Buch lesen: «Schmunzelmord», Seite 2

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Bauernschläue

In Gedanken winkte er dem Autotransporter nach, der gerade vom Hof fuhr. Die beiden Traktoren auf der Ladefläche hatten ihm jahrelang zuverlässig gedient, jedoch hielt der Anflug von Nostalgie nicht lange an. Schon nachdem er sich umgedreht hatte, stapfte er zufrieden die matschige Einfahrt zu seinem Wohnhaus zurück. Er rieb sich die Hände. Ein gutes Geschäft! Für seine beiden Ackerschlepper, die nun nach Norddeutschland unterwegs waren, hatte er einen Preis erzielt, der seine Erwartung überstieg. Der John Deere 6300 und der Fendt aus der 700er-Reihe, beide um die Jahrtausendwende gebaut, hatten sein finanzielles Polster um über 80.000 Euro erhöht.

Der Beifahrer war der Käufer, er hatte den Betrag in bar beglichen.

Dem gegenüber nahm sich der Kaufpreis für seinen neu erworbenen John Deere 6300 und den in der letzten Woche gekauften Fendt aus der 700er-Reihe, beide um die Jahrtausendwende gebaut, bescheiden aus. Zusammen nicht einmal 20.000 Euro. Dass die Fahrzeuge unter schweren Motor- und Getriebeschäden litten, deren Reparaturkosten ein Mehrfaches der Kaufpreise betragen würden, fiel nicht ins Gewicht. Sie sollten in der kommenden Woche geliefert werden. Er wollte sie in seine Scheune schleppen, er hatte ja noch seinen kleinen funktionstüchtigen Deutz, mit dem er sie rangieren konnte. Die beiden Neuen würden ohnehin nie auf dem Acker zum Einsatz kommen.

Er hatte an alles gedacht, alles bis ins Kleinste ausgetüftelt.

Dachseder bewirtschaftete einen abgelegenen Bauernhof in Westerndorf, einem Ortsteil von Haimhausen, das sich nördlich von Unterschleißheim an die B13 anschmiegte. Man erreichte ihn, indem man von der Kirche St. Peter und Paul dem Biberbach nach Westen folgte und ihn nach einiger Zeit überquerte. Gegen die Weiler Westendorf und Ostendorf auf der einen Seite und das Dörfchen Biberbach auf der anderen Seite lag der Hof sichtgeschützt hinter Waldstücken.

Seine beiden Traktoren wurden im Abstand zweier Tage geliefert, Dachseder bugsierte sie in die Scheune, ohne dass ihn jemand dabei beobachtet hätte. Mit einem Schraubendreher bewaffnet beschäftigte er sich danach damit, die Nummernschilder anzuschrauben. Er hatte sie von seinen verkauften Traktoren vor deren Abmeldung entfernt. Als er nach getaner Arbeit das Werkzeug hinlegte, schwoll seine Brust vor Stolz.

Er hatte an alles gedacht.

Seine alten Schlepper hatte er nach Norden verkauft, auf eine Suchanzeige hin, die er in einem Online-Portal für gebrauchte Landmaschinen fand. Seine neuen entdeckte er in zwei voneinander unabhängigen Angeboten eines anderen Portals. Er hatte sie vor dem Kauf in Niederbayern besichtigt, war eigens mit dem Auto dorthin gefahren und hatte sie persönlich begutachtet. Er bezahlte sie bar.

Dachseder richtete sich auf, verließ die Scheune nicht durch das schwere zweiflügelige Holztor, durch das er die Traktoren hereingebracht hatte, sondern durch die metallene Feuerschutztür in der einzigen gemauerten Wand. Ein Anflug von Ärger bemächtigte sich seiner, als er sich mit der Schulter dagegen stemmte. Er musste dringend die Türangeln fetten und in die Klinke eine neue Schraube eindrehen, das Gewinde der alten war ausgeleiert.

Im Wohnhaus angekommen, zog er in der Diele seine Stiefel aus, begab sich ins Wohnzimmer und schrieb an dem Entwurf seines Briefes an die Versicherungsgesellschaft weiter.

Nun musste er nur noch auf gutes Wetter warten.

Der Frühsommer in Deutschland war außerordentlich heiß gewesen. Weiter im Norden war es zu zahlreichen Waldbränden gekommen, oft genug durch ein unglückliches Zusammentreffen der Trockenheit und eines Gewitters. Auf die Bekämpfung von Waldbränden oder Flächenbränden auf Feldern war man nicht eingerichtet, die Schäden waren beträchtlich.

Dachseder hoffte zudem auf ein noch aufzulegendes Hilfsprogramm des bayrischen Landwirtschaftsministeriums für Landwirte, die auf Grund der Trockenheit Ernteausfälle erlitten hatten. Er zählte sich im Geiste schon zu dem Empfängerkreis. Es würde ein gutes Jahr werden.

Die Tage waren heiß und trocken. Zwei Wochen gleißende Sonne tagsüber, nachts kaum Abkühlung, stehende Schwüle 24 Stunden täglich. Seinen kleinen Gemüsegarten hatte er ausreichend bewässert. Seit seine Frau gestorben war, lebte er auf dem Hof allein. Das Handtuch von Beet genügte ihm, seine Äcker ließ er darben.

Donner riss ihn aus dem Schlaf, er fuhr auf, saß senkrecht im Bett. Normalerweise hätte er Minuten gebraucht, sich zu sammeln und zu orientieren. Nun aber benötigte er nur Sekunden, um sich an die Arbeit zu machen.

Er hatte schließlich an alles gedacht und sich bestens vorbereitet.

In der Diele schlüpfte er in seine Stiefel, zog den Mantel vom Garderobenhaken neben der Haustür, warf ihn sich über, als er den Hof schon halb überquert hatte. Der Boden war knochentrocken, er hinterließ keine Spuren, die ihm zum Verhängnis werden könnten.

An einer Seite des Scheunentores hatte er schon vor Tagen einen Strohballen angelehnt, Stroh auch vor der Toröffnung ausgestreut. Der Blitz würde in die Scheune eingeschlagen und das Stroh entzündet haben, wäre später die Vermutung der Brandexperten, die er sich im Geiste zurechtgelegt hatte. Er fingerte in seiner Manteltasche, zog das Feuerzeug heraus und schaute sich zur Vorsicht nach allen Seiten um. Kein Mensch weit und breit, keine Zeugen. Nun konnte er beginnen, es würde das perfekte Verbrechen! Er wartete auf den nächsten Blitz und drehte das Reibrad des Feuerzeugs. Wieder und wieder. Ohne Erfolg, der Gewitterwind wehte von der Scheune weg aufs freie Feld. Keine Flamme konnte sich erheben, kein Fünkchen länger als einen Atemzug lang glimmen. Das Stroh war einfach nicht in Brand zu setzen, das Verbrechen des Jahrhunderts wollte nicht gelingen. Es war zum Verzweifeln!

»Scheißg´lump!« Dachseder fluchte. Da er ja an alles gedacht hatte, war das Einweggasfeuerzeug neu gekauft – in der Anonymität eines Unterschleißheimer Lebensmitteldiscounters, denn in seiner Umgebung wusste jeder, dass er nicht rauchte. Die Funktionstüchtigkeit hatte er mehrfach geprüft und nachgewiesen. Im Haus funktionierte es ausnahmslos.

»Im Haus? Ja.« Er lächelte.

Er ging halb um die Scheune herum und zog die Feuerschutztür auf. Die Klinke wackelte, und er musste sie leicht verkanten. Licht machte er nicht. Erstens herrschte auch im Innern ein Halbdunkel, zweitens leuchteten in nunmehr schneller Folge Blitze durch die Ritzen im Holztor und in der Holzwand darum herum in die Scheune. Er musste sich beeilen, sie musste brennen, bevor der letzte Blitz erloschen war. Andernfalls würden die Ermittler von Polizei und Versicherung unbequeme Fragen stellen.

Wenn nun alles glattging, brauchte er seine Schadensmeldung nur noch um Datum und Uhrzeit zu ergänzen und abzuschicken. Der adressierte und ausreichend frankierte Umschlag lag neben dem Schreiben auf dem Sideboard im Wohnzimmer. Nur der beschriebene Schadensfall musste noch herbeigeführt werden.

Seine Hände zitterten. Doch … in der Scheune funktionierte das Feuerzeug. Mit einem zweimaligen Reiben setzte er das lose Stroh innen am Tor in Brand, wenige Sekunden nur brauchten die kleinen Flammen, sich durch den Spalt in das Stroh und den Strohballen an der Außenseite zu fressen.

Dachseder blieb noch eine Weile. Er wollte sichergehen, sah gleich darauf seinen Plan aufgehen. Zudem war er fasziniert vom Flammenspiel, das sich nun ausweitete. Jungenhaft ausgelassen kickte er mit dem Fuß noch ein paar dünne Äste in die Flammen. Tor und Holzwand fingen Feuer, die innen angelehnten Holzplanken kohlten an, er hatte sie gut ausbalanciert, sie kippten auf die beiden defekten Traktoren, von denen niemand wusste, dass sie seine wertvollen Geräte ersetzt hatten. Die Tanks waren halbvoll, und es lag genügend Gerümpel herum, um die ganze Scheune schnell in Flammen zu setzen. Die Holzwand mit dem Tor brannte bereits lichterloh.

Dachseder war hochzufrieden. Das Geld, das die Feuerversicherung zahlen würde, reichte zusammen mit dem Überschuss aus seinem Traktorentausch aus, ihm einen nicht nur sorgenfreien, sondern bequemen oder regelrecht luxuriösen Lebensabend zu sichern. Auch daran hatte er gedacht.

Und das Ganze ohne Brandbeschleuniger! Das war ihm wichtig. Er hatte zwar nie verstanden, wie die Ermittler in Fällen von Brandstiftung letzte Spuren von Benzin oder anderen Flüssigkeiten nachweisen konnten, aber er wollte sichergehen.

Er hatte an alles gedacht.

Als der Lack des zweiten Traktors Blasen warf, drehte sich Dachseder um. Es wurde Zeit, ins Wohnhaus zurückzukehren, im Bett aufzuwachen, den Feuerschein aus der Scheune zu bemerken und die Feuerwehr oder die Notrufzentrale anzurufen. Außerdem dürften in wenigen Minuten die ersten Schaulustigen im Hof stehen.

Er drückte die Klinke der Blechtür, nichts passierte. Er drückte ein zweites Mal – und hielt sie in der Hand. Den Vierkant hatte er nach außen geschoben, denn die Madenschraube hatte sich endgültig aus ihrem Gewinde gelöst und war auf dem Boden in einer dünnen Schicht Unrat verschwunden. Das Halbdunkel der Scheune verhinderte ohnehin, sie zu finden, auch wenn der Boden sauber gewesen wäre. Und selbst wenn … ohne den Vierkant war sie sowieso nutzlos.

Der Landwirt rutschte dennoch auf Knien vor der Tür herum, seine Fingerspitzen fuhren tastend über den Boden. Die Sinnlosigkeit seines Tuns erkannte er nicht. Holzsplitter, Steinchen, Stroh, Erde, aber keine Schraube. Mittlerweile hatte der Rauch die Scheune so weit gefüllt, dass er sich auch auf dem Boden ausbreitete und jede Sicht nahm. Als sich Dachseder einmal umdrehte, verlor er die Orientierung, kroch immer weiter in die Scheune hinein. Er hustete. Immer kräftiger und in immer kürzeren Abständen. Der Rauch verätzte ihm die Lungen, das Feuer hatte die Kunststoffkanister mit dem Flüssigdünger erreicht.

Bevor er das Bewusstsein verlor, ging ihm sein Plan nochmals durch den Kopf. »Ich hab´ doch an alles gedacht!« Auch an die Madenschraube. Aber denken allein genügt nicht immer.

»Vergiss die 5.000 nicht!«

»Ich halt´ das nicht mehr aus! Er schlägt mich jetzt fast jeden Tag, er steht unter Druck und trinkt. Gestern hat er mir im Suff gebeichtet, er werde erpresst.«

Tröstend legte Silvia Chantal den Arm um die Schulter, wollte sie an sich ziehen, doch die drückte sie von sich fort. Ihr war nicht nach körperlicher Nähe. Chantal und Silvia waren nicht ihre wirklichen Namen, aber so stellten sie sich ihren Freiern auf dem Parkplatz stadteinwärts rechts der Ingolstädter Straße vor. Ihrem Gewerbe gingen sie dort seit ein paar Jahren nach, wenige hundert Meter südlich der Ausfahrt München-Neuherberg der Autobahn A99 und mitten zwischen Oberschleißheim und dem nördlichsten Teil Münchens, dem Hasenbergl. Mit diesen Namen redeten sie sich an, seit sie sich kannten und Freundschaft geschlossen hatten. Herzlich musste die Freundschaft nicht sein, sie beruhte auf dem beiderseitigen Interesse, sich gegenseitig Trost zu spenden, wenn mal wieder die Heizung kaputt war bei ihren SUV oder Kombis mit den Gardinchen an den hinteren Scheiben und sie sich in ihrem knappen Outfit den A… abfroren. Oder, wenn ihre Lebensgefährten wieder handgreiflich geworden waren, weil ihnen die Tageseinnahmen nicht ausreichend erschienen.

So war es auch heute, als sie sich an die hohe Seitenwand von Silvias betagtem Toyota Land Cruiser lehnten, die Gesichter der noch schwachen Frühlingssonne entgegengestreckt. Silvia bot Chantal eine Zigarette an, ihre Freundin lehnte entgegen ihrer Gewohnheit ab. Sie hätte beim besten Willen nicht gewusst, wie sie mit ihrer geschwollenen Lippe daran hätte ziehen sollen.

»Zeig Dieter doch an! Dann verschwindet er eine Zeitlang von der Bildfläche und atmet gesiebte Luft, der Erpresser schaut in die Röhre. Und du hast endlich Ruhe.«

»Spinnst du? Soll ich mich selbst ans Messer liefern? Schließlich hab´ ich bei der Hälfte seiner Automatenaufbrüche Schmiere gestanden.«

»Naja, aber doch sicher nicht freiwillig. Das gibt mildernde Umstände. Hast du eine Ahnung, wer ihn erpresst?«

»Ich weiß nur, dass es mit den Automatenaufbrüchen zu tun hat, dass der Erpresser ab und zu hierherkommt, und dass er Dieter hier wiedererkannt hat.« Chantal hob die Schultern und zuckte zusammen, als die Stelle, die seit gestern Abend ein großer blauer Fleck zierte, dabei den Außenspiegel traf. Obwohl die Stoßzeit seit Stunden vorbei war, blieb sie auf dem Straßenstrich, bis Kälte, Dunkelheit und Hunger sie doch heimzwangen.

»Also morgen um 16 Uhr im Biergarten der Schleißheimer Schlosswirtschaft. Und vergiss die 5.000 nicht!«

»Und wie erkenn ich dich?«

»Gar nicht. Ich erkenne dich. Schließlich habe ich ja die Fotos.«

Das Gespräch war beendet. Dieter hatte den Lautsprecher seines Smartphones angeschaltet, so dass Chantal von der Küche aus das Telefonat mit anhören musste, ob sie wollte oder nicht.

Ihr kam ein Gedanke. Morgen war Samstag, schönes Frühlingswetter war angesagt, die Leute würden den Biergarten nur so stürmen. Vielleicht hatte sie ja eine Chance, Dieter zu helfen. Dann wäre alles wieder gut, er würde sie nicht mehr schlagen! Sie lächelte still. Aber wie würde sie es anstellen? Sie rief sich den Biergarten ins Gedächtnis, es half. So spielte sie mehrere Szenarien durch, bis sie sich für eine Taktik entschloss. In der Überzeugung, eine Lösung für alle Fälle gefunden zu haben, stellte sie die Teller vom Abendessen in die Spüle und stopfte die Einwegflasche von ihrem Bier in die Plastiktüte, in der sie beide die Pfandflaschen sammelten. Ein entspanntes Lächeln, das ihre Zufriedenheit widerspiegelte, spielte um ihre Lippen, als sie danach zu Bett ging. Der Schlaf jedoch ließ auf sich warten. Würde ihr Plan aufgehen?

Ihren ausgeleierten Volvo Kombi mit dem heutzutage verpönten Dieselmotor parkte sie auf dem Kiesplatz vor dem linken Seitenflügel des neuen Schleißheimer Schlosses, dem nördlichen Teil des Max-Emanuel-Platzes mit der direkten Ausfahrt auf die B471. Von hier aus hatte sie nur noch fünf Minuten Fahrt bis zu ihrem Arbeitsplatz. Niemand würde ihre kurze Abwesenheit zur Kenntnis nehmen. Zögernd stieg sie aus ihrem Fahrzeug.

Am Automaten zog sie den Parkschein und legte ihn gut sichtbar auf das Armaturenbrett in die Windschutzscheibe. Sie wollte auf keinen Fall, dass das Fahrzeug wegen unerlaubten Parkens auffiele und sie deswegen eine Anzeige riskierte, einen Beweis für ihr kurzes Hiersein. Die gebührenpflichtige Parkzeit erstreckte sich über 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche.

Sie reckte sich, sprach sich selbst Mut zu. Was hatte sie zu verlieren? Auch, wenn es nicht klappte? Mit einem Seufzer drückte sie ihr Kreuz durch und machte sich auf den Weg. Auf dem Kiesweg marschierte sie durch die Grünanlage zielstrebig auf die Schlosswirtschaft zu. Als sie sich am Ende des Weges nach links abbog, hatte sie das alte Schloss zu ihrer Rechten. Nun musste sie sich zwischen den ungezählten Fahrrädern durchschlängeln, und schon hatte sie den Rand des Biergartens erreicht. Hinter der Blockhütte, in der die Wirtschaft wieder anfing, Veranstaltungen mit kulinarischer Untermalung anzubieten, blieb sie stehen, beobachtete, wollte sich ein Bild machen. Sie war die Erste, beschloss, hier Deckung zu beziehen. Die Bänke bis zu der Speisen- und Getränkeausgabe am gegenüberliegenden Rand hatte sie von hier aus gut im Blick. Die großen Kastanien mit ihren ausladenden, den gesamten Biergarten überdachenden Kronen gewährten ihr mit ihrem Schatten zusätzlichen Sichtschutz. Es war Viertel vor vier.

Nochmals überdachte sie ihr geplantes Vorgehen. Reichte ihre Verkleidung? Von Silvia hatte sie sich deren »Zivilkleidung« ausgeliehen. Sportschuhe aus weißem Stoff mit Strassbesatz, normale, eng anliegende Jeans, die auffallend rote Bluse unter einer kurzen Jeansjacke fast verdeckt. Ihr Haar schaute als Pferdeschwanz durch die rückwärtige Lücke der schwarzen Schirmmütze. Die spiegelnde Sonnenbrille hatte Ausmaße, die ihr halbes Gesicht dahinter verschwinden ließen. Sie setzte ein trotziges Lächeln auf. Ihre Vorbereitungen hatte sie getroffen, so gut es ihr möglich war. Nicht einmal Dieter würde sie erkennen, auch wenn sie direkt vor ihm stünde.

Dieter kam pünktlich. Mit der halben Radlermaß, die er an der Ausgabe abgeholt und dann am Kassenhäuschen bezahlt hatte, schob er sich auf eine halbleere Bank und setzte den Glaskrug mit Schwung auf den Tisch. Unauffällig, zumindest glaubte er das, schaute er sich um, hatte die durch nichts genährte Hoffnung, seinem Erpresser mit dem Erkennen zuvorzukommen. Er zog ein Taschentuch hervor, wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Auch seinen nervösen Blick konnte er vor Chantal nicht verbergen.

Das zynische Grinsen verkniff sie sich nicht. Ihr Lude hatte es verdient, im eigenen Saft zu schmoren. Sie drückte sich etwas weiter hinter die Wand der Blockhütte, beobachtete, wie ein Typ mit schlurfenden Schritten zielstrebig auf Dieters Bank zuschlenderte. Ungefähr 30 Jahre alt, schlank, blonde, strähnige Haare, die über den Kragen gereicht hätten. Wenn seine Kleidung einen hätte aufweisen können. Er aber trug zu Turnschuhen und Jeans einen Kapuzenpulli mit einem übergroßen, schwungvoll ausgeführten Haken auf der Brustfläche, dem Logo eines bekannten Sportartikelherstellers.

Offensichtlich ohne ein Wort des Grußes nahm er gegenüber von Dieter Platz, hatte sich mit dem Rücken zum Tisch hingesetzt und dann die Beine über die Bank nach innen geschwungen. Seine kleine Tasche, die Chantal an die Schutzhülle für einen Tablett-PC oder ein Netbook erinnerte, stellte er auf die Bank und lehnte sie an seine Hüfte. Die beiden Männer nahmen das Gespräch auf, wobei schnell deutlich wurde, wer das Wort führte. Dieter war überraschend kleinlaut.

Hören konnte Chantal nichts, bis sie sich eilig bis auf wenige Schritte genähert hatte. »Automaten … Dienstag und Mittwoch Nacht … Fotos …« waren die Gesprächsfetzen, die sich ihr nun aufdrängten. Der Kapuzenpulli klopfte beim letzten Wort mit zwei Fingern vielsagend auf die kleine, flache Tasche. Sein keckerndes Lachen empfand Chantal abstoßend. Sie zuckte zusammen, war sie sich doch nun sicher, einen gelegentlichen Freier wiedererkannt zu haben!

Die Tasche! Ihr Blick klebte förmlich daran. Sie musste sie haben, und alles war gut! Zwischen ihr und Dieter. Und auch sonst, denn er hatte die 5.000 ja schon abgeschrieben. So hatte Chantal Oberwasser, konnte sich bei ihrer Arbeit eine gewisse Zurückhaltung leisten und den fehlenden Liebeslohn aufrechnen. Dieter würde dafür Verständnis haben.

Sie passierte die Bank so nah, dass sie mit dem Widerling gerade nicht auf Tuchfühlung kam. Ihr rechter Arm hing locker herab, streifte ihn fast. Über dem linken Handgelenk hing ihr Einkaufsbeutel auf beiden Seiten herab. Flugs verschwand die flache Neoprentasche unter dem Stoffbeutel. Chantal schaute sich um, sicherte aus den Augenwinkeln und bemühte sich, dabei den Kopf nicht zu weit zu drehen. Hatte jemand den schnellen Wechsel in die linke Hand gesehen, hatte der Typ gespürt, dass das geringe Gewicht nicht mehr an seiner Seite lehnte? Sie konnte keine Anzeichen dafür feststellen. Hastig suchte sie das Weite, brauchte sich nun um das Knirschen des Kiesbodens keine Gedanken mehr zu machen. Auch Dieter sah sie nur noch von hinten, als er aufschaute und ihr, ohne sie zu erkennen, kurz nachblickte. Sein Pfeifen hörte sie nur noch gedämpft. Sie ballte die Rechte zur Faust, welchen Frauen pfiff der Kerl sonst noch nach?

Chantal umrundete den Biergarten auf der Zufahrtstraße zum Parkplatz am anderen Ende der Max-Emanuel-Straße und dem mit Fahrrädern gesäumten Kiesweg, der nach links davon abzweigte. Die Tasche war in dem Jutebeutel verschwunden, der schlenkerte an ihrem Handgelenk. Mit mehreren Tüchern aus ihrer Jackentasche hatte sie ihn ausgepolstert, die Konturen der Neoprentasche waren nicht einmal mehr zu erahnen. Neugierig kehrte sie an den Rand des Biergartens zurück und hielt sich in sicherer Entfernung. Sie lehnte sich an die Blockhütte, tat, als stöbere sie in ihrem Beutel, und beobachtete.

Zwischen den beiden Männern wurde das Gespräch schlagartig heftiger. Und schlug in einen aggressiven Disput um, als der Erpresser den Verlust seiner Tasche feststellte. Mit beiden Händen stemmte er sich an der Tischkante hoch und fuchtelte Dieter mit der Faust vor der Nase herum. Dieter sprang auf. Am liebsten hätten sie sich wohl angebrüllt, wollten jedoch nicht auffallen. Beide schoben sich aus der Bank und entfernten sich erregt in Richtung des kleinen Parkplatzes. Autofahrer fanden hier, durch eine Hecke von der Durchfahrt abgeschirmt, in zwei Doppelreihen reichlich Stellfläche. Der Parkplatz war den Gästen der Schlosswirtschaft vorbehalten, obwohl sich selten jemand daran hielt. Dieter hatte seinen halbvollen Krug auf der Tischplatte stehengelassen, obwohl er dafür 2 Euro Pfand hatte abdrücken müssen, wie Chantal von früheren Besuchen wusste.

In ihrer Deckung blieb Chantal nicht länger stehen, erhöhte nach einigen Schritten ihr Tempo und eilte ihrem Volvo zu.

Bis zum Parkplatz neben der Ingolstädter Straße fuhr sie nicht sofort, sondern hielt in der Zufahrt am Straßenrand. In ihrer Euphorie über den gelungenen Diebstahl entging ihr, dass der Motor noch lief, und dass auch der Blinker noch eingeschaltet war. Bei ihrer Abfahrt hatte sie spontan die dünnen Handschuhe angezogen, die noch vom Winter her auf der Mittelkonsole lagen. Im Schatten des Biergartens war ihr doch kalt geworden. Nun saß sie hinter dem Steuer und fingerte aus ihrem Beutel die Netbooktasche. Sie kramte darin und fördert zuerst ein Smartphone zutage. Sie drückte den winzigen Schalter an der Seite und schob auf dem Display das kleine, weiße Schloss in dem Kreis nach oben, das Mobiltelefon zeigte sich betriebsbereit, weiterzutippen getraute sie sich trotzdem nicht. Sie klappte das Etui wieder zu. Es folgte ein DIN-A-5-Umschlag ans Licht, dem sie einen Stapel Farbfotos entnahm.

Sie blätterte die Aufnahmen durch und atmete erleichtert auf. Auf keinem Foto war sie selbst zu sehen. Etwas unterbelichtet, aber dennoch deutlich zeigte das erste Dieter, wie er im abendlichen Halbdunkel ein Brecheisen am Gehäuse eines Zigarettenautomaten ansetzte. Auf dem zweiten hatte er die Vorderfront aufgestemmt und zog den Behälter mit Münzen und Banknoten heraus. Andere Fotos belegten weitere Automatenaufbrüche, nicht nur von Zigarettenautomaten. Der Erpresser hatte ihn über eine längere Zeit beschattet.

Sie versenkte alles wieder in der Tasche. Wenn sie Dieter ihre Beute präsentierte, würde er sie wieder richtig mögen, der Erpresser hatte ja keine Beweise mehr. Sie hatte sich für längere Zeit die Schläge erspart. „»Und ihm die 5.000«, wie sie zufrieden in Gedanken hinzusetzte.

Chantal nahm die Tasche mit in die Wohnung. Dieter saß am Küchentisch. Als er sie sah, riss er sie ihr fast aus der Hand, zog den Reißverschluss auf und fingerte in der Tasche herum. Einen Kugelschreiber und den Umschlag zog er heraus, zum Schluss das Smartphone. Sein anerkennender Pfiff wurde begleitet von einem zufriedenen Nicken. »Gute Beute.« Heute würde Chantal keine Schläge beziehen.

»Wo hast du die Tasche her? Einem Kunden geklaut? Prima! Das Handy allein bringt bestimmt 200 Euro.« Er strahlte sie an. Ihre Antworten wartete er gar nicht ab.

Unvermittelt verschwand seine Euphorie. Er schaute nachdenklich zu Chantal, die Tasche war ihm gleichgültig geworden. Er ließ das Mobiltelefon wieder hineingleiten und stopfte die anderen Sachen hinterher. In den Umschlag hatte er zwar hineingegriffen, die Fotos aber nicht herausgezogen.

Chantal blickte ratlos. Dieser Stimmungsumschwung war für Dieter nicht typisch. Fragend sah sie ihm direkt in die Augen.

»Also …« Dieter klang auf einmal kleinlaut. »Ich habe mich mit dem Erpresser getroffen. Natürlich wollte er mir die Fotos nicht übergeben, behauptete, sie seien ihm gestohlen worden. Aber auf den 5.000 hat er bestanden. Es hat Streit gegeben.« Nervös blickte er zu seiner Lebensgefährtin, scheinbar Hilfe suchend.

Es strengte sie an, sich zu beherrschen, ihn nicht merken zu lassen, dass sie das alles schon wusste. Immer noch war sie versucht, ihm zu erklären, dass er die Tasche des Erpressers auf seinen Schoß gedrückt hielt, den Beweis für seine Straftaten in Händen hielt, und dass sie, seine Chantal, ihm das alles ermöglicht hatte.

Er kam ihr zuvor. »Ich hab´ ihn umgebracht. Wehe, du sagst auch nur ein Sterbenswörtchen!«

Chantal wurde kreidebleich. Sie hetzte ins Bad, übergab sich in die Toilettenschüssel.

Dieter schob den Stuhl zurück, stand auf und legte die Tasche oben auf den Küchenschrank. Mit unsicheren Schritten kehrte er auf einem Umweg zum Kühlschrank zurück zum Küchentisch und schenkte sich einen weiteren Schnaps ein.

In der Nordrundschau, einer Gemeindezeitung, die im nördlichen Umland Münchens von Werbung und Kleinanzeigen lebte, las Chantal den Artikel über den Leichenfund nahe der Schlosswirtschaft. Neugierig geworden, aktivierte sie den Internetbrowser in Dieters Notebook und surfte durch die Polizeiberichte Münchens und der Polizeiinspektion 48 in der Oberschleißheimer Hofkurat-Diehl-Straße, nur wenige Gehminuten vom Biergarten am Schloss und von ihrer Wohnung entfernt.

Ein paar Mausklicks belohnten ihre Neugier. Ein ausführlicher Bericht schilderte anonymisiert den Fund einer männlichen Leiche im Gebüsch des Parkplatzes. Hautfarbe weiß, Alter etwa 30, Tod durch Erdrosseln. Es folgten ein Foto, eine Beschreibung der Kleidung des Toten und die Aufforderung, sachdienliche Hinweise zu geben. Eine Belohnung von 1.000 Euro war ausgelobt. Chantal vergaß die 5.000, die ihr ein harmonisches Zusammensein mit Dieter versprochen hatten und war versucht, spontan zum Telefon zu greifen. 1.000 Euro wären ein erster Schritt in die Unabhängigkeit von ihm. Sie fasste sich und las weiter. Besonders waren die Ermittler am Verbleib des Mobiltelefons interessiert, das genauer beschrieben wurde. Es sei der Hinweis auf den Täter, der am ehesten Erfolg versprach.

Sie fuhr den Laptop herunter, schminkte sich fertig und ging mit dem wippenden Gang, den sie ihren High Heels verdankte, die Treppe hinunter zu ihrem Volvo. Auf dem Straßenstrich sprudelte es aus Chantal heraus. Sie musste es loswerden, musste wissen, wie andere darüber dachten. Und aufpassen, dass sie Dieter nicht verriet. Das hätte sie sich nie verziehen! Also erzählte sie Silvia von dem Polizeibericht, auf den sie zufällig gestoßen sei.

»Einer meiner Kunden ist erwürgt aufgefunden worden, die heißeste Spur ist sein teures Handy.«

»Na, das ist doch schon was!« Silvia zeigte sich optimistisch. »Wenn der Mörder es behält und nicht ausschaltet – denn dann nützt es ihm nichts, weil er ja die PIN nicht kennt –, kann die Polizei es über GPS orten.«

Chantal schluckte, ihr Gesicht verlor alle Farbe. Sie hatte Dieter schützen wollen, und jetzt? Mit einer Ausrede verabschiedete sie sich überstürzt. Sie raste nach Hause, ignorierte bis zur Waldemar-Bonsels-Villa, in der der geistige Vater der Biene Maja vor langer Zeit gewohnt hatte, alle Geschwindigkeitsbeschränkungen. Kurz hinter dem Ortsschild von Oberschleißheim trat sie die Bremse durch, bis sie das erlaubte Tempo einhielt. Sie musste Dieter warnen!

Gegenüber der rückwärtigen Einfahrt zur Schlossanlage bog sie in die Mittenheimer Straße ab und von dort an der zweiten Abzweigung nach links in die Blumenstraße, die ihr kleines Wohnviertel umschloss. Unterwegs hatte sie wieder Zuversicht geschöpft, aber als sie jetzt den Parkplatz vor dem Haus befuhr, beobachtete sie gerade noch, wie ihr Dieter in Handschellen abgeführt und von einem Uniformierten auf den Rücksitz eines zivilen Fahrzeugs gedrückt wurde.

Sie kam zu spät! Tränen verschmierten ihr Makeup, sie hatte Dieter helfen wollen und ihn dennoch verraten. Sie stieg nicht aus. Das Weinen nahm ihr die klare Sicht, aber soviel konnte sie erkennen: Die Polizisten waren fündig geworden. Einer trug durchsichtige Plastikbeutel mit Zippverschluss. Chantal erkannte die schlanke Netbooktasche, den Umschlag und im letzten das teure Smartphone.