Buch lesen: «Tod zum Viehscheid», Seite 3

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»Was schleichst du hier umher?«

Laura fuhr erschrocken herum und stieß dabei einen alten Blecheimer um, der scheppernd über den Pflastersteinboden rollte und schließlich neben dem Haufen aus aufgetürmten Heuballen liegen blieb. Erst dann erkannte sie ihn.

»Ach, du bist es«, flüsterte sie und sah sich verstohlen um. »Bist du allein?«

Simon zog fragend eine Augenbraue hoch, lehnte sich mit der rechten Schulter an den dicken Balken, der das Stalldach stützte, und überkreuzte lässig die Beine. Eine Antwort blieb er ihr schuldig. Stattdessen wiederholte er seine Frage. »Was machst du hier? Hat dein Onkel nicht ausdrücklich verboten, dass ihr Kinder euch im Stall herumtreibt bei Nacht?«

Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Seine Worte kränkten sie. Sie war kein Kind mehr. In ein paar Monaten wurde sie 18 Jahre alt. »Und was machst du hier?«, fuhr sie ihn scharf an. »Bei Nacht arbeiten in einem leeren Stall wirst du wohl kaum. Hast du nicht morgen die Frühschicht im Kuhstall? Alte Männer wie du brauchen ihren Schlaf, also geh besser ins Bett.«

Sein schallendes Lachen hallte durch den Stall. Als er verstummte, sah er sie durchdringend an und flüsterte: »Nur wenn du mitkommst.« Er stieß sich von dem Balken ab, blieb aber daneben stehen und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Langsam senkte er seinen Kopf, ohne sie eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann biss er sich auf die Unterlippe und lächelte.

Laura schluckte.

Seit Simon vor einem Jahr als Stallknecht auf den Hof gekommen war, schwärmte sie für den jungen Mann. Wenn er im Sommer mit freiem Oberkörper vor der alten Pumpe stand und sich zur Abkühlung das Wasser über seine nackte Brust laufen ließ, beobachtete sie ihn oft heimlich durch das geöffnete Fenster ihres Zimmers. Sie wusste, dass sie nicht die Einzige war, die den 26-jährigen Stallburschen anhimmelte. Er hatte viele Verehrerinnen, auf dem Hof und in der Umgebung. Die Mädchen vom Hof hatte er jedoch noch nie beachtet oder mehr als nötig mit ihnen gesprochen. Bisher hatte Laura sich eingeredet, es würde an der Standpredigt liegen, die Onkel Karl dem jungen Mann bei dessen Einstellung gehalten hatte. »Dua deine dappige Bluatsgriffel weg vo meine Föhla«, waren Onkel Karls Worte gewesen. Wenn er von einer Liaison mit einem der Mädchen erfahre, hatte er gedroht, jage er ihn nicht nur vom Hof, sondern prügle ihn auch noch windelweich.

»Ich mag nicht verarscht werden, Simon.« Laura verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn wütend an. »Ich werde nicht eine deiner zahlreichen Eroberungen werden. Du triffst dich hier im Stall nämlich ständig mit irgendwelchen Tussis«, warf sie ihm vor und ging herausfordernd ein paar Schritte auf ihn zu. »Du warst es, der das Feuer hier gelegt hat, oder? Ich hoffe sehr für dich, dass das nur ein Versehen war.« Sie zeigte auf die Pferdebox mit der schwarz verkohlten Wand. »Onkel Karl würde dich sofort feuern, wenn er davon erfährt.«

»Bist du deshalb hier?«, fragte Simon belustigt. »Bist du im Stall, um zu kontrollieren, ob ich mich mit jemandem treffe? Du bist eifersüchtig«, sagte er ihr auf den Kopf zu, kam näher und blieb nur wenige Zentimeter vor ihr stehen. »Ein Feuer habe ich hier weder gelegt noch gelöscht. Ich gehe nun schlafen«, flüsterte er, beugte sich zu ihr hinunter und sah ihr tief in die Augen. »Mein Angebot steht. Wenn du magst, dann begleite mich auf mein Zimmer.«

Als Laura sich blitzschnell umdrehte und fluchtartig den Stall verließ, zuckte er bedauernd mit den Schultern und seufzte. »Schade.«

*

»Forster? Grothe? In mein Büro. Sofort.« Der Kopf von Dienststellenleiter Götze, der eben noch zu sehen gewesen war, verschwand in der geöffneten Tür.

Jessica sah Florian fragend an, doch dieser zuckte nur unwissend mit den Schultern.

»Keine Ahnung, was der will«, sagte er verwundert. »So viel zu spät sind wir heute gar nicht.«

Die Nacht war kurz gewesen, denn bei dem einen Mal, wo der kleine Tobias sich übergeben hatte, war es nicht geblieben. Jessica hatte sein Bett in dieser Nacht ganze drei Mal neu beziehen müssen, während Florian den kranken Jungen beruhigend auf seinem Arm durch das Zimmer getragen und ihm erklärt hatte, er solle den Eimer benutzen, wenn ihm wieder schlecht werde. Leider ohne Erfolg.

In den frühen Morgenstunden hatte auch Svenja über Übelkeit geklagt. Da zurzeit Ferien waren, war das nicht weiter tragisch. Doch nach der schlaflosen Nacht war es Florian und Jessica schwergefallen, aus dem Bett zu kommen, um zur Arbeit zu fahren.

»Hat das mit der Abholung des Dienstwagens geklappt?«, fragte Jessica ihren Chef, als sie wenig später sein Büro betrat und sich ungefragt auf den linken Stuhl vor seinem Schreibtisch setzte.

»Ähm, ja. Alles gut«, sagte Götze abwesend, deutete auf den zweiten Stuhl und forderte Florian auf, sich ebenfalls zu setzen.

»Was gibt’s denn?«, wollte Florian wissen.

Götze lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und faltete die Hände über seinem Bauch. »Ihre jeweiligen Fälle sind noch nicht aufgeklärt, hab ich recht?«

Florian sah kurz zu Jessica hinüber und nickte dann. »Ja, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Sobald mir die Rechtsmedizin mitteilt, dass es sich bei dem Tod des jungen Mannes auf der Alpe um einen tragischen Unfall handelt, ist der Fall abgeschlossen. Ist schon wieder etwas passiert?« Er vermutete einen neuen ungeklärten Todesfall und glaubte, Götze suche nach einem Kriminalbeamten, der den Fall schnellstmöglich übernehmen konnte.

»Nein, darum geht es nicht«, bemerkte Götze und sah zu Jessica. »Es geht um Ihren Fall, Frau Grothe. Ich habe mir erlaubt, die Unterlagen zum Mordfall Michelsbach aus Ihrem Büro holen zu lassen.« Er legte seine Hände behutsam auf den grünen Pappordner vor ihm auf seinem Schreibtisch. Dann griff er danach und reichte ihn an Florian Forster. »Ich habe beschlossen, dass Sie den Fall übernehmen, Herr Forster. Sie geben dafür Ihren eigenen Fall an Hauptkommissarin Grothe ab.«

»Ach ja?«, fuhr Jessica aufgebracht dazwischen. »Etwa, weil der Alphütten-Fall so gut wie abgeschlossen ist? Trauen Sie mir die Aufklärung eines Mordes nicht zu, Herr Götze? Vielleicht, weil Hauptkommissar Kern gerade nicht da ist? Ich protestiere aufs Schärfste gegen diese Entscheidung und bitte Sie, mir meinen Fall nicht wegzunehmen. Ich kann den auch problemlos alleine aufklären.«

»Tut mir außerordentlich leid, Frau Grothe, aber meine Entscheidung steht fest. Sie bekommen den Fall von Forster und er Ihren.« Götze stand auf und lief um seinen Schreibtisch herum. »Die Akte zu Ihrem Fall ist übrigens ganz ausgezeichnet angelegt. Ordentlich, sehr ausführlich und trotzdem übersichtlich und gut strukturiert. Daran sollten Sie sich mal ein Beispiel nehmen, Forster.« Götze lachte etwas zu laut. Weil niemand in sein Lachen einstimmte, verstummte er verlegen, ging zur Tür und öffnete sie. »Nun aber schnell wieder an die Arbeit. Morde klären sich nicht von allein auf.«

»Hast du eine Ahnung, was das soll?« Florian stieg neben Jessica die Stufen zum ersten Stock des Polizeipräsidiums hinauf und hatte Mühe, mit seiner Freundin Schritt zu halten. »Eine Erklärung wäre schön gewesen, findest du nicht?«

»So?« Jessica blieb stehen und fuhr zu ihm herum. »Es hat dich gerade nicht interessiert, warum Götze die Entscheidung getroffen hat. Also brauchst du jetzt auch nicht so zu tun.«

Florian Forster hob beschwichtigend beide Hände und trat vorsorglich einen Schritt zurück. Dass er in der einen Hand den grünen Ordner hielt, den Götze ihm gegeben hatte, war in dieser Situation nicht sehr hilfreich. Jessica starrte den Pappordner mit finsterem Gesicht an, und er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wieso bist du auf mich sauer?«, fragte er leicht verärgert. »Ich habe nichts getan.«

»Genau das ist das Problem. Du tust nie etwas!«, fauchte sie ihn an, drehte sich auf dem Absatz um und stieg weiter die Treppe hinauf.

Florian lachte abfällig. »Hätte ich etwa auch ›aufs Schärfste protestieren‹ sollen?«, äffte er sie nach. Dann seufzte er. »Entschuldige bitte. Das war unpassend.«

Jessica blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihm um. »Schick mir später bitte Berthold mit den Unterlagen zum Alphütten-Mord in mein Büro. Dann kann ich mich in meinen neuen Fall einarbeiten. Falls das überhaupt noch nötig ist«, sagte sie und ließ Florian stehen.

7

Der Himmel verfinsterte sich zusehends. Die Luft war feucht, schwer und drückend heiß. Die Gipfel der Allgäuer Alpen umhüllte eine schwarze Schicht aus turmhohen Gewitterwolken.

Es dauerte nicht mehr lange, bis das Unwetter das Tal erreichen würde, doch noch war es windstill und unerträglich schwül.

»Guten Tag, Kripo Kempten, Hauptkommissarin Grothe«, stellte sich Jessica vor, als die kunstvoll mit kleinen bunten Glasscheiben verzierte Tür sich nach mehrmaligem Klingeln endlich öffnete und eine Frau in einer karierten Schürze ihr gegenüberstand. Jessica hielt der Frau ihren Dienstausweis entgegen. »Frau Rothausen?«

Diese nickte zögernd. Jessica schob ihren Dienstausweis zurück in die Hosentasche und bat darum, eintreten zu dürfen.

»Natürlich. Bitte kommen Sie herein. Was ist denn passiert?« Gertrud Rothausen führte Jessica in die gemütliche Wohnküche. Am großen Esstisch saßen zehn Personen und aßen zu Mittag. Es duftete nach frischem Kartoffelsalat und Würstchen. »Das ist Hauptkommissarin Grothe von der Kemptener Polizei«, stellte sie Jessica vor und zeigte auf den ältesten der Männer am Tisch. »Das ist mein Mann Karl.«

Karl Rothausen sah Jessica missmutig an, legte seine Gabel sorgsam auf dem Tellerrand ab und erhob sich grummelnd. Anstatt die Hauptkommissarin zu begrüßen, blickte er sich langsam in der Runde um. »Wer von euch depperten Trotteln hat die Polizei gerufen? Der kleine Brand in der Scheune ist zwar ärgerlich, aber mit Sicherheit kein Fall für die Kripo. Das klären wir hier schon selbst, werte Frau Kommissarin. Danke, aber Sie können gleich wieder gehen. Dann sind Sie noch vor dem Unwetter zurück in der Stadt.«

»Es hat gebrannt bei Ihnen?«, fragte Jessica verwundert. Sie machte keine Anstalten, die Küche zu verlassen. »War es Brandstiftung?«

Karl Rothausen sank seufzend auf seinen Stuhl zurück und verdrehte genervt die Augen. »Wenn Sie nicht wegen des Feuers hier sind, was wollen Sie dann? Ist eine unserer Kühe stiften gegangen und hat Nachbars Garten verwüstet?«

Einer der jungen Männer am Tisch lachte, verstummte jedoch augenblicklich, als Karl Rothausen streng zu ihm hinübersah.

»Ich habe von dem Älpler Georg Bruchstein erfahren, dass ein Großteil der Rinder auf seiner Alpe von Ihrem Hof stammt. Ist das richtig?«, wollte Jessica wissen.

Karl Rothausen erbleichte und fragte erschrocken: »Ist etwas mit Henriette?«

»Wer ist Henriette?« Jessica sah ihn verwirrt an. »Es geht um den Toten, den wir vor einer Woche auf der Alpe gefunden haben. Wird denn eine Henriette vermisst?« Sie dachte angestrengt nach. In den Unterlagen von Florian war ihr dieser Name nicht untergekommen. Doch Florian war häufig nicht besonders gründlich und ließ für ihn unwichtige Details in seinen Berichten oft einfach weg. Vielleicht hieß die Frau des Älplers Henriette?

Der Gesichtsausdruck des Hausherrn wechselte von Erschrecken in absolutes Entsetzen. »Sie haben einen Toten auf der Alpe gefunden?«, brachte er heiser heraus und sah zu seiner Frau Gertrud hinüber, die beide Hände vor ihren Mund schlug und die Hauptkommissarin angstvoll anstarrte.

»Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wüssten davon. So etwas spricht sich doch eigentlich immer schnell herum«, erklärte Jessica. »Der junge Mann, den wir tot aufgefunden haben, heißt Viktor Weixler. Entgegen unserer anfänglichen Vermutung, er sei in einen Felsspalt gestürzt und tödlich verunglückt, können wir nun mit Sicherheit sagen, dass er ermordet wurde. Deshalb bin ich hier.«

»Aha«, sagte Karl Rothausen nach kurzem Zögern und klang wieder abfällig. Von seinem Entsetzen war nichts geblieben. »Den Herrn kenne ich nicht. Tragisch, dass er tot ist, aber damit hat hier niemand etwas zu tun. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, werte Frau Kommissarin, aber wir würden gern weiteressen. Die Arbeit auf dem Hof macht sich nicht von allein und ein Gewitter zieht auf. Die Tiere müssen in die Ställe.«

Jessica ließ sich nicht so leicht hinauskomplimentieren, bestand auf eine Einzelbefragung aller anwesenden Personen und zog damit erneut den Unmut des Hausherrn auf sich.

Viel Information bekam sie nicht. Die zehnköpfige Gruppe, von denen zwei die Nachbarn der Familie Rothausen waren, schien eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein. Niemand konnte ihr die merkwürdige Reaktion von Karl Rothausen erklären. Niemand wusste Näheres zu dem angeblichen Feuer und niemand kannte Viktor Weixler, den Toten aus der Felsspalte.

Immerhin erfuhr Jessica, dass es sich bei besagter Henriette um eine preisgekrönte Kuh handelte, die zusammen mit ihrem Kalb als einzige Milchkuh den Sommer auf der Kluxhagener Alpe bei Georg Bruchstein verbrachte. Eine der Töchter von Karl Rothausen zeigte Jessica stolz die vielen gerahmten Auszeichnungen von Henriette, die im Büro eine ganze Wand zierten.

Als Jessica nach über einer Stunde schließlich das Bauernhaus verließ, tobte der Sturm direkt über dem Hof. Der heftige Regen peitschte ihr ins Gesicht, und der Wind riss an ihrem T-Shirt, das nach wenigen Metern komplett durchnässt war und ihr unangenehm am Körper klebte. Sie wischte sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht, zog ihren Autoschlüssel aus der Hosentasche, betätigte noch im Laufen die Zentralverriegelung, riss die Tür auf und sprang ins Auto.

Das Smartphone auf dem Beifahrersitz begann im gleichen Moment zu klingeln, in dem die Tür zuknallte. Der Regen schlug so heftig auf das Auto nieder, dass man es unter dem permanenten Dröhnen kaum hörte.

»Was gibt’s?«, rief Jessica ins Telefon und startete den Wagen.

»Himmelherrgott, was ist denn bei dir los?«, hörte sie Florians Stimme. »Bist du auf einem Truppenübungsplatz in einen Hinterhalt geraten und stehst unter Dauerbeschuss? Ich dachte, du wärst auf einem Bauernhof.«

»Es regnet«, sagte Jessica nur und versuchte mit der freien Hand, das nasse T-Shirt bestmöglich zu trocknen, indem sie es anhob und die heiße Luft von der Lüftungsanlage unter das Kleidungsstück blasen ließ. »Was willst du?«

»Kommst du gleich wieder ins Büro? Hier wartet jemand, der mit dir sprechen will.«

»Wer denn?«

»Der Mann heißt Michael Mühlbrunner. Er will sich nach dem Toten von der Alpe erkundigen. Ich konnte ihm nicht weiterhelfen. Hast du inzwischen von Ewe die Todesursache erfahren? Konnte die Rechtsmedizin den Toten identifizieren?«

»Ja, aber das bereden wir später. Jetzt habe ich ein ganz anderes Problem«, sagte Jessica und seufzte verzweifelt. »Ich kann so nicht ins Präsidium kommen und muss erst nach Hause. Ich brauche eine halbe Stunde bis Kempten und mindestens noch einmal so lang, wenn ich nach Hause fahre, um mich umzuziehen. Ich bin durch und durch nass.«

Florian schwieg.

»Hast du mich verstanden, Florian?«, fragte Jessica ungehalten. »Mein T-Shirt klebt an meinem Körper und trieft vor Nässe. So kann ich niemandem unter die Augen treten. Meinst du, dieser Herr Mühlbrunner wartet eine ganze Stunde auf mich?«

Eine lange Pause entstand.

»Hallo? Bist du noch dran?«

Noch immer sagte Florian nichts, doch Jessica meinte, einen Laut zu hören. Es klang wie ein kurzes, unterdrücktes Lachen. Dann wurde es still. Sie hörte ihn förmlich grinsen.

»Kannst du Herrn Mühlbrunner bitten, auf mich zu warten?«, versuchte sie es erneut und wendete das Auto auf dem Hof vor dem Bauernhaus. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Kempten und endlich aus den nassen Klamotten heraus.

»Ach, der wird schon warten. Hast du etwas dagegen, wenn ich auch kurz nach Hause komme? Es wäre mir eine Freude und ein unbändiges Vergnügen, dich in deinem nassen T-Shirt zu sehen … ähm … dir aus dem nassen T-Shirt zu helfen, meine ich.« Jetzt lachte er laut.

»Da habe ich eine bessere Idee«, schlug Jessica vor, lenkte ihren Wagen durch das große Hoftor auf die Straße und gab Gas. »Du scheinst gerade Zeit zu haben. Fahr du bitte nach Hause und hol mir etwas Trockenes zum Anziehen. Wir treffen uns in einer halben Stunde in der Dienststelle.«

»Es ist mir egal, wo wir uns treffen. In jedem Fall werde ich mir die Sache ganz genau ansehen und darauf achten, dass du dich aus- … ähm … umziehst. Ich will schließlich nicht, dass du dich erkältest.«

*

»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, Herr Mühlbrunner. Mein Name ist Hauptkommissarin Grothe. Ich untersuche den Todesfall auf der Kluxhagener Alpe«, stellte Jessica sich vor und reichte dem Mann ihre Hand, der geduldig mit einer Tasse Kaffee in ihrem Büro auf sie gewartet hatte.

»Wer war der Mann, den Sie bei Georg gefunden haben? Wie ist das passiert? War es ein Unfall?«, wollte ihr Besucher wissen, erhob sich kurz von dem Stuhl, auf dem er saß, und erwiderte ihren Gruß. »Haben Sie ihn bereits identifiziert?«

»Viel kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Mühlbrunner. Die Ermittlungen laufen noch«, erklärte die Hauptkommissarin, setzte sich hinter den Schreibtisch ihres Kollegen Kern, der immer noch im Krankenstand war, und sah den Landwirt aufmerksam an. Michael Mühlbrunner war ein großer Mann Anfang 40 mit etwas zu langem, ungekämmtem Haar und einem Vollbart. Von seinem Gesicht war wenig zu erkennen, doch seine dunklen Augen wirkten freundlich. »Von Ihnen würde ich zuallererst gerne wissen, was Sie zu mir führt. Haben Sie Informationen, den Todesfall betreffend?«

Michael Mühlbrunner stellte seine Tasse auf den Schreibtisch und rieb seine Hände an seiner Jeans ab, bevor er sie sorgsam faltete, die Unterarme gegen die Schreibtischkante lehnte und sich vorbeugte. »Meine Familie betreibt einen Hof mit Milchwirtschaft im Oytal in der Nähe von Oberstdorf. Seit ein paar Tagen vermissen wir einen unserer Stallburschen. Zuerst haben wir uns nichts dabei gedacht, denn er war schon öfter mal zwei Tage unentschuldigt nicht da. Aber als wir von dem Todesfall auf der Alpe gehört haben …« Er seufzte. »Jedenfalls machen wir uns große Sorgen.«

»Haben Sie auch Rinder auf der Kluxhagener Alpe?«, wollte Jessica wissen. »Ich habe herausgehört, dass Sie Georg Bruchstein, den Älpler, kennen. Glauben Sie deshalb, es könnte sich bei dem Toten um Ihren vermissten Stallburschen handeln? Wie haben Sie von dem Toten erfahren?«

»Wir kennen Georg sehr gut. Er kommt direkt vom Nachbarhof, wir sind zusammen aufgewachsen«, erklärte Mühlbrunner. »Seine Frau hat uns von dem Unglück berichtet. Unsere Schumpen stehen allerdings auf der Rappenalpe, nicht bei Georg.«

»Schumpen?«

»Sie sind nicht von hier. Das hört man«, stellte der Landwirt belustigt fest. »Schumpen sind Jungkühe, die noch nicht gekalbt haben und deshalb noch keine Milch geben. Um das Oytal und Stillachtal herum steht fast ausschließlich Galtvieh auf den hohen Alpen. In dieser Gegend gibt es fast nur Galtalpen, wenig Sennalpen. Die liegen auch nicht so hoch im Berg. Sennalpen verarbeiten Milch in Käse, aber das Galtvieh gibt ja noch keine Milch«, erklärte er und lachte, als Jessica ihn fragend ansah und anschließend etwas in ihr Smartphone tippte.

»Wie schreibt man …«

»G-A-L-T«, half Mühlbrunner aus. »Einige Älpler haben eine oder zwei Milchkühe und eventuell noch kleine Kälber mit auf ihren Galtalpen. Um etwas Milch für den Eigenbedarf zu haben.«

»Ja, verstehe. Wie Henriette«, stellte Jessica fest und machte sich weitere Notizen. Den Gesichtsausdruck von Herrn Mühlbrunner, der augenblicklich von freundlicher Heiterkeit in ärgerliches Unbehagen wechselte, bemerkte sie nicht.

Erst als er mit verändertem Tonfall fragte: »Henriette ist auf Georgs Alpe?«, schaute sie auf.

»Sie kennen Henriette?«

Michael Mühlbrunner machte eine wegwischende Bewegung mit seiner rechten Hand und brummte: »Jeder in der Gegend kennt Henriette. Mich wundert nur, dass Rothausen sie auf die Alpe schickt. Die Kuh ist doch sein Allerheiligstes.«

»Verstehe«, sagte Jessica wieder, obwohl sie das Gefühl hatte, gar nichts mehr zu begreifen. »Kommen wir zurück zu dem Toten. Wie heißt denn der junge Mann, den Sie auf Ihrem Hof vermissen?«

»Viktor Weixler.«

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