Heiliges Blut

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Heiliges Blut
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Matthias Weingarten

Heiliges Blut

Spurensuche zwischen Süddeutschland und Südtirol


Für meine Töchter

Heiliges Blut

Matthias Sprissler (Weingarten)

Text und Gestaltung:

Copyright 2014 Matthias Sprissler

Verlag: Dr. Matthias Sprißler, Tübingen, www.sprissler.org

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN

Umschlagfoto: Schloss Tirol bei Meran (Autor)

S. 1/2 aus 900 Jahre Heilig-Blutverehrung in Weingarten (Rudolf/Kruse): Romanisches Kloster Weingarten 1182, Ortsansicht Wenzel Hollar (um 1630)

S. 3 Nachbildung der Reliquie auf der Fassade der Basilika Weingarten (Autor)

Einer der Soldaten stach

mit seiner Lanze in die Seite,

und heraus kam sofort

Blut und Wasser.

Joh 19, 34


Jagdunfälle

Prolog Salten, Südtirol, 2. November 2013

Des Sommers Wochen standen still, es stieg der Bäume Blut; jetzt fühlst du, dass es fallen will, in den der Alles tut.

Reiner Maria Rilke

Eben noch war Theresa Graf mit ihrem Freund Fabian und ihren Bekannten Giulia und Marco in der milden Herbstsonne den bequemen Höhenweg des Salten hoch über dem Tal der Etsch entlanggewandert. Tief unter ihr fielen bereits wieder die ersten Schatten auf die Gemeinde Lana bei Meran. Auf den Almwiesen neben dem Weg, die bereits das saftige Grün des Sommers verloren hatten, weideten friedlich goldbraune Haflinger mit ihren blonden Mähnen das letzte Gras vor dem Winter ab. Ihre Begleiter, allen voran Fabian, waren dicht hinter ihr, als Theresa das Wandertempo kurz verlangsamte, um zwischen zwei gold-orange gefärbten Lärchen um eine Ecke des Weges zu biegen.

Die nächsten Sekunden ihres Lebens vergingen so schnell, dass sie darüber erst im Nachhinein von anderen erfuhr. Sie sah nur noch, wie sich der entgegenkommende Wanderer, ein kräftiger junger Mann, auf sie warf und zu Boden riss, während fast zeitgleich ein dumpfer Knall die Stille der Bergwelt zerriss. Unmittelbar danach verlor sie beim Aufschlagen auf einer harten Baumwurzel das Bewusstsein. Das letzte was sie noch während des Fallens hörte waren in dichter Folge zwei weitere Donnerschläge. In Kopfhöhe entstand ein kinderfaustgroßes Loch im harzigen Stamm der Lärche, aus dem alsbald einige in der tiefstehenden Sonne des frühen Novembernachmittags blutrot funkelnde Harztropfen herausquollen.

1 Tübingen, Anfang März 2013

Ein frommes Lied kam zu mir her:

Du einfach Herz, du heilig Blut,

O nimm von mir so böse Glut!

Da ward’s erhört und klagt nicht mehr!

Mein Herz ist jeder Sünde schwer

Und zehrt sich auf in böser Glut,

Und ruft nicht an das heilige Blut,

Und ist so stumm und tränenleer.

Georg Trakl

Gedicht (Sammlung 1909)

Theresa saß am Schreibtisch ihrer Wohnung in der Tübinger Speemannstraße. Der Tisch stand vor dem Fenster, so dass sie bei ihrer Arbeit jederzeit hinaus in die Natur oder die Ferne abschweifen konnte. Das Haus in der Speemannstraße lag in Halbhöhenlage, die ihr einen weiten Blick über das Universitätsviertel bis hin zur historischen Altstadt mit Stiftskirche und Schloss ermöglichte. Ihr schulterlanges, mittelblondes glattes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Zu einem weinroten T-Shirt trug sie einen kurzen, eng anliegenden grauen Rock und eine dunkle Strumpfhose. Nach dem morgendlichen Einkauf hatte sie sich noch nicht aufgerafft, Rock und Strumpfhose gegen ihre bequeme weiße Hausanzugshose zu tauschen.

Seit fast drei Jahren wohnte sie nun schon mit Fabian hier zusammen. Kennengelernt hatten sie sich in einem Kurs des Sportinstituts der Universität, den sie beide besucht hatten: Theresa als Studentin der Rechtswissenschaft, Dr. Fabian Sonntag als gerade promovierter Assistent an einem Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters. Über die Jahre hinweg hatten sie ihre Wohnung geschmackvoll eingerichtet: Im geräumigen Wohn-Esszimmer mit Kochecke ein Sofa mit drei kleinen, schlichten Sesseln und einem langen Esstisch, an dem ohne weiteres auch acht Stühle Platz finden konnten. Die offene Küche, ganz in vanilleweiß mit dunkler Arbeitsplatte, war durch eine kleine Theke vom Wohnbereich getrennt. Neben dem Schlafzimmer lag das gemeinsame Arbeitszimmer. Die lange, als Schreibtisch dienende Platte erstreckte sich über die gesamte Fensterseite, so dass es möglich war, zwei nebeneinanderliegende Arbeitsplätze einschließlich dazugehöriger Computer einzurichten.

An diesem frühen Nachmittag war Theresa allein zu Hause. Fabian hielt sich den ganzen Tag in der Universität auf, während Theresa sich auf den nächsten Tag, an dem sie als Rechtsreferendarin beim Amtsgericht im benachbarten Rottenburg erstmals selbst unter Aufsicht ihrer Ausbildungsrichterin eine Verhandlung leiten sollte. Eher lustlos überflog sie den Akteninhalt; es ging um den Streit zweier Nachbarn der Rottenburger Altstadt, die – wohl in Ermangelung sinnvollerer Lebensinhalte – einen Wäscheleinenpfosten im Bereich der Grenze ihres gemeinsamen Hinterhofs versetzt wissen wollten. Sie kannte die Örtlichkeit in der Rottenburger Altstadt, war sie doch selbst in Rottenburg aufgewachsen. Noch während der ersten Semester ihres Studiums hatte sie vom Elternhaus aus die Vorlesungen in Tübingen besucht und ihren Eltern, die ein winziges, in naher Zukunft zum Aussterben verurteiltes Elektrogeschäft betrieben, damit hohe Ausgaben erspart.

Theresa fühlte sich nicht nur in der gemeinsamen Wohnung in Tübingen wohl, nein auch die Stadt selbst wirkte für sie, trotz mancher vermeintlich ökologischer Überregulierung, im Vergleich zu Rottenburg wahrhaft befreiend. Der Wechsel von einem Leben zwischen bischöflicher Verwaltung und Justizvollzugsanstalt zu einem Leben zwischen Großkliniken und Universitätseinrichtungen war für Theresa zugleich Abbild einer auch innerlichen und geistigen Öffnung gewesen.

Der Blick durch das Fenster über die Stadt hätte Theresa allerdings in etwas anderer Form noch deutlich besser gefallen. Obwohl schon März, lag fast die ganze Stadt dieses Jahr noch unter einer dünnen Schneedecke. Die Sonne, die in den letzten Tagen nur selten die Nebeldecke durchringen konnte, zeigte sich auch heute nur als fahler Lichtschein. Selbst der Neckar, der in neun von zehn Jahren ganzjährig gleichmäßig, mal klar und dunkelgrün, mal schlammig braun, zwischen der Plataneninsel und der Häuserfront der Altstadt mit dem pastellgrünen Hölderlinturm seine Bahn zog, war diesen Winter mehrere Wochen lang zugefroren. Zwar gefiel Theresa das an die Werke Breughels erinnernde Bild der Menschen auf der weißen Eisfläche vor der Altstadt, dennoch würde sie um diese Jahreszeit lieber den Uferweg entlang spazieren und die gelben Winterlinge und weißen Schneeglöckchen bewundern, die dort an der warmen, nach Süden zum Neckar offenen Mauer als erste Pflanzen im Jahreslauf den Frühling in Tübingen einläuteten.

So schweiften ihre Gedanken immer mehr und immer weiter von der vor ihr liegenden Akte ab. Sie wusste zwar, dass die Befassung mit diesen Alltagskleinigkeiten zwingender Teil auf ihrem Ausbildungsweg zum zweiten Staatsexamen war; dennoch lag ihr Interessenschwerpunkt eindeutig bei Themen der Rechtsgeschichte, mit denen sie sich auch schon während des Studiums, so dies zeitlich möglich war, freiwillig und zusätzlich befasst hatte. In gewisser Weise beneidete sie Fabian, dem es gelungen war, seine gleichliegenden Interessen mit der beruflichen Tätigkeit zu einem wesentlich größeren Teil in Deckungsgleichheit zu bringen.

Nach dem überlangen Winter, dessen Ende noch nicht einmal absehbar war, sehnte sie sich nach Wärme und Licht. Sie war sich sicher, dass sie die immer noch nicht gelesene Akte auf ihrem Balkon bei sommerlichem Wetter längst gelesen hätte.

Theresa beendete die Träumerei und wendete sich erneut ihrer Akte zu. Keine zwei Seiten später war es mit ihrer Konzentration aber bereits wieder vorbei. Die im Unterbewusstsein mitgehörte Nachrichtenmeldung von einer neuerlichen Regierungskrise in Italien hatte ausgereicht, die mühsam gefundene Konzentration auf ihre Aufgabe bereits wieder zu verlieren und die Erinnerungen an den Besuch bei Ihrer Freundin Giulia in Rom im vergangenen Sommer in den gedanklichen Vordergrund rücken zu lassen. Im letzten Sommer, dem Semester vor ihrem ersten Examen, hatte sie ein Seminar über europäisches Kaufrecht besucht; dort war sie mit Giulia, italienische Gaststudentin in diesem Seminar, zusammengetroffen, einer gebürtigen Venezianerin, etwas jünger als sie und Rechtsstudentin an der römischen Universität. Sie hatten sich dann auch außerhalb des Seminars häufig in Tübingen getroffen und die Freundschaft danach mittels Telefon und Emails am Leben erhalten. Im Herbst 2012 war Theresa dann für eine Woche nach Rom gefahren und hatte dort wunderbare Tage verbracht. Von Giulias Wohnung bei der Piazza Navona aus konnte sie die Stadt erkunden und die milden Herbstabende mit Giulia auf den belebten Plätzen der Stadt genießen. Auch Giulias Freund, der damals in der Cafebar „Sole Romano“ in der Via del Tritone arbeitete, hatte sie kennengelernt.

Theresa hatte bei all ihren Träumereien nicht bemerkt, dass inzwischen bereits die Dämmerung über die Stadt hereingebrochen war und wurde erst durch das Klirren einer Glasscheibe – es musste wohl vom linken Nachbarhaus kommen – hart in die Realität zurückgeholt. Hastig stand sie auf, ließ alle Rollläden herunter und prüfte, ob die Wohnungstür richtig geschlossen war. Sie musste nicht warten, bis sie einige Minuten später das Martinshorn eines Streifenwagens hörte, um zu realisieren, dass offensichtlich die seit Jahren in der Übergangszeit tätigen Wohnungseinbrecher wieder zugeschlagen hatten. Solange die Presse nur über Einbrüche in der städtischen Randlage berichtet hatte, war es lediglich eine abstrakte Gefahr gewesen. Nachdem aber vor zwei Tagen ein Einbruch nur eine Straße weiter gemeldet worden war und nun im Nachbarhaus die Scheibe zersplitterte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass die Gefahr echt und auch für ihr bisher so sorgloses Leben eine Bedrohung war. Die Erleichterung war ihr von weitem anzusehen, als Fabian zur Tür hereinkam: Fast einen Meter und neunzig Zentimeter groß, schlank, kurze braune Haare, sein dunkelblaues Sakko mit dem feinen Karomuster lässig über den Arm und den mit der Hand getragenen Rucksack gehängt, stand er in seinem hellblauen Lieblingshemd und dunklen Jeans vor ihr. Fabian war ihr großes Glück: Ein einfühlsamer, rücksichtsvoller, gebildeter und guter Mensch, der dazuhin auch noch so aussah, das sich schon die eine oder andere ihrer Kolleginnen nach ihm umgedreht hatte und manche seiner Studentinnen mehr oder weniger stark vom Thema seiner Seminare abgelenkt wurde.

 

Theresa machte ein paar nicht ganz sichere Schritte auf ihn zu, um sich dann mit noch immer leicht zitternden Beinen in seine geöffneten Arme fallen zu lassen.

Nachdem sie den Zwischenfall in der Nachbarschaft mit allen denkbaren Konsequenzen für ihre eigene Sicherheit durchgegangen waren, sprachen sie, wie fast täglich, über ihre jeweilige Arbeit an diesem Tag.

„Wie lieb’s bei Dir?“ fragte Fabian. „Nicht gut, nicht schlecht, einfach nur langsam. Ich bin froh, wenn ich mit dem Referendariat fertig bin und mich dann für einige Zeit ganz meiner Doktorarbeit widmen, wieder mehr wissenschaftlich arbeiten kann.“ „Ja, ich verstehe Dich gut. Ich bin froh, dass ich mit meiner Stelle Glück gehabt habe.“ „Und, bist Du weitergekommen?“ „Ja. Das Forschungsprojekt ist thematisch nun abgesprochen. Es soll sich mit der mittelalterliche Reliquiengeschichte befassen.“ „Dann hast du schon wieder Glück gehabt, das entspricht doch genau deinen Vorstellungen, oder?“ Fabian strahlt: „Exakt!“ „Habt ihr euch dann auch schon darauf geeinigt, welcher Heilige als Exempel herhalten muss?“ „Sicher, du wirst es aber nicht erraten. Ich helfe dir nur so viel: Es erscheint mir sehr spannend, sozusagen ganz oben in der Hierarchie angesiedelt.“ „Lass mich raten: Petrus oder Paulus?“ „Nein, ich sagte doch, ganz oben!“ Theresa dachte kurz nach: „Maria? Da musst du dich aber als Protestant ganz schön einarbeiten. Wobei ich dir natürlich gerne die Grundlagen vermittle; dann habe ich als Kind wenigstens den Rosenkranz nicht ganz umsonst gelernt.“ „Tut mir leid, immer noch falsch. Um unser Abendessen nicht weiter zu verzögern will ich das Rätsel selbst auflösen: Bei der exemplarisch zu untersuchenden Reliquie handelt es sich um die Reliquie des Heiligen Blutes, also um eine göttliche Reliquie, daher von mir als ganz oben beschrieben! Die Reliquie soll sich in Oberschwaben, in der ehemaligen Klosterkirche, der Basilika in Weingarten befinden. Sicher müssen wir auch einmal dorthin fahren, sobald ich mich eingearbeitet habe.“ „Das ist ja wunderbar, ich kann dir manches darüber erzählen, da ich als Kind oft bei meiner Tante in Ravensburg bei Weingarten war; sozusagen Insiderkenntnisse aus dem katholischen Kernland.“

2 Weingarten, Oktober 1270

Henricus Rudolphi filius qui in venatione prope villam Lenon in Tyroli interiit.

Text auf einem Fresko

über der Seitenempore

der Basilika Weingarten

Die Weinlese an den Hängen über dem Schussental war gerade abgeschlossen. Es war ein gutes Jahr für das Benediktinerkloster in Weingarten, der Sommer war warm gewesen und die Ernte fiel gut aus.

Abt Herrmann ging mit gesenktem Kopf im Kreuzgang des Klosters auf und ab. Eigentlich hätte er keinen Grund zur Klage gehabt. Die Besitzungen des Klosters waren gewachsen. Nicht nur zwischen Bodensee und Schwäbischer Alb gehörte dem Kloster so mancher Ort und viele Höfe und Kirchen; auch jenseits der Alpen hatte das Kloster im damaligen Tirol bei Meran inzwischen wertvollen Besitz erlangt und Kapellen errichtet. Beides war für das Kloster wichtig, um genügend Einnahmen zu erzielen: Die Landwirtschaft mit ihren unmittelbaren Erträgen beziehungsweise den hohen Abgaben der Pächter einerseits, die in den Kapellen und Kirchen erzielbaren Spenden und Stiftungen andererseits. In vielen Verhandlungen seiner Gesandter aber auch auf eigenen Reisen war es ihm in den letzten Jahren gelungen, zahlreiche Ablassversprechen durch kirchliche Würdenträger in ganz Mitteleuropa zu erlangen, die den Zustrom der Pilger steigerten. Jeder Pilger brachte dem Kloster aber nicht nur seine Gebetsanliegen, sondern eben auch Geld und milde Gaben im Gegenzug für einen zeitlich begrenzten Ablass sowie für die Beherbergungsleistungen im Zusammenhang mit den Pilgerreisen. Sein Kloster, dessen Leitung er schon vor Jahren als Nachfolger von Abt Konrad übernommen hatte, stand aber auch in Bezug auf seine Lage und die Gebäude gut da: Über Altdorf stand sein Kloster auf einer großflächigen Anhöhe. Bei klarem Wetter konnte er die Alpen sehen, bis auf deren Südseite sich sein Land erstreckte. Nach Osten erstreckten sich weitläufige Wälder, die der Klosterküche manch gutes Wildbret bescherten. Zu Fuß konnte er bequem durch den Wald den ersten eigenen Hof in Nessenreben und das dem Kloster gehörende Dorf Ankenreute erreichen.

Die vor fast neunzig Jahren fertiggestellte Anlage mit der in der ganzen Region einzigartigen über achtzig Meter langen dreischiffigen Basilika mit ihren prächtigen Rundbögen stand majestätisch über dem Tal. Niemand im weiten Umkreis besaß eine größere Kirche. Gott musste wissen, auf wen er sich verlassen konnte.

Kloster und darunter liegende Gemeinde waren aufs engste mit dem Geschlecht der Welfen verbunden, deren schon Jahrhunderte alte Beziehung ins Meraner Land letztlich auch der Grund für des Klosters Besitzungen dort war. Immer wenn er an die Welfen dachte, fiel ihm auch der Tod des Welfensohns Heinrich vor 300 Jahren ein, der seinerzeit auf einer Jagd nach einem Steinbock bei Lana nahe Meran sein Leben verlor, aufgrund eines tragischen Jagdunfalls, wie die Chronisten vermerkten. „Jagdunfall“ – Abt Herrmann konnte trotz der gedämpft feierlichen Atmosphäre, die die gleichförmigen halbrunden Bögen des Kreuzgangs ausstrahlten, ein kaum sichtbares Schmunzeln nicht verbergen. „Jagdunfall“ – nur zu gut kannte er die Abgründe der menschlichen Seele, um sich das Zustandekommen eines „Jagdunfalls“ plastisch vorstellen zu können, wenn zwei Brüder, von denen nur der Ältere umfassende Macht und Besitz erben konnte, gemeinsam zur Jagd aufbrechen und nur der jüngere Bruder, Welfhard, lebend zurückkehrt.

Viel wichtiger war aber für ihn und sein Kloster ein Geschenk Judiths, in zweiter Ehe mit Welf IV. von Altdorf verheiratet, den es schon bald zum Kreuzzug in ferne Lande zog. Judith hatte am Tag nach Himmelfahrt im Jahre 1094 dem Kloster unter Abt Walchio eine Reliquie des Blutes Christi geschenkt, ein Klümpchen mit Christi Blut getränkter Erde von Golgatha, eingefasst in ein goldenes, mit Edelsteinen reich besetztes kleines Kreuz. Dieses kleine Kreuz, genauer sein Inhalt, hatte dem neuen Kloster einen anhaltenden Zuwachs an Bedeutung verschafft.

Das kleine Kreuz war aber auch Anlass für seine Sorgen, die ihn an diesem Abend unruhig im Kreuzgang auf und ab gehen ließen. Vergeblich hatte er in den letzten Jahren versucht, seine Reliquie in die bischöflichen Urkunden über Ablässe und Besitztümer aufnehmen zu lassen. Nur einer, Bischof Eberhard von Worms, hatte ihm im Mai dieses Jahres auf Bitten seines Gesandten einen Ablassbrief ausgestellt, der ausdrücklich das heilige Blut des Klosters erwähnt. Vielleicht hatte er während des Besuchs des klösterlichen Gesandten auch nur sein Siegel unbeaufsichtigt in den Räumen seiner Schreiber liegen lassen, - Abt Herrmann wollte dies lieber nicht wissen. Seine Position wäre aber um ein Vielfaches stärker, wenn er über eine Urkunde verfügen würde, die den Weg der Reliquie nach ihrem Auffinden in Mantua bis hin zu Judith und Weingarten, ebenso ausdrücklich bestätigen würde, wie ihre nach seiner Kenntnis damals in Mantua vorgenommene Teilung der Bluterde in drei Teile. Tief in seinem Innern verspürte er das Unwohlsein, das ihm die geistlichen Herren der Heilig-Blutkirche im flandrischen Brügge bereiteten, die seit einiger Zeit verbreiteten, der einzige Besitzer einer echten Reliquie nördlich der Alpen zu sein. An die Mönche von der Insel Reichenau, ganz in der Nähe, die sich ebenfalls des Besitzes heiligen Blutes rühmten und gerüchteweise die Echtheit des Weingartener Blutes in Frage stellten, wollte er erst gar nicht denken. Die Mönche der Reichenau waren bereits fast dreihuntertundfünfzig Jahre im Besitz ihres Blutes, während sein Kloster erst auf knapp einhundertundachtzig Jahre zurückblicken konnte. Zudem soll das dortige Blut direkt aus Jerusalem gekommen sein.

Für Abt Herrmann waren die Aussagen aus Brügge und die Zweifel der Reichenau nicht nur nutzloses Gerede sondern eine echte Gefahr für den Wohlstand und das Ansehen seines Klosters. Immerhin verfügten die Reichenauer auch eine schon über zweihundert Jahre alte Schrift seines Namensvetters Hermanns des Lahmen zur Auffindung ihres Blutes. Schon etliche schlaflose Nächte und unruhige Tage hatte er mit der Suche nach einer Lösung für sein Problem verbracht. Den Durchbruch brachte erst ein Bote der klostereigenen Kapelle St. Georg in Lana, der vor einigen Tagen mit zwei Urkunden aus dem Meraner Tirol im Kloster eingetroffen war: Einer im Spätwinter dieses Jahres in Bozen durch Bischof Egno von Trient erteilten Ablassbestätigung sowie einer Urkunde über die Weihe einer Kapelle im klostereigenen Oberlana bei Meran, die ein Linnen erwähnt, in dem der blutgetränkte Erdklumpen vor seiner Fassung in Gold verwahrt worden war. Dieses Linnen wollte er hier in seiner Klosterkirche wissen; seine Verwahrung in einer weit entfernten, im Winter über die Alpen schwerlich zu erreichenden Kapelle, erschien ihm zu unsicher. Insgeheim hoffte er zudem, beim Linnen möglicherweise auch Herkunftsdokumente zu finden. Hier wollte er ansetzen, und dies möglichst schnell. Auf keinen Fall durften andere von dieser Urkunde erfahren.

Abt Herrmann verließ den Kreuzgang und begab sich in den Aufenthaltsraum der Brudermönche. Mit befehlendem Ton forderte er Bruder Magnus, bis vor einem Jahr Mesner in St. Georg bei Lana, auf, in das Scriptorium, das Schreibzimmer der Bibliothek zu gehen und Pater Anselm, der dort die Arbeiten an einem neuen Missale beaufsichtigte, zu ihm in sein Abtszimmer zu schicken. Eigentlich hatte er zwar angeordnet, dass die Arbeit im Scriptorium allem anderen vorginge, schließlich sollte die Herstellung herrlich bebilderter Handschriften unter seiner Ägide nicht unter das in Zeiten Abt Bertholds erreichte Spitzenniveau fallen, das der Klosterbibliothek schon viele Aufträge verschafft hatte. Doch es war wie immer: Außergewöhnliche Umstände erforderten auch außergewöhnliche Maßnahmen, - und bisher war er mit seinen spontanen und entschiedenen Entscheidungen nicht schlecht gefahren: Er genoss den Respekt der Bischöfe nördlich und südlich der Alpen ebenso wie den Respekt zahlreicher Adliger, und zwar nicht nur welfischer und staufischer Herren.

Das Abtszimmer war einfach, aber nicht so spartanisch wie die Mönchszellen eingerichtet. Während die Mönchszellen nur mit einer mit Stroh bedeckten hölzernen Liegestatt ausgestattet waren, verfügte er über ein mit Fellen ausgelegtes Bett, mehrere Stühle aus dunklem Holz und einer großen, mit Urkunden gefüllten Truhe, neben der auf einem schmalen Wandsims ein goldenes Kreuz stand. Vom Fenster aus konnte er hinüber auf den Platz vor der Basilika sehen, aus deren zum Tal hin ausgerichteten Portalfront der Kirchturm emporragte.

Er wartete mit wachsender Ungeduld, bis er die Schritte von Bruder Magnus und Pater Anselm auf der Treppe vor dem Zimmer hörte. Kurz bevor die Tür geöffnet wurde, kniete er vor dem Kreuz nieder, scheinbar ins Gebet versunken. Erst als er sah, dass seine Besucher es ihm gleichtun wollten, stand er abrupt auf, nahm auf einem der Stühle Platz und gebot Anselm es ihm nachzutun. Magnus forderte er auf, umgehend in den Aufenthaltsraum zurückzukehren.