Buch lesen: «Wiener Hundstage», Seite 3

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Dienstag
Beichtgeheimnis

»Hallo? Ist dort –«

»Einen Augenblick, bitte.« Ich legte den Hörer weg, ging ein paar Schritte auf und ab, streckte mich, gähnte und trank ein Glas Grapefruitsaft. Die Säure zog mir das Gesicht zusammen, doch die Zunge war danach beweglicher.

»Ich bin wieder da.«

»Spreche ich mit Herrn … Paul Mazurka?«

»Am Apparat.«

»Hier ist ›Das Freie Wort‹, Redaktionssekretariat. Ich verbinde Sie mit Herrn Dr. Frank.«

Ich wartete. Eine scharfe, kühle Stimme meldete sich, nicht eigentlich unsympathisch, aber befehlsgewohnt und mit einem militärischen Touch, der mir zu dieser frühen Stunde Sodbrennen verursachte.

»Frank«, knurrte die Stimme. »Ich habe gehört, dass Sie Auftragsreportagen übernehmen.«

So. Hatte er gehört.

»Was ist, sind Sie noch dran?«

»Sicher, sicher«, beeilte ich mich zu sagen.

»Gut. Was ich Ihnen anbiete, ist ein Interview. Ein Interview mit Bischof Konrad Immermann.«

Oh nein. »Herr … äh … Dr. Frank. Es muss ein Missverständnis vorliegen. Ich bin vor fünfzehn Jahren aus Ihrem Verein ausgetreten und habe mein letztes Interview mit der gegnerischen Mannschaft gemacht, um präzise zu sein mit –«

»Karlheinz Deschner, ich weiß. Ich habe natürlich Erkundigungen über Sie einholen lassen. Es verhält sich so, dass der Bischof im Juni in den Medien hart angegriffen wurde, was Ihnen kaum entgangen sein dürfte. Ich will ihm im ›Freien Wort‹ die Gelegenheit geben, seine Sicht der Zusammenhänge darzulegen.«

Wer von uns beiden war wohl verrückt geworden? »Das Freie Wort« war eine betont konservative Tageszeitung, die es traditionell seit ihrer Gründung kurz nach Kriegsende mit der Amtskirche hielt und daraus niemals einen Hehl gemacht hatte. Erst vor drei Wochen hatte der Herausgeber im Editorial verkündet, das Volksbegehren zur Liberalisierung der Kirche sei überflüssig. »Viele«, hatte er damals allen Ernstes geschrieben, »machen nur aus der Hetz’ mit, das Fundament eines katholischen Staates zu zerstören.« Das war ungeschickt formuliert, aber es traf schon den Kern dessen, was er eigentlich meinte: dass nämlich trotz aller anderslautender Versicherungen seitens der Regierung die Trennung von Kirche und Staat in Österreich niemals ganz vollzogen worden war. Grunert, Immermann und Konsorten hatten jedenfalls im »Freien Wort« immer Gelegenheit gehabt, ihre Sicht der Zusammenhänge darzulegen – dazu brauchten sie mich nicht.

Frank missdeutete mein Schweigen. »Wir zahlen ein angemessenes Honorar; die Hälfte als Vorschuss bar oder auf Ihr Konto, den Rest nach Abgabe des Interviews.«

Das klang zu schön, um wahr zu sein. Mein Misstrauen begann zu knurren wie ein alter Kettenhund, den man zur Unzeit mit einem Fußtritt aus dem Schlaf gerissen hat. »Warum setzen Sie nicht einen Ihrer Redakteure darauf an?«

»Der Bischof wünscht einen … einen außenstehenden Gesprächspartner. Sehen Sie’s als einen Akt der Toleranz gegenüber Andersdenkenden.«

»Das haben Sie schön gesagt. Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht ganz«, sagte ich und nahm noch einen Schluck Grapefruitsaft. »Wieso sind Sie so sicher, dass Immermann sich dazu breitschlagen lässt?«

Frank räusperte sich. »Das hat er bereits getan, und zwar nachdem er Ihr Deschner-Interview gelesen hat. Er will mit Ihnen reden.«

Ich schluckte, diesmal ohne Saft, und nahm Notizblock und Bleistift zur Hand. Es war acht Uhr dreizehn, und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Zement verpackt. »Die konkreten Themen, bitte. Worüber will der Bischof sprechen, und was lassen wir besser von vornherein weg?«

»Die Causa Grunert und das Volksbegehren«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Dann bleibt nicht mehr viel übrig«, warf ich ein.

»Wie?« Frank lachte, so kurz und trocken wie ein Schlüsselbeinbruch. »Da haben Sie wohl etwas missverstanden. Das sind die Themen. Darüber wird Bischof Immermann mit Ihnen reden. Was ist, nehmen Sie an?«

»Wenn ich die redigierte Fassung vor der Drucklegung zu lesen bekomme.«

»Das ist bei uns nicht üblich.«

»Das ist nirgends üblich. Doch in diesem Fall ist es meine Bedingung.«

»Ich werde sehen, was sich tun lässt. Ihr Termin ist Mittwoch, elf Uhr vormittags im erzbischöflichen Palais. Noch Fragen?«

Mittwoch – das war morgen. Es blieb wenig Zeit. »Ja. Würden Sie mir eine Pressemappe zusammenstellen? Ich brauche alle Interviews, die der Bischof in letzter Zeit gegeben hat, Abschriften von Hörfunk- und Fernsehaufnahmen, wenn solche existieren, ansonsten Videos und Tonbänder. So vollständig wie möglich.«

»Kein Problem. Kommen Sie heute in der Redaktion vorbei, sagen wir um … halb elf, wenden Sie sich an Frau Peichl. Das Material wird bereitliegen.«

»Und der Vorschuss? Ich hätte ihn gerne bar.«

Seine Stimme klang jetzt, als würde er grinsen. »Und ein Barscheck. Ach ja, ehe ich’s vergesse: Wer wird die Fotos machen? Arbeiten Sie mit einem Fotografen zusammen, den Sie bis morgen –«

»Im Augenblick leider nicht. Wenn Sie niemanden auftreiben, werden wir wohl auf bereits vorhandenes Material zurückgreifen müssen.«

Einen ausgewachsenen Kater zu beschwichtigen ist eine Sache, die Know-how, Fingerspitzengefühl und Zeit erfordert. Letztere stand mir nicht zur Verfügung. Ich ließ den obligaten Early-Morning-Espresso ausfallen, hielt das Duschen kurz und vergaß, den Anrufbeantworter anzuschalten. Um zwei Minuten vor neun schlugen die Schwingtüren des »Café Landtmann« hinter mir zu.

Ich hatte es nicht für nötig gehalten, mit Günther Abfalter ein Erkennungszeichen auszumachen; immerhin war der Mann einige Wochen lang in den Medien fast so präsent wie der Kardinal gewesen. Trotzdem machte ich zweimal die Runde, ehe ich ihn erkannte. Ein Gesicht, dem jedes Extrem fehlte. Wie es wohl ausgesehen haben mochte, als er noch Zögling im Hollabrunner Internat gewesen war? Ich stellte mich vor, reichte ihm die Hand und setzte mich. Dann legte ich die Spielregeln fest: »Wir können jederzeit unterbrechen, Herr Abfalter. Wenn Sie eine Frage nicht beantworten wollen, sagen Sie es einfach. Dieses Gespräch wird nicht veröffentlicht werden; trotzdem würde ich es gern auf Band aufzeichnen. Stört Sie das?«

Es störte ihn nicht. Stockend begann er, über seine Treffen mit Sarah Ortbauer zu berichten. Bemüht, ihn nicht zu verschrecken, verkniff ich mir die Zwischenfragen, tat so, als machte ich mir hin und wieder Notizen, und nickte verständnisvoll. Er selbst war es, der auf den Fall Grunert zu sprechen kam.

»Sie müssen entschuldigen, dass ich einfach aufgelegt hab«, sagte er und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Aber meine Frau und ich, sogar unsere Kinder, sind in letzter Zeit so oft belästigt worden, dass … Ich habe dann den Anrufbeantworter gekauft, damit das aufhört. Diese ständigen Drohanrufe und Beschimpfungen … Sie finden das vielleicht lächerlich …« Er lachte und brach ab.

»Ich finde daran gar nichts lächerlich, Herr Abfalter. Sind es verschiedene Anrufer?«

Er warf mir einen verwirrten Blick zu, doch bevor ich die Frage anders formulieren konnte, sagte er: »Dass wir alle exkommuniziert werden und in die Hölle kommen. Er sagt, dass wir alle in die Hölle kommen.«

»Wer? Wer sagt das?«

»Meine Frau ist damit zur Polizei gegangen, doch die haben ihr erzählt, das ist nur ein Verrückter, der wird sich schon beruhigen.« Abfalter lachte wieder, doch sein Gesicht sah so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Kennen Sie die Stimme?«

»Ob ich … Wissen Sie, ich glaube, ich bring den Menschen Unglück. Dem Fräulein Ortbauer hab ich es gesagt, und jetzt …«

Jetzt kamen sie wirklich, die Tränen, und liefen ihm die Wangen runter.

Scheiß auf das Interview. Der Mann war fertig. Man tritt nicht auf jemand, der am Boden liegt. Ich stand auf, ging zum Ober, der gerade in die »Neue Post« vertieft war, und bestellte zwei Fernet-Branca. Ich schob einen über den Tisch und sagte: »Trinken Sie das.«

Widerspruchslos kippte er den Schnaps. Sehr geübt war er nicht in dieser Disziplin; ein Hustenanfall beutelte ihn. Als ich mit der Linken zum Diktafon griff, um es abzuschalten, sagte er: »Nein, lassen Sie nur, es geht schon. Ich fühle mich so schuldig am Tod –«

»Jemand hat Sarah ermordet«, sagte ich, schärfer, als es in meiner Absicht lag. »Wer es auch war, ist schuldig. Nicht Sie.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist es, was mir gestern mein Beichtvater gesagt hat … und fast in denselben Worten.«

»Dann ist er zumindest kein Dummkopf.«

»Er ist ein guter Mann.«

Beichte – mit zwölf konsumierte ich diese katholische Dienstleistung zum letzten Mal; eine Art Generalservice, der mich von all den großen und schweren Sünden reinwusch, die einem Zwölfjährigen so auf die Seele drücken. Darauf folgte die Firmung und hinterher der Austritt …

»Sie gehen nach dem, was passiert ist, immer noch zur Beichte?«

»Natürlich«, sagte Abfalter, als wäre es natürlich. »Gumpoldskirchen ist zwar nicht gerade in der Nähe, aber ich mag die Fahrt, und …« Er starrte mich an, als ich mir eine Zigarette ansteckte.

»Möchten Sie eine?«, fragte ich und schob ihm die Packung hin.

»Nein danke, ich rauche nicht. Es ist nur so …«

Ich trank meinen Fernet und wartete ab, was er mir zu sagen hätte.

»Es ist das Feuerzeug«, sagte er plötzlich. »Er benützt dieses Feuerzeug, und er trinkt diesen Schnaps.«

Gumpoldskirchen. Ein Zippo-Feuerzeug. Fernet-Branca. Himmel, es gibt Zufälle, die darf es gar nicht geben … Ich beugte mich vor und fragte: »Ihr Beichtvater – wäre es möglich, dass Sie von Dominik Weibl sprechen?«

Abfalters Blick wurde misstrauisch. »Woher wissen Sie …«

»Dominik ist ein alter Freund«, sagte ich beschwichtigend.

Ich war sieben Jahre alt, als ich ihm zum ersten Mal begegnete; ein großer, finsterer Mann mit der Statur eines Bären und einem Gesicht so breit wie ein Parmaschinken. Er besuchte hin und wieder meine Eltern, um sich mit ihnen und anderen Freunden diskutierend die Nächte um die Ohren zu schlagen. Er rauchte wie ein Schlot, konnte auf den Händen gehen und spielte hinreißend gut Klavier. Und er benützte trotzig sein altmodisches Zippo in einer Zeit, als alle Welt auf Bic-Feuerzeuge abfuhr. Trotz seines düsteren Aussehens – das noch verstärkt wurde durch seine schwarze Arbeitskleidung – fühlten sich Kinder zu ihm hingezogen. Vielleicht, weil sie instinktiv erkannten, dass sich hinter dem rauen, polternden Äußeren ein sanftes Gemüt verbarg. Dazu kam, dass er sie wie seinesgleichen behandelte, und das macht auf Kinder größten Eindruck.

Später fand ich heraus, dass Dominik, der jede Gesellschaft zum Lachen bringen konnte, selbst unter schweren Depressionen litt und an seiner Berufung öfter zweifelte, als es für einen Priester gut sein kann. Ich besuchte ihn hin und wieder in Gumpoldskirchen, und wenn es ihn nach Wien verschlug – was in den letzten Jahren zunehmend seltener vorkam –, dann gingen wir in irgendein gepflegtes Restaurant, denn Dominik liebte gutes Essen fast so sehr wie große Weine, harte Schnäpse, starke Zigaretten und den Anblick schöner Frauen.

Ausgelaugt wie ein alter Mopp nach tausendundeinem blank polierten Fußboden kam ich im »Alt Wien« an. Es war der Kater, es war die Hitze, es war das Gefühl, jemand genötigt zu haben, der gerade das am allerwenigsten brauchen konnte. Aus Günther Abfalter war nichts mehr rauszubringen gewesen. Die Tatsache, dass ich seinen Beichtvater kannte, hatte jede Basis für weitere Gespräche zerstört; er glaubte mir nicht, dass es einfach ein Zufall war, der mich genauso überraschte wie ihn, und witterte dahinter eine groß angelegte Verschwörung.

Nico hatte Dienst; er sah mich reinkommen und brachte unaufgefordert einen Espresso. Er wusste, was notwendig war, dazu bedurfte es keiner Diskussion; er sah es mir an. Nico trug ein blendend weißes, perfekt gebügeltes Baumwollhemd, dessen gestärkter Kragen über seinem breiten, gebräunten Hals offen stand. Seine Armani-Jeans sahen aus, als hätte er sie heute früh gekauft. Das volle, kaum grau gesprenkelte Haar war nach hinten gebürstet und schien geradewegs aus den kundigen Händen eines sauteuren Innenstadtfriseurs zu kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer Nico jemals anders gesehen hat.

Ich beutelte eine Camel aus der verdrückten Packung, steckte sie mir zwischen die Lippen und ließ mein Zippo klicken. Sarahs Ermordung hatte die tiefsinnigen Essays über das Sommerwetter aus der Tagespresse verdrängt. Sie war groß drin, größer sogar als die allseits bejubelte Offensive, die Kroatien soeben unter dem so originellen wie assoziativen Decknamen »Sturm« gestartet hatte. Bis auf die denkwürdige Aussage des Pressereferenten der Wiener Polizei, man verfolge bereits eine vielversprechende Spur, fand sich allerdings wenig Neues über den Fall Ortbauer. Das konnte bedeuten, dass die Polizei Tom Hrdlicka gar nicht als Verdächtigen ins Auge gefasst hatte. Es konnte aber auch das genaue Gegenteil bedeuten.

Ich blätterte die heutige Ausgabe des »Freien Wortes« durch und sah mir das Impressum an; ein ausführliches, korrektes Impressum, wie es sich gehört. Ein Dr. Frank war darin nicht erwähnt. Auch das konnte etwas bedeuten. Oder eben nicht. Ich ließ mir von Nico, der an der Theke frühstückte, eine Packung Camel geben, zahlte und ging.

Die Redaktion des »Freien Wortes« war in der Singerstraße in einem kaisergelb gestrichenen Barockgebäude angesiedelt. Ich trat ein und fragte den alten, triefäugigen Portier nach einem Dr. Frank. Er kannte keinen. Ich zog meinen Notizblock hervor und las den Namen Peichl herunter. Er nannte eine Zimmernummer im ersten Stock, die ich nach einem angemessen ausgedehnten Fußmarsch fand. Ich klopfte an eine Tür, an der eine geprägte Messingtafel mit der Aufschrift »Eva Maria Peichl – leitende Redakteurin« angeschraubt war, und trat ein.

Eine ältere Dame mit platinblondem, hochtoupiertem Haar, das an den Wurzeln grau war, widmete mir einen kühlen, abschätzigen Blick. Er ging durch mein Sakko hindurch, schnappte sich meinen Personalausweis, erfasste die Daten und wurde noch kühler.

Sie sagte: »Grüß Gott.«

Als wenn das so einfach wäre. Ich sagte: »Angenehm, Mazurka. Ist Dr. Frank zugegen?«

»Der Herr Doktor« – den Titel betonte sie auf eine geradezu bedrohliche Weise – »ist in einer Konferenz und darf nicht gestört werden. Aber er hat etwas für Sie hinterlegt.« Den letzten Satz brachte sie mit hörbarem Ekel hervor. Sie öffnete eine Schublade und entnahm ihr ein kleines Blatt Papier, das so vertrauenerweckend knisterte, wie nur ein Barscheck knistern kann. Ich nahm den Schein in Empfang, machte meinen Kratzfuß und strebte der Tür zu, begleitet von dem lauen Gefühl, etwas vergessen zu haben. Ihre Stimme hielt mich zurück, sie warf sie wie ein Lasso nach mir.

»Da wäre noch eine Kleinigkeit, Herr Mazurka.«

Sie hielt in beiden Händen einen Stoß Mappen und Kopien, die sie mir nach einigem Zögern überreichte, als wäre es die Bundeslade.

»Hier sind alle Interviews und Stellungnahmen gesammelt, die Seine Exzellenz in den letzten Wochen gegeben hat. Vielleicht«, sie hob eine gezupfte, haarscharf nachgezogene Augenbraue in schwindelerregende Höhe, »ist die Lektüre ein Ansporn, es besser zu machen als Ihre unhöflichen Kollegen.«

»Ich werd mir Mühe geben. Rechnen Sie mit dem Schlimmsten.«

Darauf ging sie nicht ein. »Wann bekommen wir Ihre … Arbeit?«

»Sobald sie fertig ist. Keinen Tag später, Ehrenwort.«

Der Weg zur Bank hatte mir selten so viel Freude bereitet. Ich wusste nicht, wer Frank war, noch, was er sich von meiner Arbeit erwartete. Doch dass er sich die einiges kosten ließ, das wusste ich jetzt. Mit ein paar unverhofften Tausendern in der Tasche sieht die Welt ganz anders aus. Sogar die ehrwürdige Statue des alten Wiener Bürgermeisters Karl Lueger schien ein wohlwollendes Auge auf mich zu werfen, ein strenger, aber gerechter Patriarch, der den verlorenen Sohn begrüßte. Sie stand aufgeräumt und würdevoll wie immer auf ihrem Steinsockel und bewachte den Luegerplatz. Sie tat das immerhin bereits seit 1926, und doch kam mir heute vor, als hätte das bronzene Gesicht des alten Antisemiten ein feines schelmisches Grinsen aufgesetzt, so als würde der schöne Karl den Wienern kundtun, heute könnten sie ihn alle. Was nach so langer Zeit nur zu verständlich wäre.

Ich überquerte den Platz, zückte Toms Schlüsselbund und öffnete das Haustor. Ein blau gekleideter Riese kam mir entgegen, der unter jedem Arm eine Schachtel trug. Zusammen hatten sie höchstens die Größe und das Gewicht eines überfüllten Kleiderschranks. Der Mann sah aus, als würde er nichts lieber tun, als noch zwei davon aufpacken, nur leider war eben das Tor nicht breit genug.

Mit dem Lift fuhr ich in den letzten Stock. Die Tür mit der Aufschrift »Grafikstudio Thomas Hrdlicka« stand offen, und dahinter herrschte Hochbetrieb. Eine exklusive Stehparty, veranstaltet von der Republik Österreich. Geladen waren nur Clubmitglieder; alle anderen hatten hier nichts verloren. Zwei maßstabgetreue Miniaturausgaben des blauen Riesen waren damit beschäftigt, Toms Mobiliar und die Geräte säuberlich in Schachteln zu verpacken, während ein Dritter danebenstand und Buch führte. Er trug einen blauen Stangenanzug, ein hellblaues Hemd mit weißem Kragen und eine extrabreite Krawatte in einem Rotton, der den Teufel vom Höllenfeuer weggelockt hätte. Seine Augen hatten den scharfen, erbarmungslosen Glanz, den Augen kriegen können, wenn sie zu viel in anderer Leute Angelegenheiten herumstieren, beruflich und von Rechts wegen. Am Abend, wenn die Sonne tief über dem Wiener Becken stand, würde sein Schatten die Umrisse des Doppeladlers annehmen.

Er schoss auf mich zu und schnauzte: »Ham Sie hier was zu suchen?«

»Herrn Hrdlicka«, sagte ich und strahlte ihn an. »Dies ist sein Studio.«

»War es. Und jetzt gehen S’ wieder. Und zwar plötzlich, wenn ich bitten darf.«

»Sie dürfen«, sagte ich zuvorkommend.

Er sagte ein Wort, das anzugtragende Herren für gewöhnlich nicht zu sagen pflegen. Sonst sagte er nichts. Er stand nur da, starrte mich aus seinen blauen Puppenaugen an und versperrte mir den Weg. Ich trat einen Schritt vor und hielt ihm meinen Presseausweis unter die Nase. Tolle Sache, so ein Ausweis. Wirkt manchmal Wunder. Diesmal wirkte er überhaupt nicht. Blauauge verschwendete nicht einmal ein Blinzeln darauf.

»Interessiert es Sie gar nicht, warum ich hier bin?«

Er schüttelte einmal den Kopf, schnippte mit dem Finger und sagte: »Raus.«

Er sagte es nicht besonders laut. Hinter meinem Rücken raschelte etwas. Ich beachtete es nicht, rührte mich einfach nicht vom Fleck. Er begann, mich zu beschimpfen, alles in gemäßigter, wohltemperierter Stimmlage, als hätte er es nicht nötig, zu brüllen. Als er damit fertig war, sagte er: »Sie stören die Arbeit eines gerichtlich beeideten Exekutors. Wissen S’ eigentlich, was Ihnen das einbringen kann?«

Ich sagte, das wüsste ich nicht und es interessierte mich einen Dreck. »Alles, was ich will, ist ein Entwurf, den Hrdlicka in meinem Auftrag gemacht hat. Irgendwo da drin liegt eine Mappe oder ein Kuvert …«

Er zog ironisch die Augenbrauen hoch. »Wir werden sofort alles wieder auspacken für den Herrn, nicht wahr?«, sagte er, an seine beiden Mitarbeiter gerichtet, die pflichtschuldigst lächelten, ohne in ihrer Arbeit innezuhalten. »Schließlich ist bei uns der Kunde König.«

Heute war der Tag der Arschlöcher. Ich trat noch näher an ihn heran und deutete mit dem Finger an ihm vorbei ins Studio. »Vielleicht lassen Sie mich selbst suchen, wie wär das? Oder haben Sie Lust auf einen freundlichen kleinen Artikel, mit Foto und allem, nur Sie, Ihre Dienstnummer und Ihre Scheißkrawatte?«

Das war ein Bluff, und das wusste er. Er grinste, sagte: »Ich darf bitten!«, und schnippte zum zweiten Mal. Ein Felsbrocken legte sich auf meine rechte Schulter. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer hinter mir stand. Das Riesenbaby hatte seine Geschenkpäckchen verstaut und war zurückgekehrt. Er musste sich nach Indianerart angeschlichen haben.

»Alles klar«, sagte ich und nickte ihm zu. »Du brauchst mich nicht zu tragen. Ich finde den Weg schon alleine.«

Der Große nahm seine Pranke weg und machte Platz. Jedenfalls das, was einer von seiner Sorte darunter verstand. Toms Vorzimmer war mir nicht so schmal in Erinnerung gewesen.

Das »Engländer« hatte vor ein paar Jahren noch »Windhaag« geheißen. Damals war es ein altes, traditionsreiches Kaffeehaus gewesen, in dem hauptsächlich reizende ältere Damen verkehrten, um die »Presse« zu lesen und ihre gut genährten Dackel mit Gugelhupf zu füttern. Vom nahe gelegenen Stubenbastei-Gymnasium kamen die Schüler – vorwiegend die schlechten – und saßen stundenlang bei einem kleinen Braunen, den sie dann beim Ober anschreiben ließen. Der Ober war geblieben (es schien sogar, als wäre er nicht einmal älter geworden), doch sonst war nach der Neuübernahme nicht mehr viel übrig vom alten »Windhaag«.

Das »Engländer« war schick, und das waren auch die jungen und nicht mehr ganz so jungen Typen, die bis in die frühen Morgenstunden hinein am Tresen Weine verkosteten (»Du, Erich, noch ein Glas, aber nicht vom Neuburger, der korkt grau-en-haft. Ich nehm den Veltliner Smaragd vom Willi Bründlmayer, den mit dem Waaahnsinnsabgang, du weißt schon, Erich …«), elendslange Diskussionen über Squash oder Golf führten und dabei alle Hände voll zu tun hatten, das Handy zu bedienen.

Da ich Horst Fiedler von der »Donauwelle« erst in einer halben Stunde erwartete, knöpfte ich mir die Artikel über Bischof Konrad Immermann vor. Ich bestellte Tonic und sautierte Salbeileber im Basmatireisring, die sich als das entpuppte, was ich Hühnerleber mit Reis nennen würde und ganz passabel schmeckte, solange man sich nicht durch den Preis den Appetit verderben ließ.

Beim Essen las ich. Das mag ungehörig sein, spart aber Zeit. Frank hatte recht gehabt. Die Medien ließen kein gutes Haar auf dem ohnehin nur spärlich bewachsenen bischöflichen Haupt. Die Blätter waren voll mit bissigen Beschreibungen Immermanns und noch bissigeren Kommentaren zu seinen Vorstellungen; selbst aus dem konservativen Lager kam hin und wieder gedämpfte Kritik. Das war nicht weiter verwunderlich, schien es doch Immermanns erklärtes Ziel zu sein, das Zweite Vatikanum zu annullieren. Was ihm offensichtlich vorschwebte, war eine Rückkehr ins Goldene Zeitalter, als die Kirche noch eintausend Jahre jung und die Erde eine Scheibe war. Frauen als Ministranten? So weit kommt’s noch! Priesterehen? Da sei GOtt davor. Nein; das war schon ein Kirchenmann der guten alten Schule Anno Domini fünfzehnhundert, ganz knapp, bevor dieser ketzerische Wittenberger Trunkenbold seine häretischen Thesen an die Kirchentür nagelte.

Allerdings ging seinem heilsamen Wirken gänzlich die Naivität seines Chefs Heinrich Grunert ab, der mit feinsinnigen Exzerpten über den geografischen Standort der Hölle, eindringlichen Beschreibungen der vielen Ränke, die Satan beim Verführen Minderjähriger zum sündhaften Lebenswandel ins Spiel bringt, Wallfahrten, Bittprozessionen und Marienbeschwörungen seinen lebenslangen Kreuzzug gegen den Gottseibeiuns führte – Immermanns Stärke lag in einem anderen, kriegerischen, wenn auch durchaus intellektuellen Bereich. Dieser frohe Botschafter war so etwas wie Grunerts schwere Reiterei, ein eherner Kürassier des HErrn, dessen sprichwörtliche Streitlust öffentliche Provokationen sonder Zahl verursachte, die, wie böse Zungen behaupteten, vor allem dazu dienten, ihn in die Medien zu bringen. Er war der anerkannte Großmeister im Wortklauben, Haarspalten, Niederwalzen und Weghören, wenn’s unbequem wurde; und wenn er erst seine segensreiche Trickkiste auspackte, um Weiß in Schwarz zu verkehren und vice versa, dann kam man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Seine letzte Entgleisung hatte ihn allerdings ins mediale Out gedrängt – eine historische Interpretation (um ein mildes Wort für das zu finden, was eine ehemalige Präsidentschaftskandidatin »Geschichtsklitterung« genannt hatte), der man weder kühne Originalität noch Sinn für dramaturgische Brisanz absprechen konnte. Das Kirchenvolksbegehren in einem Atemzug mit jener »Abstimmung« von 1938 zu nennen, die den Anschluss Österreichs ans Dritte Reich legalisieren sollte, war zwar aus seiner Position heraus durchaus folgerichtig und konsequent gedacht, hatte ihm aber in breitesten Kreisen den Ruf eines Antidemokraten von rechtem Schrot und Korn eingetragen. Als ob »demokratische Kirche« nicht ohnehin ein Oxymoron wäre.

Schlag ein Uhr, auf die Minute genau, stand Franjo Bregović an meinem Tisch und grinste auf mich herunter. Nachdem er seine Bestellung losgeworden war, holte er ein Päckchen Marlboro aus der Brusttasche seines grasgrünen Poloshirts und paffte genüsslich vor sich hin.

»Horst Fiedler lässt sich entschuldigen«, sagte er nach einer Weile. Seine Stimme hörte sich an, als spräche er den ersten Satz des Tages, brüchig und heiser und wie aus den Tiefen einer stillgelegten Kohlenmine hervorgeholt. »Er ist … Er hat den Abend gestern nicht so gut vertragen.«

Ich lachte und zuckte mit den Schultern. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte ich dunkle Schatten unter seinen Augen; von den Schnurrbartenden gingen zwei tiefe Linien weg, die aussahen, als wären sie mit dem Schnitzmesser eingekerbt und heute Morgen wieder nachgezogen worden.

Als der Kellner sein Bier brachte, sagte er »Danke« auf eine Art, die einen spüren ließ, dass er es ernst meinte. Er widmete dem Krug einen entrückten, fast ekstatischen Blick aus seinen traurigen Augen, als hielte er nach langen Jahren der Suche endlich den Heiligen Gral in Händen, und tat einen zögerlichen ersten Schluck. Sein Profil entspannte sich.

»Es hat gestern wohl noch länger gedauert«, sagte ich.

»Wie? Oh, ja«, sagte er mit ernstem Gesicht.

Ich kam zur Sache. »Ich sag es Ihnen besser gleich«, begann ich. »Das Cover für die aktuelle Ausgabe der ›Donauwelle‹ können Sie wohl vergessen. Ich war gerade in Toms Studio. Der Exekutor ist dabei, die ganze Einrichtung abtransportieren zu lassen. Ich hab versucht, mit ihm zu reden. Wollte ihn dazu bringen, dass er mich danach suchen lässt. Leider war ich noch nie besonders gut darin, mit diesen Typen umzugehen. Er ließ mich rausschmeißen.«

Wider Erwarten lachte Franjo. »Ich hätte sicher auch nicht mehr Glück gehabt«, sagte er. Plötzlich trat ein boshaftes Funkeln in seine Augen. »Und Horst Fiedler mit seinem schwarzen Kopftuch hätte die Erzengel-Luzifer-Show abgezogen und wäre gleich verhaftet worden.«

Wir lachten beide.

»Was werden Sie jetzt machen?«, fragte ich. »Kennen Sie einen anderen Grafiker?«

Er hob die breiten Schultern. »Vielleicht kennt Horst jemand. Ich habe für dieses Heft genug getan. Ihr Freund Thomas … wann wird der wieder zurück sein?«

»Sehen Sie, das ist der Punkt. Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er selbst es weiß.«

»Der Exekutor«, sagte Franjo und nickte so verständnisvoll, wie das nur einer zustande bringt, der die ganze widerliche Prozedur selbst einmal erlebt hat. Vielleicht war es diese Geste, die mich zu einem Fehler verleitete, der einen Menschen das Leben kosten sollte.

Ich sagte: »Das ist es nicht. Tom vermutet, dass ihn die Polizei im Visier hat.« Als Antwort auf Franjos fragenden Blick sagte ich: »Mordverdacht. Eine Journalistin wurde umgebracht, mit der er ein paar Wochen ein Verhältnis hatte. Zeugen haben ihn am Tatort gesehen, was er selbst nicht einmal abstreitet.«

Bregović beugte sich vor, legte die Unterarme auf den Tisch und gab Rauchzeichen von sich. Er sagte nichts, er wartete.

»Er rief mich gestern an, wollte, dass wir uns treffen. Aber er kam nicht. Seither herrscht auf seiner Seite Funkstille.«

Franjo nickte, während er bedächtig seine Zigarette ausdämpfte. »Davon habe ich gelesen«, sagte er. »Ortbauer. Sie hat die Sache mit Kardinal Grunert groß rausgebracht. Ein riesiges – heißt es Spektakel? – in den Medien.«

»Ja, das war es. Tom hat am Telefon behauptet, er hätte eine Tasche – in den Nachrichten war von einem Aktenkoffer die Rede – von ihr übernommen, kurz vor oder kurz nach ihrem Tod.«

»Denken Sie, dass er …«

»… Sarah umgebracht hat? Unsinn«, sagte ich und grinste freudlos. »Als Liebespaar waren die beiden eine Katastrophe. Aber sie blieben auch nach der Trennung in Kontakt. Und immerhin hat sie Tom so sehr vertraut, dass sie ihn um Hilfe bat. Hat ihm erzählt, sie wäre einer ganz heißen Angelegenheit auf der Spur.«

»Und jetzt versuchen Sie herauszufinden, wer es getan hat, wenn nicht Ihr Freund«, stellte er fest. »Wie wär’s mit einem Bier?«

»Dann sind wir sehr schnell wieder dort, wo wir gestern aufgehört haben.«

Ein schräges Grinsen zog sein rechtes Schnurrbartende hoch. »Wie Sie meinen. Ich wollte nicht aufdringlich wirken.«

»Ich hab nicht Nein gesagt.«

Nachdem der Ober zwei Krügel gebracht hatte, fragte Franjo: »Was war in dem Koffer?«

»Die richtige Frage. Ich weiß es nicht genau.« Ich erzählte ihm vom Grunert-Foto, von den verschwundenen Disketten und von der gelöschten Festplatte. Das Golf-Turnier amüsierte ihn, doch eine Lösung hatte er auch nicht parat. Warum auch.

»Aber es muss noch etwas anderes dabei gewesen sein«, sagte ich abschließend. »Tom sprach von weiteren Fotos, von ›wirklich schlimmen‹ – das waren, glaub ich, seine Worte. Fotos, die mit der Grunert-Geschichte zu tun haben? Und wenn, wo sind sie dann geblieben? Wo ist die Diskette, die Tom auf die Festplatte kopiert hat? Jede Menge Fragen, auf die ich keine Antwort habe.«

Es war kurz nach zwei, als ich zahlte und meine Unterlagen zusammensammelte. Ich erhob mich und reichte Franjo die Hand.

Anstatt sie zu ergreifen, legte er seine Linke auf meinen Unterarm und sagte: »Sie haben heute noch zu tun?«

»Ich muss nach Gumpoldskirchen.«

Er nickte. »Haben Sie einen Wagen? Nein? Ich bring Sie zum Bahnhof.«

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