Freundin war sie gespannt. Würden die beiden bei ihr übernachten wollen? Sie hatte nicht gefragt, und jetzt war es zu spät, sie hatte nicht nach seiner Telefonnummer gefragt, und wenn …, besser gesagt falls ihr Telefon sie gespeichert hätte, wüsste sie immer noch nicht, wie sie sie aufrufen könnte.

Natürlich wollte sie ihrem Enkel helfen. Aber so viel Geld bei sich zu haben, war ihr wirklich unangenehm, außerdem hatte die Bank schon zu. Der Geldautomat fiel ihr wieder ein, ihre Bankkarte hatte sie im Portemonnaie. Wie sie den Automaten zu bedienen hatte, wusste sie nicht, aber Andreas´ Freundin war wohl schon auf dem Weg, die würde ihr helfen. Frau Bertram war beruhigt.

Es klingelte am Hauseingang am Unterschleißheimer Margaretenanger, einem Wohngebäude mit, so hatte Frau Bertram früher einmal geschätzt, mindestens 100 Wohnparteien. Ein Betonbau, in dem sie sie seit ihrem Einzug vor Ewigkeiten wohlfühlte. Der Tod ihres Mannes hatte daran nichts geändert, die Wohnung war voller Erinnerungen. Die Wohnungen auf ihrer Seite waren über der darunterliegenden zwei Schritt weit zurückgesetzt, so dass ihr Balkon jetzt im Sommer halbtags in der Sonne lag. Das Gemeinschaftschwimmbad im Keller hatte sie so gut wie nie benutzt, aber aufgehört, sich über die deswegen so hohen Nebenkosten sich zu ärgern. Sie ärgerte sich nur noch über die Zusammensetzung der Hausgemeinschaft, immer mehr Mieter wohnten hier. Die ursprünglichen Eigentümer waren verstorben, die Erben wohnten weit weg, und so zogen Leute ein, die die Anlage weniger schonten. Außerdem hatten einige Geschäfte im Erdgeschoss geschlossen, immer mehr Ladenlokale standen leer. Wenigstens das kleine Chinarestaurant war geblieben, ab und zu traf sie sich dort mit ihren Bekannten, älteren Damen wie sie selbst, sonntags zum Mittagessen. Es gab das Phantasiebuffet, bei dem der Gast aus einer bebilderten Karte seine Gänge aussuchte, und er so oft bestellen konnte, wie er wollte und wonach ihm gerade der Sinn stand. Serviert wurde am Tisch.

Erst das dritte Klingeln riss sie aus ihren Gedanken.

Sie stand auf und betätigte im Flur den elektrischen Türöffner, ohne sich vergewissert zu haben, wer geklingelt hatte. Die Gegensprechanlage war seit einem Vierteljahr defekt.

»Ich bin Stefanie. Guten Tag, Frau Bertram«, stellte sich die junge Frau vor, streckte der alten Dame die Hand entgegen, »ich bin die Freundin von …«

Frau Bertram war von der Endzwanzigerin angetan. Sie war schlank, hübsch und ordentlich angezogen. Das jugendlich leichte Sommerkleid war chic, fand sie, obwohl sie selbst in ihrem Alter so etwas nicht mehr tragen konnte.

»… Andreas«, ergänzte Frau Bertram, »Kommen Sie doch bitte herein. Wie war ihre Fahrt?“«

»Ganz bequem, Von der Werkstatt aus zur S-Bahn sind´s nur ein paar Minuten, und von dort fährt ja die S1 direkt bis Unterschleißheim und noch weiter. Hier waren´s noch mal 15 Minuten Fußweg.«

Sie waren in die Küche getreten, Frau Bertram schob ihrer Besucherin gerade einen Stuhl am Küchentisch zurück, als sie den Blick hob und über Stefanie hinwegsah.

Stefanie hörte ein Scharren hinter sich, sie drehte sich nach dem Geräusch um und erstarrte. Ein uniformierter Polizist und eine Polizistin hatten sich aus dem Dreieck zwischen Küchentür, Wand und Küchenzeile gelöst, der Polizist drückte gerade die Tür ins Schloss.

Sie bekam Gelegenheit, die beiden Dienstausweise zu betrachten, war aber zu verblüfft, um genau hinzuschauen. Sie nickte nur.

»Würden Sie sich bitte ausweisen.«

Stefanie fingerte auf ihrer kleinen Handtasche ihre Geldbörse und zog ihren Personalausweis heraus. Fast ungeduldig, zumindest kam ihr das so vor, nahm die Polizistin ihr die Plastikkarte ab. Ihr Kollege hatte sich breitbeinig vor der Küchentür aufgebaut, hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Stefanie schluckte, sie fand die Situation bedrohlich. Sie fühlte die Küche immer kleiner werden, Platzangst ergriff sie. Sie war eingesperrt!

»So, Frau Hasselbach, nun erklären Sie Frau Bertram doch bitte mal Ihre Rolle bei dem Enkeltrick, sie hatte da noch ein paar Unklarheiten.«

»Enkel was? Das ist alles ganz anders. Es gibt keinen Enkeltrick!«

»Das sagen alle. Nur sind die Täter schwer zu fassen, weil die Anzeigen regelmäßig erst nach dem Betrug bei der Polizei eingehen. Frau Bertram war so clever, uns rechtzeitig zu informieren.«

»Sie irren sich!«

»Dann beschreiben Sie uns doch bitte, was Sie von Frau Bertram wollen.«

»Gut, ich bin mit Andreas, äh, mit meinem Freund – wir arbeiten in derselben Koblenzer Firma – auf dem Weg zu einem Seminar in Rosenheim. Bei Freising ist sein Auto kaputtgegangen, und die Werkstatt will Bares sehen, sonst rückt sie das Auto nicht ´raus. Und da hatte Andreas die Idee, seine Oma anzurufen, denn schließlich wollten wir sie auf dem Rückweg ohnehin besuchen.«

»Aha, und ec-Karten gibt es Koblenz nicht?«

»Doch, aber sein Konto ist fast leer, das reicht nicht mehr für die Reparatur.«

»Gut, aber bevor er seine Oma anpumpen muss, hätten Sie ihm doch unter die Arme greifen können.«

»Auf meinem Konto ist genauso viel, besser gesagt genauso wenig drauf. Wir haben eine Anzahlung für eine gemeinsame Wohnung geleistet.«

»Warum ist dann Ihr Freund nicht gekommen, wenn er wirklich der Enkel ist? Seine Großmutter hätte ihn doch wohl erkannt.«

»Er ist …, er wollte in der Werkstatt bleiben und aufpassen, dass ihm keine überflüssigen Reparaturen aufgeschwatzt werden.«

»Dann nennen Sie uns doch bitte den Namen und die Anschrift der Werkstatt in Freising. In ein paar Minuten sind dann die Kollegen vor Ort und können Ihre Angaben überprüfen. Dann ist alles geregelt, und Sie können wieder gehen.«

»Ich kenne aber die Werkstatt nicht, und in Freising war ich auch noch nie. Ein Mechaniker war so nett gewesen, mich zur S-Bahnstation zu fahren.«

Die Polizeibeamten lachten sich an. Die Vernehmung begann, Spaß zu machen. Es war eine Abwechslung im Einerlei der Anzeigen und Unfallaufnahmen in und um ihre Polizeiinspektion 48 im rund vier Kilometer entfernten Oberschleißheim. Mal sehen, wann der Trickbetrügerin die Antworten ausgehen!

»Eine Markenwerkstatt?«

Stefanie rieb die Hände aneinander. »Ich sagte doch, ich habe nicht darauf geachtet, und mit Autos kenne ich mich nicht aus.«

»Was fährt denn Ihr Freund Andreas? Dann hat er wohl eine Fachwerkstatt seiner Marke aufgesucht.«

»Ich habe kein Schild einer Automarke entdeckt. Auf dem blauen Firmenschild war ein weißes Auto von vorn, darunter ein Schraubenschlüssel.« Stefanie fühlte sich immer unbehaglicher. Sie hatte sich gesetzt und rutschte nervös auf dem Küchenstuhl hin und her. Nun tuschelten die Beamten auch noch miteinander!

Die Polizistin wandte sich Stefanie zu, baute sich vor ihr auf, eine kräftige Frau. Mitte vierzig, schätzte Stefanie. Wenn sie aufstehen wollte, hätte sie sicher keine Chance gegen die Stärkere.

»Dann rufen Sie Ihren Komplizen doch einfach einmal an. Aber wehe, Sie sagen etwas Falsches! Behaupten Sie, das Geld bekommen zu haben, und Sie bräuchten die Werkstattadresse für Ihren Rückweg. Noch mal: Wehe, Sie verplappern sich!«

»Aber ich …«

»Anrufen! Sie haben doch wohl ein Handy?«

Stefanie nickte stumm, hatte keine Kraft mehr zu widersprechen. Elend fühlte sie sich und eingeschüchtert. Mit fahrigen Bewegungen fischte Sie ihr Smartphone aus der Handtasche, entsperrte es mit ihrer Geheimnummer und tippte auf das Profilfoto ihres Freundes.

Die Polizisten schauten mit ihr auf das Display, Frau Bertram hatte die Vernehmung wortlos beobachtet, sah die drei Personen gespannt an. Sie freute sich, der Polizei bei der Festnahme von Trickbetrügern geholfen zu haben. Nun war sie neugierig mitzuerleben, wie eine Vernehmung vor sich ging. Selbst erlebt war das besser als Aktenzeichen XY! Und gab genügend Gesprächsstoff für das nächste Damenkränzchen beim Chinesen.

Stefanie brauchte drei Versuche, das Profilfoto zu treffen. Die Verbindung wurde aufgebaut. Eine Melodie erklang, Stefanie atmete erleichtert auf. Es war das Rufsignal von Andreas´ Smartphone. Sie stutzte. Schön, das Signal zu hören, aber wieso kam es aus ihrer Handtasche?

»Sch…ande!«

Sie beeilte sich, den Reißverschluss der Innentasche zu öffnen, rupfte zu stark, er verklemmte sich, sie bekam ihn nur nach und nach auf. Endlich hielt sie das schwarze Gerät in der Hand.

Die Polizisten grinsten, Stefanie war sich sicher, Häme und Schadenfreude zu erkennen.

»Äh, ich hatte ein Gespräch zu Ende geführt, das er mit einem Bekannten begonnen hatte und vergessen, ihm das Handy zurückzugeben.«

»Den Trick hat uns bisher noch niemand vorgeführt. Was versprechen Sie sich eigentlich davon?«

Stefanie wusste sich nicht mehr zu helfen. Die ersten Tränen drückten sich aus den Augenwinkeln und rollten ihre Nasenflügel entlang.

Der Rest war für die Beamten Routine. Sie hatten sich schon von Frau Bertram verabschiedet und waren mit Stefanie auf dem Weg zur Wohnungstür. Das Handy der Polizistin meldete sich. Sie zog es aus dem Etui, sah ihren Kollegen und Frau Bertram verlegen an, hob die Schultern, Stefanie ignorierte sie.

»Entschuldigung, das kann länger dauern. Aber es ist wichtig.«

Das Telefonat der Beamtin dauerte eine Viertelstunde, sie hatte die Welt um sich herum ausgeblendet. »Jetzt habe ich in die Fliesen rund um Frau Bertrams Küchentisch wohl eine Furche gelaufen.« Halblaut sprach sie im Scherz zu sich selbst, als sie endlich auf dem Display auf den roten Balken mit dem Hörersymbol drückte. Sie öffnete die Küchentür, trat in die menschenleere Diele und wandte sich nach links den Stimmen zu, schaute ins Wohnzimmer.

»Ich bin fertig.« Sie strahlte. »Es ging um meine Beförderung. Nächsten Monat ist es soweit.«

»Na, dann meinen Glückwunsch!« Ihr Kollege lachte ihr zu, als er sich mit beiden Händen an den Eichenarmlehnen aus dem schweren Plüschsessel hochstemmte.

»Da gratuliere ich aber«, fiel auch Frau Bertram in die Glückwünsche ein.

Stefanie sagte nichts, sie blickte demonstrativ unbeteiligt aus dem Fenster.

»Ich habe mittlerweile die Personalien aufgenommen«, brachte der Polizeibeamte seine Kollegin beiläufig auf den neuesten Wissensstand und griff an seinen Gürtel.

Die Handschellen klickten um Stefanies Handgelenke. Sie weinte. Die Polizisten blieben ungerührt, schoben sie in die Diele. Der Polizist hatte schon die Hand auf die Klinke der Wohnungstür gelegt. Er drehte sich nochmal um.

»Das haben Sie prima gemacht, Frau Bertram. Wenn nur alle Senioren so aufgeweckt wären, uns anzurufen, sobald sich jemand mit dem Enkeltrick bei ihnen meldet. Bevor der Betrüger in die Wohnung kommt! Wir kommen morgen nochmal vorbei, dann können Sie das Protokoll unterschreiben. Und nun auf Wieder…«

Die schrille Klingel über der Wohnungstür übertönte den Rest seines Grußes. Der Uniformierte brauchte eine Sekunde, um sich zu sammeln. Er riss die Tür auf und blickte einem jungen Mann direkt in die Augen. Sein Blick glitt an ihm herunter. Legere Geschäftskleidung. Ein Pilotenkoffer stand neben ihm.

Der junge Mann schaute von einem zum anderen. Seine Brauen hoben sich. Stefanie hielt ihm ihre Handgelenke hin.

»Was soll das? Kann mir bitte einer erklären, was die Polizei mit meiner Freundin vorhat? Hallo, Oma!« Er bückte sich, schob die Verlängerung seines Rollenkoffers ein und hob ihn am Griff hoch. In der Diele beugte er sich zu der alten Dame herab und umarmte sie. Er drückte sie herzlich. »Du hast dich gar nicht verändert.«

Er richtete sich wieder auf, schaute die beiden Polizisten an. Herausfordernd hob er das Kinn, hatte sich schon auf eine heftige Diskussion vorbereitet. Plötzlich zogen sich seine Mundwinkel auseinander, seine Gesichtszüge entspannten sich.

»Ist gut, ich verstehe. Es sieht wirklich nach Enkeltrick aus! Naja, war schon blöd. Als Stefanie so lange weg war, wollte ich sie anrufen, hab´ aber mein Handy nicht gefunden. Der Mechaniker hat mir zwar sein Telefon angeboten, ich habe aber Stefanies Nummer und die von meiner Oma eben nur auf meinem Handy gespeichert. Da bin ich halt losgefahren. Mein Auto ist repariert, die Werkstatt hat mir bis morgen ein Ersatzfahrzeug gegeben. Wenn wir uns jetzt beeilen, sind wir wieder in Freising, bevor die Werkstatt zumacht.«

»Hallo, Andreas, es ist schön, dass du gekommen bist.« Oma Bertram hatte ihn endlich wiedererkannt. Sie schob sich an den Polizisten vorbei und drückte ihn.

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