Romane: Die Kinder von Gairo - Heiliges Blut - Der Kinderdieb

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Vatikan, März 2012

Seit mehr als drei Stunden saßen sie nun bereits in dem Besprechungsraum unweit der päpstlichen Gemächer. Durch das Fenster drang gedämpft der Lärm der Pilger und Touristen auf dem Petersplatz herein, die sich dort mit einer Eselsgeduld in langer Reihe entlang der Kolonnaden für einen Besuch in St. Peter aufstellten um die seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York elf Jahre zuvor eingerichteten Sicherheitsschleusen zu passieren. Neben den Kardinälen Tomaso und Alessandro waren fünf weitere Kardinäle anwesend und diskutierten mit dem Privatsekretär des Papstes zwei Alternativentwürfe für eine neue päpstliche Enzyklika zum Thema Seelsorge. Alessandro war der ganze Zirkus, wie er die Diskussionen um denkbare Veränderungen zu bezeichnen pflegte, zuwider. Selbst die Menschenschlangen auf dem Platz waren ihm ein Ärgernis, der Petersdom verkam zum kostenlosen Museum für heidnische Japaner und Chinesen, die ihm gerade mal so viel Bedeutung zumaßen, wie dem deutschen Kitschschloss Neuschwanstein oder dem profanen Eiffelturm in Paris, die sie wahrscheinlich beide noch am nächsten Tag abklappern würden. Würde man einen katholischen Taufschein als Eintrittskarte verlangen und den Dom nur zum Messbesuch öffnen, würde dies als eine Art Renaissance der von ihm vermissten elitäreren und herausgehobeneren Stellung der Kirche gerecht werden. Als sich dann auch noch Tomaso meldete und die Möglichkeit einer Aufhebung des sich nicht aus Jesu überlieferten Worten ableitbaren Zölibats in den Raum stellte, stieg zunehmend Ärger in Alessandro auf. Der Ärger steigerte sich zur Wut, als Tomaso auch noch den Versuch unternahm, das Abendmahlsverständnis der Wandlung von Wein in Blut naturwissenschaftlich in Abrede zu stellen. Als er zuletzt Tomaso erklären hörte, dass er auch aus theologischer Sicht einen zwingenden Sinn und Grund in Bezug auf Gottes Wort und Lehre für die gegenwärtige Abendmahlstheorie vermisse, verwandelte sich Alessandros Wut in blinden Hass. Tomaso hinterfragte all diejenigen Dinge, die nach seiner Vorstellung für die Existenz einer machtvollen Kirchenhierarchie und letztlich auch für seine eigene, mit unendlicher Freiheit und Einfluss versehene Stellung, unabdingbar waren. Obwohl er es seit vielen Jahren in der Kurie immer wieder mit deutschen Amtskollegen zu tun hatte, - verstehen würde er sie wohl nie. Warum mussten sie immer alles geregelt wissen, warum wollten sie für alles eine Norm, die ihnen etwas erlaubte? Er selbst hatte damit nie ein Problem, er verstand es, die gottgegebene, insgeheim meinte er damit kirchengegebene, Ordnung nicht nur zu akzeptieren, sondern auch überzeugt gegenüber oder gegen die Millionen Katholiken zu vertreten. Die Deutschen aber, nur Ärger bereiteten sie ihm. Das Zölibat abschaffen – warum eigentlich? Nie hatte er damit ein Problem, längst hatte er sich, treu auf den Spuren großer Borgia-Päpste wandelnd, mit dieser in jungen Jahren ihm aufoktroyierten Bestimmung abgefunden. Nicht nur abgefunden, sondern eigentlich sogar als positiv angenommen: Gläubiges Vergnügen ohne irdische Verantwortung. Kürzlich träumte er sogar schon davon, dass auch Galileo Galilei ein deutscher Wissenschaftler gewesen wäre: Stur seine Theorie mit der sich um die Sonne drehenden Erde verfolgend, eine amtliche Bestätigung erwartend, typisch deutsch. Dabei war er überzeugt, dass seine Amtsvorgänger vor fast vierhundert Jahren längst die Sache mit der Sonne erkannt hatten. Letztlich ging die Sonne morgens auf und abends unter, warum sollte man dafür alte Lehren ändern?

Am meisten ärgerte Alessandro, dass all die modernistischen Kräfte nun in Kardinal Tomaso einen aufgeschlossenen Zuhörer zu finden scheinen. Dabei war doch Tomaso einer seiner Landsleute, ein Italiener, auf die er sich bisher immer hatte verlassen können. Tomaso war ihm rätselhaft, seine Ernennung zum Kardinal hatte selbst ihn überrascht, er hatte zuvor von Tomaso weder etwas über den bloßen Namen hinaus gehört noch ihn vor seiner Kardinalsweihe im Petersdom jemals gesehen. Aufgefallen waren ihm bei jener Feier aber gleich seine markanten Gesichtszüge, er wusste nur nicht, an wen sie ihn so stark erinnerten. Aber mit seinem jüngst erworbenen Wissen war ihm dafür wieder ein Mehr an Macht entstanden …

Als sich das Gremium schließlich vertagt hatte, zischte er beim Hinausgehen Tomaso ein „Bastard“ entgegen und nutzte damit zum ersten Mal diese vor einigen Tagen erlangten Informationen über den Eintrag „unehelich geboren“ in Tomasos Personalakte aus. Die entsprechenden Details hatte ihm eine noch unverheirateten, etwas unscheinbare und nicht mehr ganz taufrischen Büroangestellte der Vatikanverwaltung verraten, mit der er dafür fast jede zweite Woche eine Nacht verbrachte. Für die ihn anhimmelnde Angestellte ein Lichtblick, für ihn nur Mittel zum Zweck. Seine eigenen „Sonntage laetare“ verschaffte er sich dagegen mit einer knapp zwanzigjährigen Postangestellten der Vatikanischen Post, die er per Zufall einmal beobachtet hatte, wie sie einen zwanzig-Euro-Schein aus der Kasse genommen und in ihre Jackentasche gesteckt hatte und die ihm seither zwiespältig zwischen Angst, Bewunderung des alten, aber noch lebensfrohen und kraftvollen Kardinals und Erwartung kleinerer und größerer Zuwendungen in allen Bereichen zu Diensten war.

Kardinal Tomaso Soru zuckte zusammen. Mit niemandem im Vatikan hatte er bisher über seine Herkunft gesprochen, von seiner Schwester, die ebenfalls im Vatikan wohnte, ihm den Haushalt führte und stundenweise in der Registratur der vatikanischen Bibliothek tätig war, einmal abgesehen. Lange rätselte er danach, was und wie viel Alessandro über seine Abstammung wusste. Wusste er weniger als er selbst oder vielleicht sogar mehr? Der Gedanke an die letzte Möglichkeit beschäftigte ihn in den nächsten Tagen immer wieder. Natürlich wusste er, dass er unehelich geboren wurde. Vor vielen Jahren hatte er, damals noch Schüler, auch einmal in einer Familienbibel seiner Mutter Eleonora, auf deren Namen auch seine Schwester getauft war, einen Brief eines kranken, sich versteckenden Mannes namens Giovanni an seine Mutter gesehen. Der Brief war offensichtlich von einem Liebhaber geschrieben. Heute würde er ihn genauer lesen, damals gebot ihm sein noch kindliches Gewissen, den Brief nicht weiter zu lesen und das Buch schnell ins Regal zurückzustellen. Er nahm sich vor, gelegentlich Nachforschungen zu seiner eigenen Herkunft anzustellen, dann zugleich aber auch über Alessandro. Trotz seiner tief christlichen Grundeinstellung konnte er, der sich nach dem Besuch eines kirchlichen Internats und Theologiestudium schnell in der sardischen Kirche einen guten Ruf und bekannten Namen erarbeitet hatte, nicht verhindern, dass sich irgendwo in seinem Innern der immerhin alttestamentarische Grundsatz „Auge um Auge“ einnistete. Nach einigen Jahren Priester in Tortoli war er zunächst Weihbischof in Nuoro geworden. Aus dieser Zeit stammte auch sein Wahlspruch „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“ (Joh 1,1), dem er auch in seinen späteren Ämtern als Bischof von Cagliari und schließlich als Kurienkardinal in Rom treu verhaftet geblieben war. Die Umsetzung seiner Nachforschungsüberlegungen musste aber zunächst noch zurückstehen, zu sehr war er gegenwärtig in seinem Amt auch zeitlich gefordert.

Bei Alessandro dagegen sah der Tagesablauf anders aus. Studien betrieb er schon lange nicht mehr, sein Einfluss basierte nicht auf der Kraft des Wortes und der hinter ihm stehenden Gedanken, sondern allein auf einer über viele Jahre gefestigten Machtstellung, die auf intimste Kenntnisse, Schnüffelei, Intrige, Verrat und Erpressung aufgebaut war.

So war es nicht erstaunlich, dass er noch am gleichen Tag seine ältere Informantin aufsuchte, eine lieblose Stunde mit ihr verbrachte und dafür die Zusicherung erhielt, ihm bis zum nächsten Abend den Geburtsort von Tomaso mitzuteilen. Mit diesem Wissen und einem offiziellen Brief wandte er sich dann am Tag darauf mit der Bitte um umfassende Auskunft an die Gemeindeverwaltung von Gairo/Sardinien als dem Ort, den er als Geburtsort erfahren hatte. In seinem kühnsten Tagtraum sah er bereits einen schriftlichen Beweis dafür vorliegen, dass Tomaso vielleicht gar von einem Heiden oder Muslim gezeugt worden sein könnte.

Einige Tage später spielte ihm der Zufall, genauer seine in gewissen Kreisen über die Mauern des Vatikans hinaus bekannte Skrupellosigkeit und seine jahrzehntelange Stellung als Aufsichtsrat der Vatikanbank IQR, zudem eine Trumpfkarte in Form eines USB-Sticks in die Hände. Hauptmann Urs Bodenmann von der Schweizer Garde hatte ihn direkt nach der Wachschicht und noch in seiner goldgelb-rot-blauen Uniform in seinem Büro aufgesucht und ihm nach der Zusicherung, dass dieses Gespräch einer Beichte gleich nur Gott, aber keinem Menschen bekannt werden würde, ein Anliegen vorgetragen. Sein Bruder war Buchhalter in einer Züricher Privatbank, habe in Baden-Baden im Spielcasino einen siebenstelligen Betrag gewonnen und wolle diesen nun nicht unter den Augen neidischer Kollegen bei der eigenen Bank, sondern sozusagen incognito im Ausland anlegen, wobei ihm im Gespräch mit einem Vertreter der Spielbank die Vatikanbank genannt worden wäre. Man solle seinen Bruder aber nicht direkt kontaktieren, man wisse heute ja nicht mehr, ob nur der amerikanische oder auch der deutsche Geheimdienst mithöre. Er habe aber eine Handynummer eines prepaid-Mobiltelefons des Casinomitarbeiters, der ohnehin gerade in Rom Urlaub mache und der gerne bereit wäre, sich mit ihm wegen der Details zu treffen. Alessandro wäre kein Mann und echter Moretti gewesen, wenn er nicht sofort das Treffen arrangiert und dabei auch auf den ersten Blick erkannt hätte, dass der Casinomitarbeiter, der sich mit leicht bayerischem Akzent als „Herr Friedrich, Hans-Peter Friedrich“ vorgestellt hatte, mit Sicherheit für einen der zahlreichen und wuchernden deutschen Geheimdienste arbeitete und dabei zwar mit viel Geld um sich werfen konnte, aber wohl doch eher nicht als Geldbote für Hauptgewinne im Glücksspiel, sondern als Überbringer eines Lohns für trübe Machenschaften. Dies wiederum konnte Alessandro nicht aus seiner Bahn als kirchlicher Würdenträger werfen, sondern drängte ihm geradezu die Pflicht auf, einen Teil des „Hauptgewinns“ als Spende für kirchliche Zwecke, d.h. konkret für Zwecke des Kardinals, einzufordern. Alessandro war angesichts des Berufs von Bodenmann schnell klar, dass die Gegenleistung Bodenmanns für Friedrichs „Hauptgewinn“ wieder einmal eine CD mit Bankdaten sein sollte. Alessandro verabscheute die deutschen Finanzminister nicht wegen ihrer Geldgier, die offensichtlich jeden Glauben an einen Rechtsstaat ad absurdem führte, sondern wegen der pharisäerhaften und heuchlerischen Art, mit der sie damit prahlten. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, selbst an diesem Geschäft, das Friedrich augenscheinlich viel wert war, zu profitieren; so gelang es ihm, von Friedrich auch noch eine – wenn auch ältere Version des sogenannten „Bundestrojaners“ auf einem USB-Stick als Dreingabe dazuzuerhalten. Im Gegenzug veranlasste er dann die Eröffnung eines Kontos und die beleg- und datenlose Einzahlung durch Friedrich, den er am Schalter nur als persönlich bekannten Spender kurz vorstellte. Der Bundestrojaner konnte ihm in seinem Kampf gegen widerstrebende Kardinalskollegen vielleicht noch gute Dienste erweisen.

 

Bereits am Tag nach der Sitzung stellte er das Pferd vor Trojas Mauern, genauer gesagt in Tomasos Rechner, auf, indem er der Mail mit dem gestrigen Protokoll den verborgenen, sich nach Ankunft selbst entpackenden und installierenden Virus, beifügte. Nur wenige Minuten später wiederum blinkte sein Monitor kurz auf, um dann den Blick auf eine uninteressante E-Mail Tomasos an einen Studienkollegen freizugeben. Das Spiel mit dem gläsernen Tomaso begann ihm Spaß zu machen.

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Volemus et ordinamus qui si alcunu homini reeret over teneret femina alcuna coyada palesamenti cun sa cali averet ad faghere canalimente contra a sa voluntadi … (Kap. 23, Carta de Logu)

Rom, 16. April 2012

Die Tage nach ihrer Rückkehr aus Venedig waren nicht Giulias Tag. Dunkle Regenwolken zogen vom Meer her über die Stadt. Selbst die Ostertage brachten keine Verbesserung. Als dann auch noch die städtischen Busfahrer streikten, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit Regenmantel und Schirm auf den Weg zur Universität zu machen. Zuvor legte sie noch eine mehrreihige Kette mit erbsengroßen Perlen in allen Farben an. Auch wenn sie damit auf ihrem weißen Shirt etwas Farbe in den trüben Tag gebracht hatte, es war letztlich wie die Sache mit dem Mond: Auch er strahlte nicht selbst, sondern benötigte viel Sonnenlicht für seinen nächtlichen Glanz. Aber auch auf dem Weg zur „La Sapienza“ hatte sie kein Glück: Das „Sole Romano“ war wegen eines neuerlichen Schauers von Trockenheit suchenden, aber selbst mit tropfenden Regenschirmen nur Feuchtigkeit in das Lokal bringenden Gästen überfüllt.

In Caparellis Vorlesung fehlte Claudia. Ihr Körper hatte, wie Giulia am Telefon von ihrer lachenden Kollegin erfuhr, auf die Unbilden der Natur mit einem besonders tiefen und langen Schlaf reagiert, aus dem sie erst durch den Anruf geweckt wurde. Für die Vorlesung war es jetzt aber bereits zu spät. Zum Abendessen hatten sich bei ihr Onkel Tomaso und Tante Eleonora angekündigt; sie wollte in ihrer kleinen Kochecke eine Lasagne zubereiten, Tomaso hatte von einem trockenen Rotwein aus der Toskana gesprochen, den er mitbringen wollte. Kurzerhand lud Claudia auch noch Giulia ein, ihre Verwandten hätten sicher nichts dagegen, ihre Freundin kennen zu lernen.

Die Vorlesung selbst ging heute nur schleppend vorüber. Der in den letzten Wochen spritzige und gekonnte Vortrag über Entstehung, Inhalt und Bedeutung der Carta de Logu war einer für Giulia langweiligen Sprachanalyse einzelner Textstellen und des Einflusses der lateinischen Elemente auf die sardische und italienische Sprache gewichen.

Giulia beschloss, das Gelände der „La Sapienza“ zu verlassen und in der Via del Tritone und ihren Seitengassen nach einem passenden Geschenk für Claudia zu suchen. Wegen des zunehmenden Windes verwarf sie schnell den Gedanken an Blumen und zog sich in eine größere, auch anspruchsvollere Bücher führende Buchhandlung zurück. Es dauerte dann fast zwei Stunden, bis sie in einer erst halb geöffneten Schachtel vor einem Regal mit landesgeschichtlichen Werken den gerade erschienenen Bildband „Sardegna: Capoterra Anni 50“ von Mariapina Marcia mit eindrucksvollen Fotographien, allesamt in den 50er-Jahren im sardischen Geburtsort der Photographin, Capoterra bei Cagliari, aufgenommen und eine für Giulias Generation schon fast historische Zeit abbildend, gefunden hatte.

Nachdem sich Giulia in ihrem Apartment umgezogen hatte, war sie, der Regen hatte endlich aufgehört, zur Haltestelle am Corso Vittorio Emmanuele gegangen, wo sie allerdings in den immer wieder noch auffrischenden Windböen fast eine halbe Stunde auf den Bus der Linie 916 warten musste. Jedes Mal wenn wieder ein Bus einer anderen Linie abgefahren war, spielte sie verärgert mit dem Gedanken, dann doch gleich zu Fuß zu gehen. Mit der Begründung, dass dann das ganze bisherige Warten umsonst gewesen wäre, verwarf sie diese Überlegung jedes Mal von neuem, hauptsächlich allerdings aufgrund ihrer groben Schätzung, dass der Weg zu Fuß auch bei sportlicher Gehweise in nicht unter 30 Minuten zurücklegbar sein würde. Als sie dann endlich im Bus saß, fuhr dieser zunächst über die Tiberbrücke und dann – ein kurzes Stück der Grenze zum Vatikan folgend - direkt die langen Kurven der Via Gregorio VII hoch zu Claudias Adresse.

Es begann an diesem wolkigen Abend bereits zu dämmern, als der Bus die letzten Meter der mehrspurigen, mittig mit einer Busspur versehenen Via Gregorio VII vor der Haltestelle bei Claudia hinaufdröhnte. Die alten Palazzi und stattlichen Jahrhundertwendegebäude waren längst beidseitig eher hässlichen Plattenbauten gewichen, in deren Erdgeschoss sich meist wenig einladende Geschäfte befanden, über denen mehrere Wohnetagen in den nur dünn gemauerten trist-grauen Häusern lagen. Beim Blick aus dem Busfenster überkam Giulia für einen kurzen Augenblick ein warmes Dankbarkeitsgefühl gegenüber ihrem Großvater Paolo Fasano, der ihr ein so vielfach schöneres Wohnen hinter der Piazza Navona ermöglichte.

Sie drückte die rote Stopptaste, hörte im Unterbewusstsein die freundliche Computerstimme, die die nächste Haltestelle ansagte, und stieg aus. Nach wenigen Schritten stand sie, es war gerade 19 Uhr geworden, vor der gläsernen Haustür, die zwischen einem Computergeschäft und dem Verkaufsraum eines Sanitärbetriebs in einen halbdunklen Flur führte, von dem neben einer kaum zu überschauenden – spontan zählte sie elf mal vier Hausglocken - Klingelanlage ein Treppenhaus in die Wohnetagen führte. Erst nach längerer Suche fand sie den Name Soru auf dem zweiten Namensschild der dritten Reihe. Noch bevor sie nach dem Drücken des Klingelknopfes ihren Namen sagen konnte, wurde die Tür zum Treppenhaus mit einem knirschenden Summton freigegeben. In der dritten Etage angekommen, blickte sie ratlos in drei lange Flure, bis sie, fast am Ende des linken Flurs, Claudia aus einer der Türen winken sah. Giulia und Claudia begrüßten sich mit einer freundschaftlichen Umarmung, und nachdem die Tür geschlossen war, konnte Giulia auch ihre Regenjacke an einen der hinter der Tür befindlichen Messinghaken hängen und das mitgebrachte Buch über ihre Heimatinsel an Claudia überreichen, die sich sehr darüber freute.

Nun erst nahm sie wahr, welch überdeutlicher Gegensatz zu ihrem Apartment vor ihr lag: Gleich neben der Eingangstür befand sich eine ehemals gelb lackierte, höchstens einen halben Meter breite Tür, die – wie sie später am Abend noch sehen konnte – in ein winziges Bad mit Toilette führte. Einen Schritt weiter stand sie im einzigen Raum der kleinen Wohnung. Auf einem wenig ansehnlichen, braunen, sich teilweise wellenden PVC-Boden stand links ein Bett, das – was Giulia sogleich bemerkte – liebevoll mit einer geschmackvollen Tagesdecke und fünf kleinen Kissen im gleichen Design für diesen Abend zu einem Sofa umfunktioniert worden war. Vor dem Sofa stand ein Tisch, gegenüber zwei kleine Holzstühle. Neben dem Sofa, sozusagen in Verlängerung des kleinen Bades, befand sich eine kleine Kochecke, immerhin mit Kühlschrank, Backofen und Herd ausgestattet. Dass in der Kochecke ein Spülbecken fehlte, begriff sie erst dann richtig, als sie im Bad auf dem untersten Boden eines kleinen Hängeregals, einen Abtropfständer für Geschirr sah. Die dem Sofa gegenüberliegende Wand war fast ganz mit Schrank und Regal bedeckt, so dass es ausreichte, die seit Jahrzehnten langsam ergraute Tapete auf der Sofaseite durch drei riesige Poster mit sardischen Traumstränden zu verdecken. Gegenüber der Eingangstüre befand sich schließlich ein zweiflügliges Fenster zur Straße hin. So eng und unrenoviert die Wohnung, im Grunde genommen das Zimmer auch war, alles war glänzend sauber und mit viel dekorativer Mühe in einen doch recht gemütlichen Raum verwandelt worden.

Claudia bemerkte Giulias forschenden Blick und auch ihr Erstaunen. Fast entschuldigend begann sie zu erklären, wie froh ihr Vater Enrico, mit dem sie bis zu Giulias Ankunft telefoniert und ihm zum Geburtstag gratuliert hatte, war, als er für sie diese Wohnung gefunden hatte, deren Miete zwar im Vergleich zu anderen Wohnungen relativ niedrig, für ihn mit seinem Lehrergehalt aber nur dank ziemlich vieler Nachhilfestunden bezahlbar war. Giulia war ihr erkennbares Staunen sehr unangenehm. „Oh Claudia, du musst mir nichts erklären. Mir wurde nur gerade überdeutlich, welch eigentlich unverdientes Glück ich hatte, dass mir mein Großvater das Apartment zum Studieren überlassen hat!“ entgegnete sie fast beschämt.

Die anderen beiden Gäste waren noch nicht angekommen. So konnte Claudia, während sie gemeinsam am einzigen Tisch Tomate und Thunfisch für eine Vorspeise vorbereiteten, ausführlich schildern, dass die Wohnung dem Sanitärunternehmer im Erdgeschoss gehöre, der die Jahre mit mehrfach jährlich wechselnden Regierungen und einer dabei erlahmten Verwaltung genutzt hatte, das ganze Haus mit einem neuen Rohrnetz zu versehen, das es ihm ermöglichte, jedes einzelne Zimmer der ursprünglich großen Vierzimmerwohnungen im Haus in eine neue, winzige Einzimmerwohnung zu verwandeln.

Nach Fertigstellung der Vorspeise begann Claudia damit, auf einer frisch gebügelten weißen Tischdecke das ebenfalls weiße Geschirr zu decken, zwei Gedecke vor dem Sofa, zwei vor den beiden Stühlen auf der anderen Tischseite. In die Tischmitte stellte sie einen silberfarbenen Leuchter mit drei Kerzen. Als sie Giulias nach dem Anlass dieses Tischschmucks suchenden Blick wahrnahm, erläuterte sie ihr, dass heute nicht nur ihr Vater Enrico, sondern auch dessen Geschwister, ihr Onkel Tomaso und Tante Eleonora, die immer noch nicht eingetroffen waren, wieder ein Jahr älter werden würden: „Jedes Geburtstagskind hat eine Kerze verdient, auch wenn es Drillinge sind!“

Draußen vor dem Fenster war es längst dunkel geworden und die bis dahin ununterbrochenen Lichterketten des Feierabendverkehrs hatten bereits spürbar weniger werdenden, einzeln wahrnehmbaren Autolichtern Platz gemacht. Die Wohnung wurde schon mehr und mehr vom würzigen, zugleich milchig-cremigen Geruch einer in diesen Minuten durchgegarten Lasagne im Backofen durchzogen, als ein Klingelton erklang. Kurz darauf standen Tomaso und Eleonora in der Tür, umarmten Claudia, die ihnen zugleich alles Gute wünschte und streckten dann auch schon Giulia die Hand entgegen. „Kleider machen, um Gottfried Keller zu zitieren, Leute“, sagte Tomaso, nachdem er seinen unauffälligen schwarzen Anorak an die Innenklinke der Wohnungstür gehängt hatte und nun in Jeans und graublauem Hemd vor Giulia stand, „und heute Abend machen sie keinen Kardinal, sondern nur einen Tomaso“, „der zudem heute Geburtstag hat und dem ich hiermit herzlich gratuliere“ ergänzte Giulia den Satz. Nachdem Tomaso zum Fenster durchgegangen war, konnte Claudia auch ihrer Tante Eleonora während einer Umarmung gratulieren und auch Giulia schloss sich den guten Wünschen an. Obwohl Eleonora und Tomaso gleich alt waren, wirkte Eleonora mit ihrem schon angegrauten Haar und in ihrem ebenfalls grauen Kleid deutlich älter als Tomaso mit sonnengebräunter Haut und kerzengeradem, aufrechtem und federndem Gang.

Während Tomaso und Eleonora auf den beiden Stühlen Platz nahmen und Tomaso einen Chianti rufina des Guts Selvapiana nördlich des am Ufer des Arno vor Florenz liegenden Städtchens Pontassieve sorgfältig entkorkte und jeweils zwei Finger hoch in die bauchigen Rotweingläser fließen ließ, richtete Claudia ihm und Eleonora von ihrem Vater Enrico als drittem Geburtstagskind dieses Tages an die beiden Geschwister aufgetragenen Glückwünsche aus, die diese dankend annahmen und erwiderten. Lange schon hatten sich die drei Geschwister nicht mehr gesehen, zu teuer war die Überfahrt für Enrico, zu knapp die Zeit für Tomaso und Eleonora. Während Tomaso so gedanklich bei seinem Bruder Enrico war, huschten vor seinem inneren Auge verschwommen Bilder aus längst vergangenen Zeiten vorbei, auf denen er sich und Enrico in immer neuen Situationen in der strengen kirchlichen Internatsschule des Vinzentinums in Brixen sah. Mit elf Jahren waren sie, von den Lehrern meist aufgrund ihrer aus Südtiroler Perspektive fast exotischen Herkunft als die „Kinder von Gairo“ genannt, dort angekommen. Irgendjemand hatte ihre Mutter davon überzeugt, vor allem wohl durch die Zusage, die Internatskosten zu übernehmen, bei gleichzeitigem Entfall der laufenden Unterhaltskosten zu Hause. Dass er zusammen mit seinem Bruder Enrico dort nicht nur in der italienischen Muttersprache unterrichtet wurde sondern zugleich auch die lateinische und deutsche Sprache erlernen konnte, war ihm nun im Vatikan, speziell in seiner Zuständigkeit im Gespräch mit deutschen Bischöfen von großem Vorteil.

 

Während die fröhliche Runde nach der Vorspeise die Lasagne genossen, gab auch Tomaso, vielleicht lag es auch an der inzwischen zweiten Flasche Wein, seine anfängliche Zurückhaltung im Gespräch auf, nachdem er Giulia gefühlsmäßig im Laufe des Abends angesichts ihrer ehrlichen, offenen und werteorientierten Art faktisch als auch zur Familie gehörig empfunden hatte. Er berichtete über den steinigen und mühsamen Weg, auf dem er sich mit seinen Vorstellungen einer zeitgemäßeren, mehr am Kern des Glaubens orientierten Kirche befand, von den geistigen Prügeln, die ihm seine Kardinalskollegen teils mit vorgetäuschter Unschuldsmiene, teils mit fast boshaftem Grinsen immer wieder in den Weg warfen. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis er auch von Kardinal Alessandros ungeheuerlicher Beleidigung erzählte, wie es Giulia schien froh, endlich darüber mit mehr Personen als nur seiner Schwester reden zu können. Gegen Mitternacht wurde Giulia schmerzlich bewusst, dass sie nun mehr über Tomasos Vater als über ihre eigenen Vorfahren aus mütterlicher Linie wusste. Tomaso hatte, nur gelegentlich mit kleineren Ergänzungen von seiner Schwester Eleonora unterbrochen, erzählt, dass er an seinen Vater keinerlei Erinnerungen habe. In den wenigen Fällen, in denen seine Mutter Eleonora aber nach Einsetzen seiner Erinnerung von ihm geredet habe, hätte sie dies immer liebevoll getan und war voller Respekt und Zuneigung. Einen Namen hatte sie aber nie erwähnt und bevor er das entsprechende Fragealter erreicht habe, wäre er bereits ins Internat gekommen. Erst später habe er dann kurz den Brief eines Giovanni an seine Mutter gesehen und den ersten Zeilen entnommen, dass er sie zwar liebe, aber verfolgt würde und daher nicht nach Gairo zu ihr und den Kindern zurückkommen könne; weiterzulesen habe er sich ebenso wenig getraut wie seine Mutter zu befragen. Zuerst war seine Scheu zu groß, später brauchte er nicht mehr zu fragen, weil sich Eleonora wegen ihrer zunehmenden Demenz an nahezu nichts Konkretes mehr erinnern konnte.

Giulia war tief betroffen von dieser tragischen Kindheit Tomasos und Eleonoras und war froh, als sich die Unterhaltung bei zunehmender Müdigkeit auf leichtere Themen, allen voran der nicht enden wollende windige Regen, konzentrierte. Gegen ein Uhr, an einen Linienbus war nicht mehr zu denken, bestellte Tomaso ein Taxi. Schon nach erstaunlich kurzer Zeit konnten Tomaso, Eleonora und Giulia nach einem herzlichen Abschied die weiße Limousine besteigen, die dann zunächst den Berg hinunter fuhr, den Kolonnaden entlang die Via della conciliazione querte, um dann nach Unterfahrung der Fluchtmauer zur Engelsburg am Seiteneingang des Vatikans zu halten. Dessen Bewohner Tomaso und Eleonora kehrten durch das von Schweizer Gardisten in blauer Arbeitsuniform bewachte Tor in den Kleinststaat zurück. Entlang des Tiberufers gelangte das Taxi dann auch an das obere Ende der Via dei Pianellari, von wo aus Giulia, tief die feuchte, aber nun frisch gewaschene Nachtluft einatmend, die letzten Schritte zu Fuß ging. Den kräftigen, älteren und fast schwarz gekleideten Mann hatte sie weder in ihrer eigenen Straße noch zuvor im Taxi hinter sich bemerkt.

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… de su marido et dimandandosila cusu marido sila denegarit siat conndennado in liras C. … (Kap. 23, Carta de Logu)