Buch lesen: «Finding home: Zuhause ist ...», Seite 2

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Kapitel 2

Das Problem am Kleinstadtleben war, dass man keinerlei Privatsphäre hatte. Chase stand erst seit zehn Minuten hinter der Theke seines kleinen Smoothieladens Healthy Blends, bis ihn jemand nach dem Neuankömmling fragte. Er hob die Augenbrauen und sah Lanie Kingsleigh fragend an.

»Wie hast du von ihm erfahren?«

Lanie war zwischen sechzig und achtzig. Sie nannte jedem, der fragte, ein anderes Alter, und war eine gigantische Klatschtante. Wenn das Leben eine Runde Stille Post wäre, dann wäre Lanie immer diejenige, die das Spiel beginnen würde. Ihr braun gefärbtes Haar war heute in Locken gestylt. Sie hüpften, sobald sie sich bewegte. »Jacob hat mich angerufen. Er hat aber nicht viele Details verraten.« Sie lehnte sich nach vorn. »Du gibst zu viel Mango rein.«

Chase hielt dabei inne, ihren Smoothie einzugießen. »Du hast einen Mango-Smoothie bestellt«, erinnerte er sie.

»Aber mit wenig Mango. Also, wirst du mir erzählen, wer er ist?«

Chase war sich nicht sicher, wie man einen Mango-Smoothie mit wenig Mango mixte. Er drehte sich um und tat so, als würde er den Smoothie auskippen, um einen neuen zu machen. Lanie verlangte das jedes Mal. »Nein, werde ich nicht«, sagte er freundlich und reichte ihr den Smoothie. »Einen wunderschönen Tag wünsche ich dir.«

Sie schnaubte, zog aber von dannen. Chase betrachtete es als einen Sieg.

Drei Minuten später wurde er wieder nach dem Neuen gefragt, diesmal von einer Mutter aus dem Elternverein, und ab da verselbstständigte sich die Sache. Langsam fragte er sich, ob Jacob, der Tankstellenwart, einen Aushang über Jaden Matthews Ankunft ans schwarze Brett gehängt hatte. Sie wollten wissen, wie er sprach. Hatte er einen Akzent, klang er kultiviert? Was wollte er in Serenity? Sobald alle herausfanden, wer er war, würde der Klatsch explodieren. Denn Jaden … Jadens Ankunft war eine wichtige Neuigkeit. Lily-Anne war in Serenity so etwas wie eine Berühmtheit gewesen. Sie war hier geboren und hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Außerdem hatte sie die Stadtversammlungen geleitet. Es gab hier niemanden, der sie nicht kannte und respektierte. Alle hatten Geschichten über ihren Sohn gehört. Chase war zu spät gekommen, um ihm noch zu begegnen. Lily-Anne hatte ihn als flatterhaft beschrieben. Kaum ist er da, ist er auch schon wieder weg, hatte sie gesagt. Andere waren nicht so nett, beschrieben ihn als Unruhestifter und Loser. Er blieb nicht gerne lange an einem Ort. Als seine Söhne vor all den Jahren eingetrudelt waren, war Lily-Anne ganz aus dem Häuschen gewesen. Genauso wie alle anderen in der Stadt. Nun, da jeder über den Schock hinweggekommen war, war Jadens Ankunft ein gefundenes Fressen. Es gab wieder einen Neuen, den man analysieren konnte. So, wie Chase es verstanden hatte, war Jaden der älteste Enkel. Seine Mutter stammte aus Serenity und war mit Sack und Pack verschwunden, wobei sie Jaden mitgenommen hatte. Er war der einzige Enkel, von dessen Existenz Lily-Anne gewusst hatte. Sie hatte immer gesagt, dass die Ankunft der anderen drei eine freudige Überraschung, ein Geschenk Gottes gewesen war. Eines dieser Geschenke Gottes betrat in diesem Moment den Laden. Die Glocke über der Tür klingelte fröhlich.

Phoenix hatte sein langes, blau gefärbtes Haar zu einem Dutt hochgebunden, sodass man die Piercings in seinen Ohren gut sehen konnte. Sein Nasenring leuchtete im fluoreszierenden Licht auf und er trug eine Katze im Arm. Chase verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass Tiere im Laden nicht erlaubt waren. Er wusste schon, dass es zu nichts führte.

»Wen hast du heute mitgebracht?«, fragte er und begann bereits, Phoenix‘ übliche Bestellung vorzubereiten: einen Erdbeer-Cheesecake-Smoothie.

»Sie hat noch keinen Namen. Ich habe sie gerade in deinem Müllcontainer gefunden.«

Chase griff nach der Milch, goss etwas davon in eine kleine Schüssel und schob sie über den Ladentisch. »Darf ich fragen, was du in meinem Müllcontainer zu suchen hattest?«

Phoenix grinste breit. »Nö.«

Chase hatte nichts anderes erwartet.

Die kleine Katze schnurrte und machte sich über die Milch her, wobei sie Tropfen davon auf der Theke verspritzte. Chase würde alles desinfizieren müssen, wenn sie fertig war. Ihr Schwanz zuckte hin und her, gegen Phoenix‘ Bauch, sodass sie Katzenhaare auf seinem schwarzen T-Shirt verteilte. Sie war zerzaust und dürr, aber abgesehen davon schien ihr nichts zu fehlen. Aus gelben, neugierigen Augen starrte sie Chase an. Ihre Ohren waren unversehrt, sie schien keine Wunden zu haben und ihr fehlten keine Körperteile.

Chase streckte die Hand aus und wartete, bis sie zögerlich daran schnupperte, dann begann er sie unter dem Kinn zu kraulen. »Sie ist süß«, sagte er und lächelte, als sie versuchte, ihm mit ihren scharfen kleinen Zähnchen spielerisch in den Finger zu beißen.

»Willst du sie haben?«

Chase lachte.

»Ich meine es ernst.«

»Deswegen lache ich ja.« Chase hatte früher bereits ein Tier adoptiert und hatte Cleopatra über alles geliebt. Sie war ein Pitbull-Mischling gewesen; man hatte sie als Welpe aus einem illegalen Hundekampfring in Miami gerettet. Chase hatte sie von Hand aufgezogen und sie bei jedem noch so kleinen Problem zum Tierarzt gebracht. Sie hatte in seinem Bett geschlafen und war im Auto auf dem Beifahrersitz mitgefahren. Vor acht Monaten war sie an Krebs gestorben. Chase war nicht bereit dazu, etwas in sein Leben zu lassen, das er wieder verlieren konnte. Er schaffte das nicht mehr. Man liebte etwas und musste es dann wieder gehen lassen. Nein, er hatte genug. Bald würde er dreißig werden und er hatte genug Verluste ertragen müssen. Er kapitulierte. Es reichte schon, dass er so an dieser Stadt und ihren Bewohnern hing. Da brauchte er nicht auch noch einen zwei Kilo schweren Fellball, um den er sich Sorgen machen musste.

Phoenix schnaubte. »Ich überrede dich schon noch.«

Chase lächelte und zuckte ungerührt mit den Schultern.

»Also, erzählst du mir etwas über meinen Bruder?«

»Nun ja, Zane ist …«

»Der Halbbruder, der heute mit dir mitgefahren ist«, unterbrach Phoenix Chase unwirsch. »Ich weiß, dass du Elliot angerufen hast und er ihn beim Haus getroffen hat. Er hat mich angerufen und war komplett mit den Nerven durch.«

»Jaden«, sagte Chase, »dein Halbbruder heißt Jaden. Warum fragst du ihn nicht selbst aus? Und warum macht Elliot sich Sorgen? Jaden wirkt nett.«

Phoenix schwang sich auf die Theke und platzierte seinen Hintern auf der Arbeitsplatte aus Granit, als würde es ihn nicht kümmern, dass er sich hier in einem anständigen Laden befand.

Die Katze schenkte ihm einen missbilligenden Blick, bevor sie sich wieder der Milch widmete. Chases Herz zog sich vor Rührung zusammen.

»Aha. Nett, hm? Elliot meinte, er wolle heute nicht zum Abendessen vorbeikommen. Er ist müde. Elliot hätte gerne, dass wir einen weiteren Bruder dazugewinnen, aber er ist auch realistisch genug, um zu wissen, dass alles Mögliche passieren könnte. Und dann lehnt Jaden gleich die erste Einladung ab. Ja, natürlich macht Elliot sich Sorgen.« Phoenix verzog die Mundwinkel nach unten.

»Das war sicher nicht persönlich gemeint. Elliot macht sich zu viele Gedanken«, sagte Chase. Phoenix hätte das Wort „müde“ auch gleich in Anführungszeichen setzen können. Die Betonung war deutlich gewesen.

»Klar.«

»Er ist die ganze Strecke gefahren. Wahrscheinlich ist Jaden tatsächlich müde.« Er hatte zumindest so ausgesehen. Seine Augenringe waren dunkel und von stattlicher Größe gewesen, seine Miene hatte angespannt gewirkt. Während die anderen drei Brüder immer gelassen blieben, oder zumindest so taten, hatte Jaden verkrampft und gestresst gewirkt. »Ich glaube, er ist prinzipiell eher ein nervöser Mensch.«

Die Katze hatte ihre Milch ausgetrunken. Sie stieg anmutig über die Schüssel hinweg und blieb direkt vor Chase stehen. Erwartungsvoll starrte sie ihn an.

Chase seufzte. Sie miaute. Chase war ein schwacher, schwacher Mann. Er hob sie hoch und drückte sie an seine Brust. Dann ging er zur Ladentür, um das Schild umzudrehen, sodass es nun geschlossen anzeigte. Es war schon nach fünf. Es wären wahrscheinlich ohnehin nicht mehr viele Kunden gekommen.

»Warum denkst du, dass er ein nervöser Mensch ist?«, fragte Phoenix neugierig. »Was verschafft dir den Eindruck?«

Gott, wie sehr Chase diesen Klatsch hasste. »Frag doch Elliot, wenn du ihn später siehst.« Er wiegte die Katze in seinen Armen. »So ein neugieriger Mistkerl«, flüsterte er ihr zu. Chase hatte zu wenig Zeit mit Jaden verbracht, um sich ein Urteil zu erlauben. Auf keinen Fall wollte er Gerüchte in die Welt setzen, die auf reinen Vermutungen basierten. Er konnte sich noch zu gut erinnern, was für ein Chaos nach seiner Ankunft losgebrochen war. Aus irgendeinem Grund waren die Leute zu dem Schluss gekommen, dass Chases Schulterverletzung nicht von einem Autounfall stammte. Das Ergebnis des Stille-Post-Spiels lautete, dass ein verschmähter Liebhaber ihn vom Surfboard geworfen hatte. Dramatisch? Ja. Wahr? Kein bisschen. Chase konnte nicht einmal besonders gut surfen.

»Das habe ich gehört«, sagte Phoenix.

»Du solltest es auch hören.«

Phoenix schlürfte laut seinen Smoothie. Er war ein Arsch und wusste, dass es Chase nervte. Schließlich gab er nach. Er seufzte laut und resigniert. »Also schön. Dann verrat mir eben nichts.«

Chase grinste nur.

Wenn jemals irgendjemand etwas herausfinden und Fragen stellen sollte, würde Chase die Schuld auf seine Mutter schieben. Sie hatte ihm sein ganzes Leben lang eingebläut, wie wichtig es war, sich um andere zu kümmern. Manieren zu haben. Einige Jahre lang hatte er ihre Ratschläge in den Wind geworfen, doch diese Zeiten waren vorbei. Deshalb stand er nun vor Lily-Annes Haus. Mit einem Becher Nudelsalat, einer Schachtel Chicken Wings und sicherheitshalber auch noch einem Becher Käsemakkaroni aus dem nächsten Supermarkt. Was sollte er sagen? Er war eben ein netter Mensch und hatte das Gefühl, dass Jaden heute nicht mehr einkaufen gehen würde.

Es war irgendwie schräg und vielleicht würde Jaden das auch so sehen, also hatte Chase guten Grund, nervös zu sein, als er an der Tür läutete. Es hatte absolut nichts damit zu tun, dass er Jaden gerne wiedersehen wollte. Jaden mit seinen großen, dunkelblauen Augen und seinem Haar, das ihm eine Ähnlichkeit mit George Clooney gab. Sein Gesicht ließ vermuten, dass er Mitte bis Ende dreißig war, aber sein hellbraunes, schon leicht von Grau durchzogenes Haar ließ ihn älter wirken. Jaden hatte einen schlichten Kurzhaarschnitt, nichts Ausgefallenes. Er war nicht besonders groß, vielleicht knapp unter dem Durchschnitt, und recht schlank. Seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten und er hatte hohe Wangenknochen und einen kantigen Kiefer. Objektiv gesehen sah Jaden ziemlich gut aus. Also schön. Er sah besser als gut aus, verdammt gut sogar. Aber das war Chase egal. Er war nicht hier, weil er Jaden scharf fand, sondern weil er ein netter, hilfsbereiter Mensch war. So einfach war das.

Die Tür schwang auf und da stand Jaden und blickte ihn überrascht an. Seine vollen Lippen waren leicht geöffnet und Chase sah dabei zu, wie er sich in die Unterlippe biss und einen Moment daran knabberte.

Chase hielt die Einkaufstüte hoch. »Ich habe dir Essen gebracht.«

»Du hast mir Essen gebracht?«

In diesem Moment fiel Chase ein, dass Jaden beim Essen vielleicht lieber keine Gesellschaft wollte. Irgendwie hatte er angenommen, dass er ihm Gesellschaft leisten würde. Eine gewagte Annahme. Nun stand er hier und wusste nicht, was er sagen sollte, und das war ganz allein seine Schuld. »Phoenix hat mir erzählt, dass Elliot ihm erzählt hat, dass du müde bist. Und ich dachte mir, da du die Stadt nicht kennst, wirst du wahrscheinlich nicht Einkaufen gehen. Ich bezweifle, dass Vorräte im Haus sind. Also habe ich dir etwas mitgebracht.« Er war so nervös, dass er Blödsinn redete. Wundervoll. »Chicken Wings, Nudelsalat und Käsemakkaroni. Ich dachte, irgendetwas davon magst du sicher. Und ich verstehe, wenn du keine Gesellschaft haben willst. Gehört alles dir.«

Jaden griff nicht nach der Tüte, die Chase ihm entgegenstreckte. Er leckte sich über die Lippen und sah zwischen Chase und der Tüte hin und her.

Gleich würde Chase vor Unruhe zu zappeln beginnen.

Jaden fuhr sich durchs Haar und hinterließ Furchen, die sich nur eine Sekunde später wieder von selbst glätteten. Dann trat er einen Schritt zurück. »Komm rein.«

Seine Nervosität ließ nach. Chase trat über die Schwelle mit baumelnder Einkaufstüte. Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht, dass sich das Haus anders anfühlte, nun, da Lily-Anne nicht mehr hier war? Doch die Jungs hatten alles im ursprünglichen Zustand hinterlassen. Die Bilder hingen noch an der Wand, sogar ihre Schuhe standen noch im Schuhregal hinter der Tür. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass sie nicht gleich die Stufen hinunterkommen würde, um ihm Limonade anzubieten. Aus Gewohnheit zog er sich die Schuhe aus und stellte sie oben im Schuhregal ab.

Er folgte Jaden ins Wohnzimmer. Der Fernseher war eingeschaltet, The Big Bang Theory lief gerade und das Gelächter vom Band zerriss die Stille. Ihm fiel auf, dass Jaden noch seine braunen Segelschuhe trug. Sie passten gut zu seiner Khakihose und dem kurzärmeligen Hemd. Chase lächelte. Jaden erinnerte ihn an einen dieser adretten Studenten aus einer Elitehochschule. Fehlte nur noch der lässig über die Schultern geworfene Pullover.

»Wo bist du zum College gegangen?«, fragte er.

»New York University.« Jaden sah ihn an, eine Augenbraue war hochgezogen. »Warum?«

Ja, Chase, warum?

Chase kratzte sich an der Nase. »Ich bin nur neugierig. Du weißt schon, ich mache Smalltalk, versuche, dich kennenzulernen.« Wenn Chase ebenfalls etwas über sich erzählte, würde Jaden dann eins und eins zusammenzählen? Würde ihm klar werden, wer Chase gewesen war? Wäre er damals nicht im Vollrausch in eine Telefonzelle gefahren, dann hätte er ein Star werden können. Doch so hatte er seine zukünftige Footballkarriere ein für alle Mal ruiniert. War es wichtig, ob Jaden es herausfand? Nein. »Ich war an der Texas A&M University.«

»Wie schön«, sagte Jaden. Er klang steif, nicht unfreundlich, aber man merkte, dass er Smalltalk nicht gewohnt war. Oder es war ihm unangenehm. Vielleicht auch beides. Doch es gab kein Anzeichen dafür, dass Jaden seinen Namen kannte. Oder die Schlagzeilen, die nach seinem Unfall in den Zeitungen zu lesen gewesen waren. Irgendwie war Chase erleichtert, obwohl er nicht wusste, weshalb. Es war ja nicht so, als wäre seine Vergangenheit ein Geheimnis. Verdammt, kurz nachdem es passiert war, hatten alle so getan, als wüssten sie mehr darüber als er selbst. Vielleicht redete er deshalb nicht gern darüber.

Jaden stand inmitten des Raumes, als wäre er fehl am Platz. Es gab keinen anderen Ausdruck dafür. Dies hier war nicht sein Zuhause, das war deutlich ersichtlich. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, und es war ihm eindeutig unangenehm, an diesem fremden Ort zu sein. Er machte einen Schritt auf den Fernseher zu, drehte sich um, um nach der Fernbedienung zu suchen, und änderte dann erneut die Richtung, als ob er zur Couch gehen wollte.

Chase verstand. Anscheinend versuchte er sich zu entscheiden, ob er den Fernseher während des Essens ausschalten sollte oder ob sie ins Esszimmer gehen sollten. Er erbarmte sich. »Ich liebe die Serie«, sagte er.

Jaden entspannte sich sichtlich. »Penny mag ich am liebsten.«

»Es ist also okay für dich, wenn wir auf der Couch essen?« Chase aß immer auf der Couch. Er lebte nun schon eine Weile allein. Anfangs hatte er noch am Tisch gegessen, aber dort fühlte er sich so einsam. Es gab ja niemanden, den er beeindrucken musste. Nur in dem seltenen Fall, dass er ein Date hatte, aß er am Tisch. Die Betonung lag auf selten. Er liebte Serenity, aber die Datingoptionen für schwule Singles waren beschränkt.

»Jepp«, antwortete er.

Er war es nicht gewohnt, sich vor anderen Menschen unsicher zu fühlen, egal ob er sie kannte oder nicht. Aber irgendetwas an Jaden machte ihn verlegen. Chase war nie der schüchterne Typ gewesen. Er war immer gut damit klargekommen, im Rampenlicht zu stehen. Der Klassenclown, der König des Abschlussballs, der Quarterback … Chase liebte es, Aufmerksamkeit zu bekommen. Immer noch, auch wenn er jetzt etwas zurückhaltender war. Er gab Kurse im Fitnessstudio und hatte keinerlei Probleme damit, wenn alle ihn ansahen. Er versuchte, sich zu beruhigen und seine ungewohnte Unsicherheit zu überwinden. Also ließ er sich einfach auf die riesige Couch sinken und machte es sich bequem, wie er es immer tat. Wenn er wartete, bis sich Jaden zuerst setzte, würden sie noch die ganze Nacht hier stehen. Chase griff nach der weinroten Couchdecke und legte sie über seinen Schoß. Er stellte das Essen ab und klopfte einladend auf den freien Platz neben sich. »Komm, setz dich. Wo ist eigentlich dein Pferd?« Er würde einfach so tun, als wäre die Situation überhaupt nicht unangenehm. Bis sie tatsächlich nicht mehr unangenehm war. Das war das Lieblingssprichwort seiner Mutter: Fake it till you make it.

Während Chase einfach auf die Couch geplumpst war, lässig und sorglos, setzte sich Jaden überaus vorsichtig. Als würde die Couch gleich explodieren, wenn er nicht aufpasste. Er faltete die Hände im Schoß. Seine Sitzhaltung sah äußerst unbequem aus. »Er ist draußen eingeschlafen. Magneto ist es nicht gewohnt, einen Garten zu haben, in dem er herumlaufen kann.«

Chase bekam schon Verspannungen, wenn er ihn nur ansah. Er schüttelte den Kopf, begann die Tüte auszupacken und stellte das Essen auf den Couchtisch. Er war aus Treibholz. Lily-Annes Lesebrille lag darauf, neben der Schale mit den Muschelschalen. Planten ihre Enkel etwa, aus dem Haus eine Art Schrein zu ihrem Andenken zu machen? Er wandte den Blick ab und sah zu Jaden. Seine Fingerknöchel waren weiß. »Wir werden Teller und Gabeln brauchen«, sagte er. »Und etwas zu trinken. Ich hätte Bier mitbringen sollen, sorry.«

Jaden sah so erleichtert aus, etwas zu tun zu haben, dass Chases Herz einen Schlag lang aussetzte. Tat er das Richtige, wenn er Jaden seine Gesellschaft aufdrängte?

Nun, gehen kannst du jetzt auch nicht mehr. Das wäre verdammt unhöflich.

Jaden kehrte mit Besteck und Tellern zurück. Sie wandten sich dem Fernseher zu und aßen.

Das war eine der unangenehmsten Situationen, die Chase je erlebt hatte. Er hätte schwören können, dass er gleich aus der Haut fahren würde, wenn er nicht etwas sagte. Irgendetwas. Das Essen lag ihm wie ein Stein im Magen. Er hielt etwa sieben Minuten durch, die absolut maximale akzeptable Dauer für Schweigen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. »Also, was machst du beruflich?«, fragte er schließlich.

Jaden balancierte umständlich seine Makkaroni auf der Gabel. Er sah nicht auf, als er antwortete. »Ich bin Steuerberater. Das heißt, ich war Steuerberater.« Er verzog den Mund. »Ich wurde gefeuert. Budgetkürzungen. Eigentlich hätte mein Chef in Pension gehen sollen, dann hätte ich seine Stelle bekommen. Nun, er hat sich anders entschieden«, erzählte er und machte eine ausschweifende Geste, sodass der Teller fast von seinem Schoß fiel. »Aber es ist okay. Ich sehe mich nach etwas Neuem um und werde sicher bald etwas finden. Das ist einer der Vorteile, wenn man eine ordentliche Ausbildung hat.«

»Das klingt wie ein Zitat«, meinte Chase.

Das brachte ihm ein Lächeln von Jaden ein. Nur ein kleines Lächeln, kaum sichtbar, aber seine Mundwinkel bogen sich eindeutig nach oben. »Meine Mom sagt das immer.«

»Und sie hat auch eine ordentliche Ausbildung?«

Jaden nickte und deutete mit dem Kopf auf den Fernseher. »Sie ist biomedizinische Wissenschaftlerin. Deshalb mag ich die Serie auch so gerne: Weil sie mich an sie erinnert. Die Serie ist allerdings lustiger.«

Diesmal musste Chase lächeln. »Meine Eltern haben das auch immer gesagt. Das mit der Ausbildung. Also habe ich Betriebswirtschaft studiert. Ich dachte, das reicht.« Mit achtzehn hatte er es gehasst, dass sie ihn dazu gedrängt hatten, einen Plan B in Betracht zu ziehen. Er war jung gewesen, unbesiegbar. Hatte eine strahlende Zukunft vor sich gehabt, eine Karriere, nach der er sich mit Ruhm und einem Haufen Geld hätte zur Ruhe setzen können. Er hatte die Kurse geschwänzt, nur das Allernotwendigste gemacht. Gerade so viel, damit er im Footballteam hatte bleiben können. Er hatte keinen Plan B gebraucht. Bis er doch einen gebraucht hatte. Nun, zehn Jahre später, wäre er ohne den Abschluss, den er nie gewollt hatte, aufgeschmissen. Der Gipfel der Ironie. »Was wolltest du werden, bevor du vernünftig geworden bist?«

Jaden knabberte auf seiner Unterlippe herum. Chase begann langsam zu verstehen, dass Jaden das immer machte, wenn er nachdachte. Er wartete geduldig, schaufelte das Essen in sich hinein und sah den Bildschirm an, nicht Jaden. Schließlich, als schon die nächste Folge lief, sagte Jaden: »Ich wollte Han Solo sein.«

Chase lachte auf. »Wir sind ja zwei. Ich wollte Indiana Jones sein.«

Das entlockte Jaden ein ehrliches Lächeln. Seine Zähne blitzten auf, Grübchen bildeten sich in seinen Wangen. Chases Herz blieb für einen Moment stehen. Er mampfte weiter, um nicht irrtümlich etwas Unangebrachtes zu sagen.

Entspanntes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, als sie sich wieder auf den Fernseher konzentrierten. Chase erwischte sich dabei, wie er sich auf Jadens Kichern konzentrierte. Er wollte wissen, ob sie dieselben Dinge lustig fanden. Immer wieder sah er aus dem Augenwinkel zu Jaden, um heimlich seinen Gesichtsausdruck zu studieren. Er wirkte schon viel entspannter, die Falte zwischen seinen Augenbrauen hatte sich geglättet und sein Kiefer war nicht mehr so angespannt, als würde er ununterbrochen mit den Zähnen knirschen. Wenn Jaden Chase nervös machte, war es umgekehrt anscheinend zehnmal schlimmer. Er wollte das gerne ändern.

Nach einer Weile begann Jaden, die Werbeunterbrechungen auf lautlos zu stellen, um Chase Fragen über seine Brüder zu stellen. Er sprach nur zögerlich und verknotete die Finger ineinander. Den Blick hielt er meist stur auf den Fernseher gerichtet. »Haben sie Familien?«

Chase lehnte sein Knie in einer beruhigenden Geste gegen Jadens und ignorierte das Flattern in seinem Bauch. »Nein, sie haben nur einander. Sie sind ja auch jünger als du. Elliot ist einunddreißig, er ist der Älteste. Die anderen beiden sind erst Ende zwanzig.«

»Ich sehe also älter aus als einunddreißig?«

Chase brauchte eine Minute, um zu verstehen, dass Jaden ihm nie gesagt hatte, wie alt er war. Er dachte sicher, dass Chase ihn beleidigen wollte. Rasch setzte er zu einer Erklärung an. »Lily-Anne hat von dir erzählt. Sie hat mir gesagt, wann du geboren wurdest, ich habe daher nicht einfach so angenommen, dass du der Älteste bist. Du siehst keinen Tag älter aus als dreißig.« Das war nicht einmal gelogen. Nun, da er nicht mehr so verkrampft dasaß und die Falten auf seinem Gesicht sich geglättet hatten, sah Jaden um Jahre jünger aus als noch vor einer Stunde.

Jaden blinzelte ihn unter niedergeschlagenen Wimpern an. »Hat sie noch etwas über mich gesagt?«

Chase versuchte, sich zu erinnern, durchsuchte fieberhaft sein Gehirn. Lily-Anne hatte einmal gesagt, dass Jaden seinem Vater ähnlicher war, als seine Mom es sich gewünscht hatte … Doch das wollte Jaden sicherlich nicht hören. »Sie war stolz auf dich. Hat sich allerdings oft darüber beschwert, dass du kein Facebook hast.« Er grinste. »Sie hätte ihren Freunden gerne Bilder von dir gezeigt. Und sie hätte gerne Kontakt mit dir gehabt.«

»Ja?«

»Ja«, sagte Chase. Er wartete, bis Jaden die Information verarbeitet hatte, und konzentrierte sich auf eine komplett sinnlose Autowerbung. Sie zeigte Leute, die auf den Straßen tanzten. Aus irgendeinem Grund kam auch ein Elefant darin vor.

Dann ging die Serie weiter. Jaden stellte den Fernseher wieder laut. »Denkst du, sie werden mich mögen?«, fragte Jaden leise.

»Deine Brüder?«

»Halbbrüder.«

Chase legte den Arm um Jadens Schultern. Im ersten Moment verkrampfte sich Jaden, doch dann entspannte sich seine Haltung und er ließ sich gegen Chase sinken. »Es sind trotzdem deine Brüder. Und, ja, ich bin mir sicher, sie werden dich lieben.«

»Okay.«

Nur kurze Zeit später schlief Jaden ein, an Chases Schulter gelehnt. Es war schon nach Mitternacht, als Chase vorsichtig aufstand. Er deckte Jaden zu, ließ Magneto ins Haus und machte sich auf den Weg nach Hause.

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