Romane: Die Kinder von Gairo - Heiliges Blut - Der Kinderdieb

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Toni unterbrach seine Lektüre an dieser Stelle. Er war erschüttert. Die Knochen stammten offensichtlich von einem Gefangenen, woher auch immer er kam, wer auch immer er war. Er wusste nicht, was für ein Mann der Tagebuchschreiber war. War er ein Schwerverbrecher? War er unschuldig? Er wusste es nicht – und nach dem Tod spielte diese Frage jetzt für ihn auch keine Rolle mehr. Bohrend und schmerzend drängte sich unvermittelt die Vorstellung in sein Gehirn, nach Dienstende nicht mehr nach Hause zu kommen, seine Frau Pia, seine Kinder und den geliebten ersten Enkel nie mehr wieder zu sehen. Der Gedanke verursachte schon fast körperlichen Schmerz. Erst einem weiteren Glas Likör war es zu verdanken, zu nüchternen Gedanken zurückzukehren. Er beschloss, per Post bei der Justizverwaltung in Cagliari, die die letzten Gefangenen und Akten aus Castiadas übernommen hatte, nachzufragen. Castiadas – dies war der Name, nach dem er vorhin beim Blick auf das Messer in seiner Erinnerung vergeblich gesucht hatte. Castiadas, die letzte italienische Strafkolonie, im 19. Jahrhundert zur Trockenlegung der malariaträchtigen Sümpfe an der Ostküste zwischen Villasimius und Muravera gegründet, bis zu seiner allmählichen Schließung (ab 1952 bis 1955) noch zur „Versorgung“ von Schwerstverbrechern bestehend. Castiadas, in dem er kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs als junger Gefreiter der Carabinieri für einen stürmischen Winter und einen heißen Sommer zum Wachdienst für die außerhalb der Kolonie stehende Villa des Leiters abgestellt war. Castiadas – das damals schon auf den ersten Blick genau dem Bild entsprach, das er sich in seiner Phantasie als Schüler beim Lesen von in Süd- oder Mittelamerika spielenden Abenteurer-, Eroberer- und Landbesitzerromanen von dortigen Lagern, Verließen und Kerkern gemacht hatte. Ein erneutes Schaudern unterdrückte er durch den Entschluss, nun auf Streife zu gehen und dabei seinen Enkelsohn mit einem Becher frischen Eises aus der Bar zu beglücken und strahlen zu sehen.

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Siat tentu et missidu in pregioni et siat in abitrio nostrum de illi condennari pro sa dicta morti. (Kap. 4, Carta de Logu)

Rom, Februar 2012

Das Geraschel in den Bänken des Hörsaals der juristischen Fakultät der römischen Universität „La Sapienza“, mit ihrer 1303 durch Papst Bonifatius VIII. erfolgten Gründung noch älter als der Gegenstand der Vorlesung, war erst langsam weniger geworden. Die anwesenden Studenten, überwiegend Studentinnen, nahmen daher den grauhaarigen Mann im dunklen Lodenmantel, den er seit seinen regelmäßigen Winterurlauben in den Dolomiten auch im römischen Winter zu tragen pflegte, zunächst nicht bewusst als Professor Caparelli wahr, zumal er den Hörsaal nicht wie seine Kollegen durch eine Seitentüre vorn beim Rednerpult betrat, sondern bedächtigen Schrittes, die Anwesenden von hinten musternd, die vom oberen Ende des Hörsaal nach vorn hinunter führende Treppe wählte. Nachdem er seinen Mantel sorgfältig auf einen freien Platz der ersten Reihe gelegt hatte, trat er unvermittelt und ohne Manuskript – erst jetzt fiel Giulia auf, dass er auch ohne Mappe gekommen war – ans Rednerpult und rief nur ein Wort in den Saal: „Eleonora!“

Während Giulia ob dieses Beginns der Vorlesung nur irritiert war, zuckte ihre Sitznachbarin deutlich erkennbar zusammen. Und als Caparelli erneut, dieses Mal noch tiefer und lauter „Eleonora“ ausrief und dabei ganz zufällig in Richtung von Giulia und ihrer Nachbarin blickte, errötete diese und senkte ihren Blick schnell hinunter auf die Blüten ihrer Bluse. Über diese unerwartete Regung ihrer Nachbarin war dann allerdings Giulia erstaunt, da sie für dieses Verhalten keine Erklärung erkennen konnte.

Währenddessen begann Caparelli, vor der Tafel des Hörsaals langsam hin und herzugehen, nun mit sanfter und gutmütiger Stimme unter Benutzung eines tragbaren Mikrophons fortzufahren. „Ihr“ – das wohlwollende Duzen der Studenten hatte sich Caparelli schon immer für sich herausgenommen und er hatte auch nicht vor, dies mit nun sechsundsechzig Jahren noch zu ändern - „habt Justinians Dekrete, den Codex juris civilis, den Corpus juris canonici, den Sachsenspiegel der Vorfahren unserer Urlaubsgäste oder die Stadtrechte unserer stolzen Städte erwartet, ich weiß dies wohl, aber ich sage noch einmal das eine Wort: Eleonora. Ihr werdet viel über die aufgezählten Codices in Euren Büchern oder im Internet entdecken, über deren Herkunft aus dem römischen Recht, über die Versuche, umfassende Normenzusammenstellungen des gesamten Zivil- und Strafrechts als Gegenpol zu ausufernder Regentenrechtsprechungssammlungen zu finden. Ihr könntet Euch gar die Mühe machen, so Ihr des Lateinischen über Euren Studiennachweis hinaus mächtig seid, Justinian im Original zu lesen oder über die irrwitzigen Versuche der römischen Kirche, noch kurz vor der Wende zum dritten Jahrtausend unter Papst Johannes Paul II. die Verrechtlichung des Glaubens, die Kodifizierung von Gnade und Sünde, die Reglementierung von Berufung und Chance auf das ewige Leben in lateinischer Sprache und Diktion in einem einheitlichen, sozusagen Himmel und Erde umspannenden Kodex erneuert festzuhalten, eine Seminararbeit zu schreiben. Die modernen Totengräber der Gleichheitsrechte und Streiter für Quoten unter Euch könnten brillieren mit Referaten über die Dominanz männlicher Richter vom römischen Reich an über das Mittelalter bis zum Ende des zweiten Jahrtausends. Ich aber halte mit nur dem einen Wort dagegen, Eleonora, und stelle Euch nur die eine Frage: Was will Euch der alte Professor damit sagen? Ich höre.“

Nichts hörte er. Der Saal lag still und schweigend. Wer konnte und zu schneller Reaktion noch in der Lage war, senkte den Blick, drehte den Kopf zur Seite, unternahm alles, um einen Blickkontakt mit Caparelli zu vermeiden, der ihn zum direkten Gespräch mit dem oder der Unwissenden verleiten könnte.

Caparelli selbst war es schließlich, der die Stille im Saal wieder unterbrach und seine Ausführungen fortsetzte: „Ihr könnt, wir können stolz auf Eleonora sein. Wir, damit meine ich mit Blick auf meine eigene Heimatstadt Oristano zunächst die Sarden, dann natürlich auch uns Italiener insgesamt; Eleonora von Arborea, Eleonora, die große Richterin, Rechtsgelehrte und zugleich Richterregentin für den westlichen Teil Sardiniens, Arborea.

Eleonora, und damit die erste bedeutende Richterin im Heiligen römischen Reich und christlichen Abendland, die Frau, die eines der ersten umfassenden Zivil- und Strafgesetzbücher des Mittelalters in Kraft setzte, einen einzigartigen, die regionalen Besonderheiten berücksichtigenden Codex, die Carta de Logu.

Geschrieben wurde dieses Gesetzbuch zwar zu weiten Teilen schon von Juristen noch für ihren Vater Mariano IV.; Eleonora war es jedoch, die nach Übernahme des Richteramtes 1387 das Gesetzeswerk vollendet und in Kraft gesetzt hat. Es war ein umfassendes Werk des 14. Jahrhunderts, ohne seinesgleichen in diesen hochmittelalterlichen Zeiten. Ausdrücklich ging es Eleonora auch um Schutz und Status der Frau, bemerkenswert für die damalige Zeit, nachvollziehbar, wenn man die Stellung von Eleonora als Richterregentin bedenkt.“

Giulia war fasziniert, weniger vom rhetorisch brillanten Vortrag, vielmehr von der mehr und mehr Gestalt annehmenden Richterin und Rechtsschöpferin Eleonora. Caparelli hatte Recht; in ihrem Lehrbuch über die römische und mittelalterliche Rechtsgeschichte, das sie zur Vorbereitung zwar etwas flüchtig, aber doch bis zum Ende durchgelesen hatte, war der heute weniger verbreitete Name Eleonora nicht aufgetaucht. Versteckt unter der Bank warf sie noch schnell einen prüfenden Blick in das Stichwortverzeichnis – nein, sie hatte den Namen auch nicht versehentlich überlesen oder bereits wieder vergessen.

Die beiden Vorlesungsstunden waren schnell zu Ende. Caparelli hatte berichtet, wie Eleonora, nach der Ermordung ihres Bruders 1387 ihren Vater beerbte und ihm, dem obersten Richter im Rahmen der damals in Sardinien geltenden Richterherrschaft und Judikatsverfassung als oberste Richterin folgte, ihm auch schon damals als Tochter folgen konnte.

Für die kommende Woche versprach Caparelli: „In unserer nächsten Stunde habe ich für Sie noch einige spannende Ergänzungen, zu der geheimnisvollen Sprache der carta de Logu und zu ihrem Inhalt.“

Mit den letzten Worten war Caparelli schon verschwunden, dieses Mal auf kurzem Weg durch den vorderen Seiteneingang. Wer ihn kannte, wusste, dass man ihn nur Minuten später wieder hinter einem hohen Stapel alter Schriften in der Institutsbibliothek einige Häuser weiter, immer noch auf dem Universitätsgelände, sitzen sehen konnte. Ohne Schreibzeug, ohne Papier, ohne je ein Kopiergerät aufsuchend. Sein Auge war der Scanner, sein Gehirn der gigantische Speicher.

Beim Zusammenpacken ihrer Blöcke und Stifte begegneten dann erstmals Giulias Blicke denen ihrer nun wieder entspannt wirkenden Nachbarin. Giulia drehte sich zu ihr hin, streckte ihre Hand entgegen und fragte „Hallo, wie geht’s, ich bin Giulia“. Ihre Nachbarin warf den Kopf in den Nacken, und rief lachend aus: „Und ich bin Claudia! Danke, mir geht`s sehr gut!“ „Ich dachte nur“, entschuldigte sich Giulia vorsichtig nachfragend, „du bist zu Beginn der Vorlesung richtig zusammengezuckt“ und bekam von Claudia, erneut fröhlich lachend, zur Antwort: „Ich bin Sardin und in unserer Familie kam ständig der Name Eleonora vor, auch meine Patentante ist eine Eleonora. Deswegen bin ich auch zusammengezuckt, als Caparelli aus dem Nichts den Namen Eleonora ausrief!“

Die Fortsetzung ihrer Unterhaltung verlegten Giulia und Claudia dann aber in die Cafeteria; ein Salat und etwas Bruscetta sollte die Grundlage für den Nachmittag bilden.

Claudia war nicht nur zwei Jahre älter als Giulia, sondern auch schon zwei Semester weiter. Sie wohnte mehr als zwanzig Minuten zu Fuß vom Vatikan entfernt in einem kleinen Zimmer zur Straße in einem der vielgeschossigen Wohnblöcke der 60er Jahre, die die mehrspurige Via Gregorio VII im oberen Bereich, wo die Ausfallstraße ihren Anfang nimmt, säumten. Angesichts des dichten Verkehrs und der tagsüber guten Linienbusverbindung, sie konnte direkt vor dem Haus einsteigen, hatte sie sich dazu entschieden, ihr cremeweisses Piaggio-Moped mit Nostalgiekarosserie zu Hause in Jerzu zu lassen. Mit Ausnahme einiger Nächte, in denen die Busfahrer offensichtlich beschlossen hatten, den Betrieb einzustellen und sie deswegen alleine den weiten Weg – mit manch bangem Blick zurück über die Schulter – zu Fuß gehen musste, hatte sie diesen Entschluss bisher auch nicht bereut.

 

Claudia berichtete von ihrer sardischen Heimat; in Jerzu, am rotweinträchtigen Südhang der Gebirge an der Ostseite der Insel, war sie mit ihrem Bruder Andrea aufgewachsen. Dort, in Jerzu, leben und arbeiten noch immer ihre Eltern, der an der dortigen Elementarschule unterrichtende Lehrer Enrico Soru und seine Ehefrau Lucia Onorato, während ihr Bruder bei der Polizei in Olbia als Commissario-Capo beschäftigt war und auch dorthin umgezogen war. Ihre Großmutter Soru war schon vor einigen Jahren nach langer Demenz in Jerzu gestorben. Ihre Patentante Eleonora und ihr Onkel Tomaso, beides Geschwister ihres Vaters, lebten dagegen inzwischen in Rom.

Zur Fortsetzung ihrer angeregten und entspannten Unterhaltung wollten sich die beiden nach der Nachmittagsvorlesung zum Abendessen wieder treffen. Wegen der anstehenden Klausuren konnten sie sich hierfür jedoch erst für den Abend in einer Woche verabreden.

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Constituimus et ordinamus: si in casu haverit inn su ermentu de sos boes domados alcunu boe qui esseret de mala fama qui cussu pubillu de cussu boe de mala inama siat tenudo delo clobari ad boe qui nò siat de mali infama … (Kap. 181, Carta de Logu)

Baunei, Frühjahr 1959

Beim Abendessen war Toni, nachdem er zuvor noch mit seinem Enkel gespielt hatte, unaufmerksam und mit den Gedanken nicht beim Gespräch der Familie. Der Schreiber des Tagebuchs, der unheimliche Gefangene und sein Schicksal wollten ihm nicht aus dem Kopf. Nach einem Espresso stand er auf und verließ mit der Erklärung, im Büro noch etwas fertigmachen zu müssen, den Tisch.

Zurück im Wachraum schaltete er nur die alte blecherne Schreibtischlampe an und begann, noch einige Seiten des Tagebuchs zu lesen.

„Castiadas, 15. Oktober 1949

Die letzten Tage waren sehr anstrengend. Wegen des bevorstehenden Winters mussten wir bereits vor SonnenauFgang in Richtung Meer marschieren, immer zu viert aneinander gekettet. Erst nach über einer Stunde erreichten wir unsere Baustelle, den bis dahin Fertiggestellten weiteren Entwässerungskanal. Mit nur einer kurzen Unterbrechung, in der wir mit Ziegenkäse, Brot und Wasser uns stärken konnten, arbeiteten wir mit Hochdruck am letzten Stück des Kanals bis zu einem zum Meer hin Führenden Bachbett. Gestern Abend hatten wir den Durchstoß geschaFFt, gerade noch rechtzeitig vor dem seit den Frühen Morgenstunden hereingebrochenen ersten großen Regensturm dieses Herbstes.

Wegen dieses Sturms sitze ich heute den ganzen Tag in meiner Zelle, sehne mich schon Fast nach der harten Arbeit im Sonnenlicht zurück, und kann die Zeit nur mit diesen Zeilen zum Verstreichen bringen.

Nur meine Frau Chiara und ich wissen, was damals Mitte Mai 1949 in Donnini wirklich geschehen war. Dass nicht ich es war, der den jungen Landarbeiter so brutal erstochen hat. Nur wir wissen, dass die am Tag des AuFFindens der Leiche hinter unserem Geräteschuppen aus dem Nichts heraus verbreiteten Gerüchte, der junge Landarbeiter wäre mehrFach gesehen worden, wie er tagsüber während meiner Arbeitszeit aus unserem Haus gekommen (und damit zwangsläufig bei Chiara) gewesen wäre), eine üble Lüge waren. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum die Richter des Corte d`Assise in Florenz den von Massimo Moretti gezwungenen Zeugen, alle Arbeiter in seinen Ländereien im benachbarten San Donato Fronzano, geglaubt haben. Unverständlich, warum niemand den Wirt aus Donnini hören wollte, der bei der Polizei zunächst angegeben hatte, dass er Massimo Moretti`s Faulen älteren Sohn Salvatore in der Mordnacht beim Glücksspiel mit dem jungen Landarbeiter gesehen habe, sich aber am Tag darauF, nachdem er – nun mit angeblich beim Putzen seines Lokals gebrochenen ZeigeFinger – an nichts mehr erinnern konnte. Warum hat niemand im Ort darauF hingewiesen, dass Salvatores Eintritt in das hoch oberhalb des Ortes im Wald liegende Dominikanerkloster Vallombrosa erst am Tag nach dem LeichenFund, - nach einem langen Gespräch mit seinem Vater und einer noch längeren und teuren Unterredung mit dem Abt der Dominikaner -, erFolgt ist und nicht, wie vom Abt bezeugt, bereits zwei Tage vor dem Mord?

Die Folgenden Wochen im Gefängnis in Florenz, im Carcere Le Murate, waren meine schlimmste Zeit. Keiner der MitgeFangenen glaubte meinen Unschuldsbeteuerungen. Sie nannten mich Feige und schwächlich, weil ich zu meiner angeblichen EiFersuchtstat – Für die sie alle großes Verständnis gehabt hätten - nun nicht auch stehen wollte. Mit dem RuF des Feiglings entstanden dann auch noch die Gerüchte, ich hätte mit dem ehrlosen Diebstahl des Kirchenbildes aus Pieve etwas zu tun, unerträglich.

Das Schlimmste war der Tag der Verhandlung. Salvatore war zwischenzeitlich in die Schule des Dominikanerklosters San Marco, dem größten Dominikanerkloster in Florenz, direkt gegenüber dem Gericht, das im ehemaligen Casino Mediceo di San Marco in der Via cavour untergebracht war, umgezogen. Er hatte wohl erkannt, dass nach dem genialen Schachzug des Vaters, den er zunächst hoFFnungsFroh als Schutz vor StraFverFolgung wegen seines Mordes verstanden, nun aber als von ihm wegen seiner Erpressbarkeit unangreiFbaren Enterbung gegenüber seinem jüngeren, aber tatkräFtigen und besonnenen Bruders entlarvt hatte, ihm nur ein schneller AuFstieg im Orden wieder einen Teil der verlorenen LebensFreuden und Freiheit wieder zurückgeben könnte. Salvatore ließ es sich denn auch nicht nehmen, eine Begegnung mit mir auf dem Weg ins Gericht am Kloster vorbei auszunutzen, um mich mit seinem Fiesen Grinsen und einer geheuchelten Bekreuzigung schier rasend zu machen.

Der Prozess verlieF dann …“

Nachdem Toni sah, dass die nächsten Blätter von braunen Wasserflecken übersät, fast unleserlich waren, löschte er das Licht, warf sein Schreiben an die Justizverwaltung in Cagliari, in dem er nach den Gefangenendaten von Flüchtlingen aus der Strafkolonie Castiadas fragte, in den roten Postbriefkasten vor dem Zaun, schloss Zaun- und Bürotür und kehrte für eine Nacht voll unruhiger Alpträume in die Wohnung zurück.

Es dauerte dann doch länger als eine Woche, bis die Antwort aus Cagliari eingegangen war. Zwischen Kriegsende und Schließung der Kolonie sei nur ein Häftling geflohen und nicht mehr festgenommen worden. Es sei Stefano Olivetti, geb. 1.3.1910, aus Donnini/Toskana gewesen, der im Sommer 1949 in Florenz wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und der Umwandlung der Strafe in fünfzehn Jahre Strafkolonie zugestimmt hatte. Er sei am ersten Oktober 1949 in Castiadas eingetroffen und habe zunächst gut gearbeitet. Er habe wohl seine Strafe innerlich nicht akzeptiert, sondern bei jeder Gelegenheit seine Unschuld beteuert und das Gericht eines Fehlurteils bezichtigt. Wegen der fehlenden Einsicht war er stets besonders gesichert. In einer schlimmen Sturmnacht im Januar 1950 musste man ihn nachts außerhalb des Lagers einsetzen, da er einer der wenigen war, die handwerklich begabt und für schwierige Arbeiten geeignet war. Die Notarbeiten zur Sicherung des Daches der Villa des Lagerleiters, die nach wetterbedingtem Ausfall des Generators ohne Scheinwerfer ausgeführt werden mussten, hätte er dann zur Flucht ausgenutzt. Eine Suche am nächsten Tag wäre erfolglos verlaufen; Spuren habe es nach dem nächtlichen Regen keine (mehr) gegeben. Später habe es Gerüchte gegeben, er wäre in Gairo untergetaucht; ob er dort den schweren Erdrutsch im Oktober 1951 überlebt hat und ob er überhaupt in Gairo war, hätte nie geklärt werden können. Olivetti sei seit 1940 verheiratet mit Chiara Marconi und hatte eine Tochter Teresa, geboren 1943. Die Summe dieser Angaben, der Vorname seiner Frau, die Herkunft des Messers und die zeitliche Stimmigkeit ließen Toni zu dem Entschluss kommen, seinen Schlussbericht zu schreiben und die erfolgreiche Identifizierung des flüchtigen Häftlings Stefano Olivetti und den Fund seiner Leiche in Form einer Kurzmeldung nach Cagliari zu melden. Das Messer fügte er seiner Meldung bei; bezüglich des ihn so aufwühlenden Tagebuchs wollte er so verfahren, dass er es zunächst vollends – nicht aus Neugier sondern der leichteren Suche nach Olivetti`s Familie wegen – durchlesen und es dann der Familie zusenden wollte. Auch wenn er damit vielleicht gegen eine Vorschrift verstieß, nach der das Tagebuch nicht seine Adressatin sondern nur ein Archivregal in Cagliari, im schlimmsten Fall einen Aktenschredder erreichen sollte, entsprach dies jedenfalls seiner Auffassung von Dienst am Bürger, Menschlichkeit und Recht.

Am Tag darauf waren dann er, Michele und die beiden weiteren diensthabenden Carabinieri mit dem Jeep der Forstverwaltung zum Pass hochgefahren. Fast wäre ihr Vorhaben, die Überreste der Leiche zu bergen, schon im Ort gescheitert, da an einer der engsten Stellen der ohnehin nicht breiten Ortsstraße wieder einmal der örtliche Bauunternehmer Baroso seinen dunklen Lancia Aurelia, den für die Straßenverhältnisse objektiv kaum brauchbaren, von Lancia nach dem Krieg entwickelten schweren Sechszylinder und Stolz seiner Männlichkeit, am Straßenrand geparkt hatte, ohne jede seinem Charakter ohnehin fremde Rücksichtnahme – so die böswillige Erklärung – oder in der Annahme, es würde früh am Morgen um diese Jahreszeit ohnehin kein Fahrzeug zum Pass fahren wollen. Nur nach mehrmaligem Rangieren gelang Michele schließlich die Passage, was die ohnehin nicht gerade gute Stimmung im Blick auf die bevorstehende Aufgabe auch nicht verbesserte. Oben am Pass sammelten sie unter Micheles Führung die verstreuten Knochen ein, immer darauf achtend, weder über eines der vielen Wurzelhölzer zu stolpern noch auf einem der verstreut liegenden, in der Sonne sich langsam erwärmenden Steine eine Schlange zu erschrecken. Der Einsatz eines alten Armeemetallsuchgeräts, das seit Kriegsende schon hinten in der Carabinierigarage unbenutzt stehen geblieben war, verlief zunächst erfolglos und ohne Auffinden weiterer Gegenstände des Toten. Erst als sich Toni zu Boden bückte um eine Schraube, die sich aus dem Gerät gelöst hatte, zu suchen, fand er zwar diese nicht, dafür aber einen schmalen goldenen Ring mit Resten einer eingravierten Schrift, bei der er die Buchstaben „Chia“ und – nach nicht mehr lesbaren weiteren Ziffern - die Zahl „940“ meinte lesen zu können. Nun war er auch persönlich, nicht nur offiziell dienstlich, davon überzeugt, dass hier am Pass oberhalb Baunei irgendwann nach dem Januar 1950 und sicher schon vor einigen Jahren Stefano Olivetti einen einsamen Tod gestorben war. Toni fragte sich, ob dem einsam Sterbenden wenigstens der weite Blick zum Meer und nach Süden ein letzter Trost gewesen sein konnte.

Am Tag darauf setzte der Pfarrer in Tonis Beisein, er repräsentierte sozusagen die Trauergemeinde, den Leichnam beziehungsweise das, was in Form einzelner Knochen noch übrig war, am hinteren Friedhofsrand bei. Noch nie war er sich der Bedeutung „Asche zu Asche“ mehr bewusst als in diesen Minuten.

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… et si cusu pubillu decussu tali boe non boleret clobari cussu tali boe seglungu de supra et cussu boe intrarit in alcunu Logu et fagherit dannu et essert mortu faghendo dannu su boynargiu nò siat tenudo de lu pagari. (Kap. 181, Carta de Logu)