Buch lesen: «Tod zum Viehscheid», Seite 4

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»Mir ist einiges noch nicht ganz klar, Herr Lorenz.« Hauptkommissar Forster saß zusammen mit seinem Kollegen Berthold Willig in einem der Besucherräume der JVA Kempten dem Verdächtigen im Mordfall Michelsbach gegenüber und musterte ihn neugierig.

Der junge Mann wirkte weder eingeschüchtert noch verängstigt. Er saß mit vor der Brust verschränkten Armen zurückgelehnt auf seinem Stuhl und starrte den Hauptkommissar ablehnend an. »Wo ist denn die hübsche Hauptkommissarin?«, wollte er wissen. »Die hat mir viel besser gefallen als Sie. Die Kleine war heiß. Sie mag ich nicht.« Er hatte gerade noch so viel Anstand, nicht auf den Boden zu spucken, hob aber verächtlich die Oberlippe und zeigte Florian Forster seine Zähne.

»Das steht Ihnen natürlich frei, Herr Lorenz«, bemerkte der Hauptkommissar und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Junge Männer um die 20 litten fast immer unter extremer Selbstüberschätzung und hielten sich in Bezug aufs andere Geschlecht meist für unwiderstehlich. Er war auch einmal jung gewesen. Nicht dass er jetzt alt war oder weniger attraktiv oder auch nur einen Hauch seines unwiderstehlichen Charmes eingebüßt hätte. Er war einfach erfahrener als vor 20 Jahren und vielleicht etwas subtiler in seiner Arroganz und Überheblichkeit. »Tut mir leid«, brachte Florian noch heraus, bevor er doch grinsen musste. »Sie erinnern mich an jemanden, den ich gut kenne.«

»Warum wollten Sie zu diesem Gespräch keinen Anwalt, Herr Lorenz?«, mischte sich Kommissar Berthold Willig, Florians junger Kollege, ein. »Ihnen steht es zu, sich bei Verhören von einem Anwalt beraten zu lassen. Das wissen Sie doch, oder?«

»Klar«, sagte Matteo. »Aber das geht auch ohne Rechtsverdreher. Ich bin schließlich unschuldig.«

»Verstehe«, bemerkte Florian. »Und wie gedenken Sie, mich von Ihrer Unschuld zu überzeugen? Sie waren am Tatort. Es gibt unzählige Spuren von Ihnen. Fingerabdrücke, Ihre DNA an der Leiche von Frau Michelsbach, Ihr Blut am Tisch«, zählte er auf.

Matteo Lorenz antwortete rüde: »Ich bestreite nicht, dort gewesen zu sein. Aber als ich angekommen bin, waren die beiden schon tot.«

»Wie sind Sie dann ins Haus gekommen?«

»Die Terrassentür stand offen.«

»Warum sind Sie durch den Garten ins Haus und haben nicht an der Haustür gewartet?«

»Boah, Mann. Das habe ich neulich alles bereits der Hauptkommissarin erklärt. Muss ich das heute erneut runterleiern?«

»Ja, bitte«, sagte Florian ruhig, verschränkte ebenfalls seine Arme und sah den Jungen streng an. »Das wäre erstens außerordentlich freundlich, und zweitens ist es die einzige Chance, hier zeitnah herauszukommen, wenn Sie wirklich unschuldig sind.«

Matteo Lorenz seufzte ärgerlich, berichtete dann aber ausführlich von dem Besuch beim Ehepaar Michelsbach. Die Geschichte deckte sich mit dem Bericht, den Jessica nach dem Verhör verfasst hatte, war jedoch nicht exakt genug, um einstudiert zu wirken. Vermutlich sagte der Junge die Wahrheit.

»Eins verstehe ich immer noch nicht.« Florian stand auf, ging um den Tisch herum und blieb direkt neben Matteo stehen. »Warum haben Sie erst Stunden nach Ihrem Besuch bei den Michelsbachs die Polizei verständigt?«

»Ich wollte gar nichts sagen. Man sieht ja, was dabei herauskommt. Ein Unschuldiger sitzt im Knast!« Matteo Lorenz klopfte sich mit der Faust auf den Brustkorb und sah den Hauptkommissar bitterböse an.

Dieser lächelte nur bedauernd und rührte sich nicht von der Stelle. »Warum haben Sie sich umentschieden?«

»Mein Vater hat es verlangt. Und mein Vater hat auch gesagt, dass Sie, Herr Hauptkommissar, jetzt dafür sorgen, dass ich hier herauskomme. Also, was ist? Darf ich endlich nach Hause?«

*

Bereits einen Tag nach dem heftigen Unwetter in den Allgäuer Alpen war der Himmel wieder hellblau und wolkenlos. Die Sonne schien seit den frühen Morgenstunden, und mittags zeigte das Thermometer über 30 Grad. Es war heiß, doch nicht mehr so schwül wie vor dem Gewitter.

Die Allgäuer Festwoche war seit ein paar Tagen vorüber, die Bierzelte, Bühnen und Messehallen bereits abgebaut und der Busverkehr am Zentralbusbahnhof lief wieder normal.

Für Ende August war diese Hitze im Allgäu recht ungewöhnlich. Jeder ältere Allgäuer hätte bis vor Kurzem behauptet, die Festwoche sei der Ausklang des Allgäuer Sommers. Danach werde es regnerisch kühl. So war es immer gewesen. Aber nicht in diesem Jahr.

Auf dem Hof der Familie Mühlbrunner konnte Hauptkommissarin Jessica Grothe direkt vor der Eingangstür parken. Der Hof war etwas kleiner als der Betrieb der Rothausens. Der Stall neben dem in die Jahre gekommenen Wohngebäude war halb so groß wie der Pferdestall, den Jessica gestern gesehen hatte.

Nachdem sie mehrfach an der Haustür geklingelt hatte, sah sie einen jungen Mann in grüner Arbeitshose um die Hausecke biegen. Er hob grüßend seine rechte Hand und lief weiter durch die offen stehende Stalltür.

»Entschuldigung«, rief Jessica ihm nach. »Wissen Sie, ob Michael Mühlbrunner oder seine Frau hier sind?«

Der junge Mann blieb stehen, drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. Jessica schätzte ihn auf Mitte 20. Ein gut aussehender Bursche mit blondem Haar, moderner Kurzhaarfrisur, aufgeweckten, himmelblau leuchtenden Augen, einem schmalen Gesicht und sportlicher Figur. Nur der grün-violette Bluterguss an seiner linken Schläfe und die mit Schorf verkrustete Unterlippe trübten das adrette Erscheinungsbild.

»Die Mühlbrunners sind auf dem Wochenmarkt in Oberstdorf. Dort sind sie samstags immer«, sagte er und lächelte höflich. »Aber es ist schon nach 13 Uhr. Sie müssten gleich zurück sein. Wenn Sie warten wollen …« Er wies auf eine Bank, die direkt neben der Haustür in der Sonne stand und mit karierten Kissen dekoriert zum Verweilen einlud. »Soll ich Ihnen einen Kaffee holen?«

»Vielen Dank, ich möchte nichts«, sagte Jessica, nahm jedoch die Einladung an, sich zu setzen. »Wie ist das mit Ihrem Gesicht passiert? Sieht übel aus.«

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ein Unfall auf dem Hof. Das passiert, wenn man nicht aufpasst«, sagte er. »Darf ich fragen, was Sie von den Mühlbrunners wollen?« Er blieb neben der Bank stehen.

»Ich bin von der Kripo Kempten. Mein Name ist Jessica Grothe. Ich habe zwar gestern mit Michael Mühlbrunner gesprochen, doch jetzt habe ich noch ein paar Fragen. Ist Herr Mühlbrunner Ihr Vater?«

»Nein. Ich bin hier angestellt. Maximilian«, stellte er sich vor und reichte der Hauptkommissarin die Hand. »Sind Sie wegen Viktor hier? Michael hat mir erzählt, dass er tot ist.«

»Richtig. Kannten Sie Viktor Weixler gut? Wissen Sie, ob er Feinde hatte?« Jessica rückte auf der Bank etwas zur Seite und lud den jungen Mann ein, sich neben sie zu setzen.

Der blieb lieber stehen. »Er hat hier als Hofhelfer gearbeitet. Genau wie ich. Er war ein netter Kerl. Ich glaube nicht, dass ihn irgendwer nicht mochte«, berichtete er unsicher, schaute zum Horizont in Richtung Allgäuer Alpen und hustete verlegen. »Darf ich gehen? Ich muss noch den Stall ausmisten, bevor Johanna und Michael zurückkommen. Es ist viel Arbeit auf dem Hof, seit Viktor weg ist.«

»Klar«, sagte Jessica. »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Aber eins hätte ich gern noch gewusst.«

Maximilian sah sie an und wartete höflich.

»Ihre Verletzungen stammen von einer Schlägerei, oder?«, fragte sie rundheraus. »Haben Sie sich vielleicht mit Viktor Weixler geprügelt?«

Jessica sah, wie Maximilians Hand zu zittern begann. Erst jetzt bemerkte sie die Verletzungen an seinen Fingerknöcheln. Seine Hände waren aufgeschürft und wund.

Er wollte gerade etwas sagen, als ein Mädchen neben ihn trat und nach seinem Arm griff. »So ein Quatsch. Der Maxi tut keiner Fliege etwas zuleide.« Sie war das genaue Gegenteil von Maximilian und hatte es mit ihrem Aussehen sicher nicht leicht. Ihre Zähne waren schief, ihre Nase zu groß und ihre Augen standen viel zu weit auseinander. Sie hatte mattes, strähniges Haar und extrem dürre und lange Gliedmaßen. Sie war etwas größer als Maximilian, doch ein paar Jahre jünger. Ihr Gesicht glänzte fettig und war blass. »Der Maxi ist ein ganz Lieber.«

»Und wer bist du?«, fragte Jessica das Mädchen, das nun heftig an Maximilians Arm zog. »Bist du auch eine Hofhelferin?«

»Ich bin die Wilma. Wilhelma Mühlbrunner. Ich bin Maximilians Freundin. Wenn ich endlich 18 bin, werden wir heiraten«, verkündete sie stolz.

Maximilian sah erst zu Wilma, dann schaute er die Hauptkommissarin lange an. »Sie hat recht«, sagte er schließlich, drehte sich auf dem Absatz um, lief mit weit ausholenden Schritten Richtung Stall und ließ die beiden Frauen stehen.

Plötzlich packte jemand von hinten Jessicas Oberarm.

»Was machen Sie hier?«, brüllte eine tiefe Stimme direkt hinter ihr.

Geistesgegenwärtig riss Jessica sich los und fuhr herum.

»Hallo, Opa«, hörte sie Wilma Mühlbrunners fröhlichen Singsang. »Das ist Hauptkommissarin Grothe. Sie wartet auf Mama und Papa.« Ohne die Hauptkommissarin anzusehen, ging das Mädchen auf ihren Großvater zu und stellte sich direkt neben ihn.

»Herr Mühlbrunner«, sprach Jessica Grothe den Senior an. »Vielleicht können auch Sie mir weiterhelfen. Können Sie mir sagen –«

»Ich kann Ihnen gar nichts sagen, werte Frau«, blaffte er sie an. »Außerdem ist mein Name Behrbihler. Donatus Behrbihler. Und jetzt verschwinden Sie von meinem Hof.«

»Opa«, säuselte seine Enkelin beschwichtigend. »Du kannst eine Kriminalbeamtin nicht einfach fortschicken.« Dann wandte sie sich an die Hauptkommissarin. »Er ist der Papa meiner Mutter«, erklärte sie. »Und er ist manchmal etwas … verwirrt«, flüsterte sie in Jessicas Richtung, verdrehte die Augen, hob grüßend die Hand und schob ihren Großvater zur Haustür. »Komm, Opa. Zeit fürs Mittagessen.«

9

»Da stimmt etwas nicht.« Jessica stellte ihr Glas auf dem Wohnzimmertisch ab und ließ sich aufs Sofa fallen. »Die beiden passen überhaupt nicht zusammen. Es heißt zwar ›Wo die Liebe hinfällt‹, aber selbst wenn man vom Aussehen absieht – das Mädchen ist viel zu jung für ihn. Ich habe von Herrn Mühlbrunner erfahren, dass Maximilian 27 Jahre alt ist. Wilma ist erst 17.«

»Hast du ihn nach den Heiratsplänen seiner Tochter gefragt?«, wollte Florian wissen und legte die Füße auf den niedrigen Glastisch vor dem Fernsehsessel. Gleich darauf nahm er sie wieder herunter. Der drohende Blick seiner Freundin sagte alles, und er wollte sie gerade heute nicht zu sehr reizen. »Was sagt denn der zukünftige Brautvater dazu?«

»Na ja, so direkt habe ich nicht gefragt«, gab Jessica zu. »Ich wollte dem Mädchen keinen Ärger machen. Sie schwärmt vielleicht nur für den gut aussehenden Hofhelfer. Das wird sich geben, denke ich.«

»Aber dieser junge Mann hat die Hochzeitspläne bestätigt, sagtest du«, bemerkte Florian. »Meinst du, er will nur in einen reichen Hof einheiraten und nimmt dafür auch eine Liaison mit einem kleinen hässlichen Entlein in Kauf?«

»Das glaube ich nicht«, entschied Jessica nach kurzer Überlegung. »Finanziell steht der Hof seit Langem kurz vor der Insolvenz. Vor zwei Jahren ist der Betrieb auf Biolandwirtschaft umgestiegen. Herr Mühlbrunner sagte, spätestens nächstes Jahr müssen sie Gewinn einfahren, sonst sehe es schlecht aus.«

»Dann kann es das Geld nicht sein.« Florian lachte. »Vermutlich hat das Entlein andere Qualitäten, von denen wir nichts ahnen.« Er starrte eine Weile auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers, rieb sich den Nacken und wandte sich wieder an Jessica. »Dein Fall klingt jedenfalls wesentlich spannender als meiner. Wenn der junge Herr Lorenz nicht mein Täter ist, habe ich nichts mehr. Es gibt bisher absolut keinen verwertbaren Hinweis auf andere anwesende Personen im Haus der Michelsbachs. Ein paar fremde Fingerabdrücke zwar, aber die können wir nicht zuordnen. Die könnten auch von einem Nachbarn stammen, der zu Besuch war. Wenn Matteo Lorenz das Ehepaar nicht getötet hat, kann ich den Fall vermutlich nicht aufklären.«

»Beschwere dich beim Chef und nicht bei mir. Götze wollte, dass wir tauschen.«

Die gespielte Strenge in ihren Worten ließ Florian schmunzeln.

Jessica setzte sich auf die Armlehne des Sessels und legte ihre Beine über seine. »Ich hoffe nur, dass Henriette nicht der Grund für den Toten in der Felsspalte ist. Die Kuh wird von allen befragten Personen eindeutig zu häufig erwähnt!«

»Tja, du wirst schon herausfinden, ob die Kuh oder die Ente die Mörderin ist«, bemerkte Florian trocken und legte seine linke Hand auf ihren Oberschenkel. »Wenn ich dir als erfahrener Ermittler einen Tipp geben darf: Ich persönlich vermute, Henriette war es nicht! Bleibt nur noch die Ente.« Er imitierte einen Schnabel mit seiner rechten Hand. »Quak, quak!«

*

Hier im Keller der Gerichtsmedizin war es immer kalt. Das war im Winter unangenehm, doch jetzt bei den unerträglichen Außentemperaturen eine reine Wohltat, trotz des intensiven Geruchs nach diversen Chemikalien, die in der Nase brannten.

»Du kommst spät«, sagte Erwin Buchmann, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. Er tippte hektisch ein paar weitere Sätze auf seiner Tastatur. »Du wolltest schon vor einer Stunde hier sein.«

»Ich weiß. Tut mir leid«, sagte Jessica merklich betreten. »Aber das Essen mit Florian hat länger gedauert als vermutet. Er ist auf die glorreiche Idee gekommen, etwas außerhalb auf einer Wiese ein Picknick zu machen. Herrgott, und das mitten in der Woche und während der Arbeitszeit. Langsam wird er mir unheimlich«, sagte sie mehr zu sich selbst, starrte an dem Rechtsmediziner vorbei auf das Bild einer Allgäuer Kuh an der Wand hinter dem Schreibtisch und dachte angestrengt nach, bis Ewe sie breit grinsend unterbrach.

»Und?«, wollte er wissen.

»Was ›und‹?«

»Was ist passiert? Was hat er gesagt? Und vor allem, was hast du gesagt?«

Er war so aufgeregt, dass Jessica ihn misstrauisch ansah.

»Was ist denn los mit dir, Ewe?«

»Nun sag schon. Hat das Picknick geschmeckt?« Das letzte Wort betonte er ein wenig zu dramatisch.

»Also, wenn du es genau wissen willst«, sagte Jessica und schüttelte irritiert den Kopf, »Florian hat das Picknick ausgepackt und ist dann von einer Bremse gestochen worden. Wir haben fluchtartig die Wiese verlassen, weil es von den Mistviechern dort nur so wimmelte.«

»Scheiße«, entfuhr es Ewe. »Der arme Kerl hat immer Pech.«

»Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht. Immerhin ist er nicht allergisch auf Bremsenstiche. Der soll sich nicht so anstellen. Was ist jetzt mit meiner Leiche? In deinem Bericht stand, Weixler habe sich vor seinem Tod geprügelt und jemand habe ihm später mit einem Stein eins übergezogen.«

Ewe stand auf, kam um den Schreibtisch herum auf Jessica zu und legte ihr eine Hand auf den Oberarm, als wolle er sie trösten. Jedenfalls schaute er sie bedauernd an. »Das stimmt. Der Schlag mit dem Stein war die Todesursache. Ob er später in den Felsspalt geworfen wurde oder nach dem Schlag gefallen ist, ist also nebensächlich. Alle Knochenbrüche, bis auf die Fraktur des Nasenrückens, hat er sich erst nach seinem Tod – vermutlich beim Sturz – zugezogen. Den Nasenbruch gute 24 Stunden früher.«

»Kannst du mir sagen, ob der Schlag sehr heftig war? Kann es eine Frau gewesen sein?«, fragte Jessica und befreite sich von Ewes Hand, die noch auf ihrem Oberarm lag. Was war nur los mit ihm? Hatte ihn der blöde Bremsenstich seines besten Freundes so aus der Fassung gebracht?

»Ich glaube, da reicht auch der sanfte Hieb einer Frau, um derart tödliche Verletzungen hervorzurufen«, sagte Ewe belustigt. »Der Schlag kam schräg von oben. Wenn der Ermordete nicht vor seinem Mörder kniete – was ich nicht mehr rekonstruieren kann –, muss der Angreifer recht groß gewesen sein, um einiges größer als Weixler. Das trifft auf die wenigsten Frauen zu.«

»Hast du wirklich keine fremde DNA gefunden? Es muss doch etwas geben, das einen Hinweis auf den Täter gibt.«

Ewe schüttelte den Kopf. »Nichts. Der Regen hat alle Spuren zerstört. Wir hätten sogar den Stein, der als Mordwaffe diente, nicht eindeutig zuordnen können, selbst wenn wir damals danach gesucht und ihn gefunden hätten. Ein nasser, matschiger Tatort ist immer ungünstig. Allerdings kann ich dir sagen, was der Tote gegessen hat, falls dir das weiterhilft.«

»Das bezweifle ich zwar, aber bitte.«

»Es war Rindfleisch. Vermutlich Filet. Irgendetwas Zartes und Teures. Außerdem Bohnengemüse und Soße mit einem Schuss Wein. Ob rot oder weiß habe ich noch nicht untersucht, weil ich es nicht für wichtig hielt. Aber wenn du willst, lässt sich das sicher feststellen.«

Jessica winkte dankend ab.

10

Das Reihenhaus am Ende der Sackgasse war ein typischer 70er-Jahre-Bau, wirkte aber durch die erst kürzlich ausgetauschten Fenster und die neu gestrichene Fassade gepflegt und einladend. Im Vorgarten blühten zahlreiche Stauden. Die niedrige Buchsbaumhecke war frisch geschnitten und begrenzte das Beet zum Fußweg. Dieser Steinplattenweg führte zum Haus. Er war zwar alt und ausgetreten, doch sauber und kaum mit Moos und Flechten bewachsen.

»Es ist schön, dass ihr gekommen seid«, begrüßte Thomas Glasinger seinen Besuch an der Eingangstür. Der Oberwachtmeister sah in Zivil mit Jeans und T-Shirt bekleidet viel jünger aus als in Polizeiuniform. »Kommt rein.«

»Vielen Dank für die Einladung. Ich weiß, wir sollten nichts mitbringen, aber vielleicht magst du ein gutes Glas Wein«, sagte Jessica und reichte ihrem Kollegen die in buntes Geschenkpapier verpackte Flasche. »Man bekommt nicht jeden Tag so eine Auszeichnung verliehen. Gratuliere!« Sie umarmte den Polizisten und trat ins Haus. »Ist Sylvia im Wohnzimmer?«

»Nein, sie ist heute leider nicht da.« Thomas Glasinger legte seinen Arm um Florian und klopfte ihm kumpelhaft auf den Rücken. »Herein mit dir. Schön, dass du da bist. Du kannst mir gleich beim Grillen helfen. Ein paar Kollegen haben erzählt, deine Grillfeste seien legendär.«

Florian lachte. »Na ja, wenn man sich schon nicht mit seinen Taten als Polizist rühmen kann wie du, dann muss man sich auf andere Art einen Namen machen.«

»Ausgerechnet heute ist Sylvia nicht da. Wie schade. Ich habe mich sehr auf sie gefreut.« Jessica sah enttäuscht aus.

»Ja, leider. Sie musste ganz kurzfristig zu einer Fortbildung«, sagte Thomas und wirkte nervös. »Aber meine Mutter ist auf der Terrasse. Erinnerst du dich an meine Mutter? Sie hat schon nach dir gefragt. Ihr habt euch auf Sylvias Geburtstag im letzten Jahr so gut unterhalten.«

Jessica nickte. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Warum konnte Thomas ihr kaum in die Augen sehen? Sie beschloss, jetzt nicht nachzuhaken, lächelte zaghaft und entschuldigte sich schließlich. »Dann werde ich deine Mutter mal begrüßen.«

Im Wohnzimmer traf Jessica auf ein paar weitere Kollegen und ihren Chef, Dienststellenleiter Götze.

»Frau Grothe, gut, dass Sie da sind. Ihre Unterschrift fehlt noch auf der Karte.« Götze versperrte ihr den Weg zur Terrassentür und wedelte mit einer bunten Klappkarte vor ihrem Gesicht. »Geld für das Geschenk habe ich bereits von Ihnen bekommen.«

»Was haben Sie denn von dem gesammelten Geld gekauft?«, wollte Jessica wissen, nahm den Kugelschreiber entgegen, den ein Kollege ihr reichte, und unterschrieb. Neben ihrer Unterschrift zählte sie mindestens 20 weitere. »Ist es der Gasgrill geworden?«

»Nein«, sagte Götze. »Er hat schon einen. Gut, dass ich nachgefragt habe. Er bekommt einen Baumarkt-Gutschein. Den kann man immer gebrauchen.«

»Aha.« Jessica wusste nicht, was sie anderes sagen könnte. Ein Baumarkt-Gutschein war nicht originell, aber praktisch, da hatte Götze recht.

Florian tauchte neben ihr auf und legte den Arm um ihre Schultern. »Sollte ich jemals eine Auszeichnung von Ihnen bekommen, Herr Götze«, sagte er lachend, »hätte ich gern einen eigenen Dienstwagen oder eine persönliche Sekretärin. Nur für das Tippen der Berichte natürlich«, fügte er schnell hinzu und gab Jessica einen Kuss auf die Stirn.

Sein Vorgesetzter lachte. »Aus welchem Grund sollte ich ausgerechnet Ihnen eine Auszeichnung verleihen? Obwohl ich zugeben muss, dass eine Sekretärin vermutlich sogar eine gute Investition wäre bei Ihren hundsmiserablen Berichten.«

»Machen Sie mir eine Freude und stoßen mit mir an?« Die alte Frau Glasinger hielt Jessica einen edlen Weinkelch mit Goldrand entgegen und nahm ungebeten auf dem freien Stuhl neben ihr Platz. »Ich freue mich so für Thomas. Diese Auszeichnung hätte seinen Vater unheimlich stolz gemacht – Gott hab ihn selig!«

»Er hat es wirklich verdient, Anerkennung zu bekommen. Er hat hart für seinen Erfolg gearbeitet«, erwiderte Jessica, griff nach dem Kelch und prostete der Mutter ihres Kollegen zu. »Auf Thomas!« Sie nippte vorsichtig an dem Rotwein und platzierte das Glas auf dem Tisch neben ihrem Teller. »Das Essen war ganz ausgezeichnet. Haben Sie den Kartoffelsalat gemacht?«

Frau Glasinger schüttelte lachend den Kopf. »Den hat mein Thomas gemacht. Er ist neben all seinen vielen Talenten auch ein ausgezeichneter Koch.«

»Da hat Sylvia mit der Wahl ihres Ehemannes alles richtig gemacht.« Jessica stimmte in das Lachen ein, bis sie bemerkte, dass sich die Miene ihrer Gesprächspartnerin verfinsterte.

»Ja«, sagte Frau Glasinger ernst. »Nur schade, dass sie am Ehrentag ihres Mannes den Kurzurlaub mit ihrer besten Freundin nicht abgesagt hat. Er hätte sich sicher gefreut, wenn auch sie ihm die Anerkennung zukommen lassen würde, die ihm zusteht.«

»Ich dachte, Sylvia sei auf einer Fortbildung?«

»Hat Thomas das erzählt? Der arme Junge. In seiner Ehe kriselt es gerade. Umso wichtiger ist es, dass beruflich alles gut läuft, hab ich recht?« Sie prostete Jessica erneut zu und leerte ihr Glas in einem Zug.

*

»Das war wirklich ein netter Abend«, rief Florian laut, zog sein T-Shirt aus und warf es achtlos auf den Holzstuhl, der in der Zimmerecke stand. »Aber jetzt mal ehrlich. Da bekommt der Glasinger eine Auszeichnung für seine sogenannte Einbruchspräventionsaktion und ich nicht einmal ein freundliches Schulterklopfen. Immerhin kläre ich Morde auf und stehe nicht an einem Infostand, quatsche den ganzen Tag Passanten an und verkaufe Sicherheitssysteme.«

»Är vakaft nöfts«, nuschelte Jessica mit der Zahnbürste und jeder Menge Schaum im Mund. Sie kam aus dem Badezimmer herübergelaufen und blieb in der Schlafzimmertür stehen. »Är barät. Du bichd doch nua neidich.«

»Ich verstehe kein einziges Wort«, lachte Florian. »Ich hätte eben auch gern mal eine Urkunde für gute Leistungen. Und eine Sekretärin!«

Jessica drehte sich um und ging zurück ins Bad. Er hörte Wasser ins Waschbecken laufen.

»Zugegebenermaßen sind die Zahlen, die Götze in seiner Rede vorgetragen hat, wirklich beeindruckend. Thomas’ Arbeit hat tatsächlich Auswirkungen auf die Einbruchsstatistiken im gesamten Allgäu. Nach nur zwei Jahren eine derartige Verbesserung vorzuweisen, ist durchaus lobenswert.« Florian seufzte theatralisch. »Da werde ich mich wohl noch mehr anstrengen müssen.«

»Beruflich oder privat?« Jessica kam zurück ins Schlafzimmer und entkleidete sich ebenfalls.

»Beruflich natürlich.« Er sah sie durchdringend an. »Privat läuft doch alles super.« Da sie nicht reagierte, hakte er verunsichert nach. »Oder?«

»Hast du gewusst, dass Thomas seiner Sylvia vor zwei Jahren einen ganz romantischen Heiratsantrag gemacht hat?« Jessica wirkte abwesend, als würde sie die Worte mehr zur Bestätigung ihrer eigenen Gedanken laut aussprechen. »Er hat sich damals überwunden und ist mit ihr zum Fallschirmspringen gegangen. Du weißt, wie sehr Sylvia dieses Hobby liebt. Für Thomas ist das eigentlich gar nichts.«

»Du findest einen Heiratsantrag während eines Fallschirmsprungs romantisch?«

»Die beiden sind eigentlich ein absolutes Traumpaar.« Sie ignorierte seine Worte und sinnierte weiter: »Was da wohl passiert ist, dass die Ehe jetzt auf der Kippe steht?«

»Wärst du bitte so freundlich, mir meine Frage zu beantworten?« Florian ging um das Bett herum und blieb direkt vor Jessica stehen.

»Entschuldige bitte. Was hast du gefragt? Ich habe nicht zugehört.«

»Rein aus Neugier – nicht, dass ich etwas geplant hätte«, begann er und räusperte sich. »Müsste ein Heiratsantrag für dich … ähm … abenteuerlich oder gefährlich sein wie zum Beispiel Fallschirmspringen?«

Jessica zögerte, setzte sich aufs Bett und zog ihre Socken aus. Florian konnte nicht ergründen, ob sie nachdachte, irritiert war oder angestrengt versuchte, nicht laut zu lachen.

»So ein Quatsch«, sagte sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen. »Aber da ich noch nie den Wunsch verspürt habe, zu heiraten, kann ich diese Frage nicht adäquat beantworten. Wie du vorhin gesagt hast: Es läuft super zwischen uns. Daran sollten wir nichts ändern.«

*

»Das hast du wirklich gesagt?« Paula war entsetzt und beeindruckt zugleich. »Danach war der Abend sicher gelaufen.« Nach vielen Monaten Therapie und einem sechswöchigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung war Jessicas beste Freundin Paula zwar noch nicht ganz die Alte, aber immerhin konnte sie endlich wieder unter Leute gehen. Die Dinge, die sie erlebt hatte, die Todesängste, die sie ausgestanden hatte, waren alles andere als leicht zu verarbeiten. Sie war über einen Monat Gefangene eines Serienmörders und Psychopathen gewesen. Seit ein paar Wochen trafen Paula und Jessica sich regelmäßig in einer gemütlichen Gastwirtschaft. Ein kleiner Erfolg auf dem langen Weg der Genesung, der noch vor Paula lag.

Jessica grinste.

Paula schüttelte lachend den Kopf. »Du willst nicht ernsthaft behaupten, dass nach deiner rüden Abfuhr noch etwas lief? Ich weiß, du redest nicht gern über Sex, aber wie …« Paula griff nach den Händen ihrer Freundin, kam mit ihrem Gesicht Jessicas ganz nah und sah sie eindringlich an. »Wie hast du ihn … überzeugt?«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll.

Jessicas Grinsen wurde immer breiter. »Er ist nach meinem Satz mit hängenden Schultern zurück auf seine Bettseite geschlurft und hat sich wortlos hingelegt.«

»Und?«

»Ich habe einen Zettel aus meiner Nachttischschublade geholt, habe ›Urkunde‹ und noch ein bisschen was draufgeschrieben und ihm den Zettel gegeben. Er wollte doch unbedingt eine haben.«

»Okay. Und dann?«

»Dann habe ich ihm den Zettel wieder weggenommen.«

Paula seufzte. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Auf dem Zettel stand: ›Urkunde für Florian, den besten Liebhaber des gesamten Allgäus‹. Ich habe ihm gesagt, wenn er diese Auszeichnung will, muss er mich überzeugen, dass er sie verdient hat.«

Paula brach in schallendes Gelächter aus. »Herrje, von dir kann sogar ich noch etwas lernen. Und ich dachte immer, du willst ihn auch heiraten.«

»Klar will ich«, sagte Jessica zur Verwunderung ihrer Freundin Paula. »Florian versucht schon seit Wochen, mir einen Antrag zu machen. Aus meiner Sicht war eigentlich klar, dass wir heiraten. Mein Verlobungsring war, wie du weißt, im letzten Jahr in einen Mordfall verwickelt. Jetzt denkt Florian wohl, er müsse mich noch einmal richtig fragen, mit allem Drum und Dran. Ich will ihm den Spaß nicht verderben, verstehst du?«

»Ja, das verstehe ich«, sagte Paula und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Aber ob er sich nach dieser Abfuhr noch traut, dich zu fragen?«

»Klar, er ist doch kein Feigling.« Jessicas Blick fiel auf einen Mann am Tresen, der sich mit einem zweiten Mann unterhielt. »Das ist ja ein Ding«, brachte sie heraus, griff nach ihrem Glas und trank einen großen Schluck Wein. »Die beiden da hinten kenne ich. Ich hatte keine Ahnung, dass die gute Bekannte zu sein scheinen.«

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