Der Kinderdieb

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Der Kinderdieb
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Matthias Weingarten

Der

Kinderdieb

Texte/Fotos: © Copyright by Matthias Sprißler

Umschlaggestaltung: © Copyright by Matthias Sprißler

Verlag: Dr. Matthias Sprißler,

Doblerstraße 14, 72074 Tübingen

Info-sprissler@t-online.de - www.dr-sprissler.de

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Geschichte und die Personen sind frei erfunden, ebenso der Ort Forellenhof. Soweit die Handlung an realen Orten spielt, sind diese ohne Realitätsbezug gewählt. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Namen sind zufällig.

Inhalt

Prolog

Ellwangen, Juli 2007

Malcesine, September 2013

Bardolino, September 2013

Ellwangen, Herbst 2013

Stuttgart, Dezember 2013

Ellwangen, Februar 2014

Forellenhof, Juni 2014

Kripo Ellwangen, Juni/Juli 2014

A 8, Juni 2014

Ellwangen, Juli 2014

Landgericht Ellwangen, Juli 2014

Stuttgart/Remstal, Juli 2014

Stuttgart – Ellwangen, Juli 2014

Ellwangen, Frühjahr 2015

Meran, Pfingsten 2015

Nachwort

Prolog

Die Zelle

Aktenzeichen 23 Js 144/14


Amtsgericht Ellwangen

Haftbefehl vom 30. Juni 2014

Im Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten

wird gem. §§ 112 Abs. 1 und 3, 114, 125 StPO die Untersuchungshaft dieses Beschuldigten angeordnet.

Er steht im dringenden Verdacht, ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand gesetzt und dadurch den Tod eines anderen Menschen verursacht zu haben, indem er am 30.6.2014 gegen 0.30 Uhr in Scheune und angrenzendem Wohnhaus des Forellenhofs im Kinzigtal mittels eines Brandbeschleunigers Feuer gelegt und dadurch den Hof zerstört und die dort als Urlauberin schlafende vierjährige Helen Gärtner getötet hat,

strafbar nach §§ 211, 306 a, 306 c, 52 StGB.

Der dringende Tatverdacht stützt sich auf das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen der Polizeidirektion Aalen, Kriminalinspektion Ellwangen, insbesondere den Ermittlungsbericht von EKHK Peter Lowinger.

Maier

Richter am Amtsgericht

Wie oft in dieser Nacht hatte er diesen Haftbefehl nun bereits gelesen? Er wusste es nicht mehr. Das einzige, was er noch wusste, war, dass er vor wenigen Minuten aus einem kurzen, wohl nur wenige Sekunden dauernden Erschöpfungsschlaf aufgeschreckt war, als er plötzlich hellen Feuerschein zu sehen glaubte. Der Schein eines hell lodernden Feuers, des Feuers eines Großbrandes. Er zitterte am ganzen Körper. Es war nur ein geringer Trost, dass ihm nach dem Aufschrecken schnell bewusstwurde, dass er kein Feuer sah; es war nur das helle Neonlicht seiner fensterlosen Zelle, das einmal pro Stunde kurz aufflackerte, um den Vollzugsbeamten einen Kontrollblick durch den Türspion, der hier von außen nach innen funktionierte, zu ermöglichen.

„Wir stecken dich vorsorglich in eine Zelle ohne Fenstergitter, sicher ist sicher“, waren die letzten Worte des Beamten gewesen, bevor er am Abend die Zelle verschlossen hatte. Seither war er allein mit sich. Er fühlte sich verlassen und ausgeliefert. Raum- und Zeitgefühl schwanden mehr und mehr. Drei identische Wände, je zehn Fuß lang, wie er vorhin ausgemessen hatte. Die vierte Wand unterschied sich durch die darin befindliche stahlgraue Metalltüre mit dem Spion und einer Klappe, durch die ihm am Abend noch zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Fleischkäse und zwei Essiggurken zusammen mit Aluminiumteller und -becher gereicht wurden. Alles steril und nicht entflammbar: Außer dem Geschirr auch die Chromarganliege mit einer teflonumhüllten Matte, die sich anfühlte, wie wenn sie mit Metallputzschwämmchen gefüllt wäre, das Edelstahlwaschbecken mit dem kleinen Hinweisschild „Trinkwasser“ und dem deckel- und randlosen Edelstahl-WC, neben dem sich abgezählt drei feuchte Papiere befanden. Im Laufe der Nacht hatte er dann auch die Zusammenhänge begriffen: Seine seit Abgabe des Gürtels fortwährend rutschende Hose, das mangels Fenster fehlende massive Fenstergitter und die periodische Kontrolle konnten nur bedeuten, dass sie von Suizidgefahr ihres Häftlings ausgingen.

Es war ihm rätselhaft, wie sie zu dieser Annahme kommen konnten. Noch nie in seinem über vierzigjährigen Leben hatte er ein Gefängnis von innen gesehen. Und sich selbst zu erhängen? Eine abwegige Überlegung. Er. Er, der stets den Freuden des Lebens zugeneigt war. Wahrscheinlich würden sie das bei jedem Häftling seines Alters so anordnen. Sicher, seine Lage war mehr als schlecht. Katastrophal. Aber aufgeben? Keine Sekunde seiner bisherigen Haftzeit von gefühlt einem Jahr, gemessen sieben Stunden und achtundzwanzig Minuten, war ihm ein solcher Gedanke bisher gekommen. Er hatte in seinem Leben schon manche Niederlage erlitten, war zu kämpfen gewohnt. Auch hier und jetzt würde er kämpfen, seine Unschuld beweisen, die Missverständnisse, um die es sich handeln musste, aufklären. Schon in wenigen Stunden würde er Dr. Franz Felsle, dem besten Verteidiger der Stadt gegenübersitzen, einem Anwalt, der ihn schon seit vielen Jahre kannte und schon manches Mal bestens beraten hatte….

2

Ellwangen, Juli 2007

Vergangenheit

Richard und Stefanie Gärtner saßen auf dem vor wenigen Tagen erstandenen schwarzen Ledersofa einer am Ostrand des Schwarzwaldes residierenden Designerfirma. Auf dem kubistischen Glastisch vor Ihnen standen zwei große Kelchgläser, in denen jeweils zwei Finger hoch ein italienischer Rotwein seinen warmen Duft verbreitete. Heute Morgen waren sie, beide nun schon 32 Jahre alt, zur Trauung im Standesamt gewesen. Im Anschluss an diese Beurkundung ihrer schon seit zwei Jahren bestehenden eheähnlichen Beziehung hatte es noch ein gemeinsames Mittagessen mit Eltern und Geschwistern gegeben. Das große Fest war für den Tag der kirchlichen Trauung vorgesehen, die Ende des Monats in der hoch über der Stadt thronenden barocken Wallfahrtskirche Schönenberg stattfinden sollte. Der Schwager von Richard, Tobias Hafner, der Mann seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Monika und erst seit einigen Wochen Standesbeamter der ostwürttembergischen Kleinstadt Ellwangen, hatte die Trauung persönlich übernommen. Die kurze Ansprache war genau nach Stefanies Geschmack gewesen. Nicht zu schwülstig, sachlich, aber auch feierlich. Hafner, dessen Familie seit Generationen in Ellwangen lebte, strahlte Ruhe und Vertrauen aus. Die Trauung war auch für ihn nicht alltäglich gewesen; nicht nur, dass sein Schwager den Bund fürs Leben schloss, auch zur Großmutter der Braut hatte eine enge Beziehung bestanden, nachdem sich die beiden Großmütter als Kriegerwitwen in schwierigen Zeiten gegenseitig Hilfe und Halt gewesen waren.

Nun saßen sie hier und blätterten gemeinsam Stefanies Fotoalbum durch. Auf einer Seite war ein großes Bild ihrer Großmutter zu sehen. Es war eine würdevolle ältere Dame, weißlich graues Haar, Brille, ganz in schwarz, weiß und grau gekleidet. Richard hatte sie zwar nicht mehr als Stefanies Großmutter in Erinnerung; sie war bereits verstorben, als er Stefanie näher kennengelernt hatte. Aber an ihren Anblick erinnerte er sich aus Kindheitstagen, als er noch mit seinen Eltern jeden Sonntag in der Kirche verbrachte. Die ältere Dame gehörte nicht zur Gruppe frömmelnder Betschwestern, deren Auftritt mehr Selbstdarstellung denn Andacht war. Sie kam aufrechten Gangs daher, ohne Leidensausdruck oder Bitterkeit im Gesicht und vermittelte dem Betrachter stets das Antlitz der Würde. Wahrscheinlich hatte er sogar unbewusst Stefanie schon zu jener Zeit einmal gesehen, da die Frau gelegentlich ein mutmaßliches Enkelkind bei sich hatte. Vom Stammplatz seiner Eltern aus im Querschiff vor dem Abgang zur Krypta der romanischen Stiftskirche St. Vitus hatte er stets einen unverstellten Blick zu Stefanies Großmutter in einer der ersten Reihen des Hauptschiffs, direkt unterhalb einer der mächtigen barocken Apostelstatuen.

 

Auf der Seite daneben befand sich das Bild eines Wehrmachtsangehörigen; seine Augen schienen mit traurigem Blick durch die schwarzrandige Brille in eine unsichtbare Ferne zu blicken. In eine Ferne, in der er Heimat, Frau und Kinder wusste. Eine Ferne, deren Geschicke er nicht erblicken konnte. Eine Ferne, die ihn nicht wissen ließ, ob das Bild, das sich aus der Erinnerung vor seinem Auge aufgebaut hatte, nicht bereits durch Luftangriffe, Brandbomben oder Artilleriebeschuss unwiederbringlich zerstört war. Eine Ferne, bei der jedes Lebenszeichen der Familie angesichts der kriegsbedingt schwierigen Transportwege im Augenblick des Lesens bereits Vergangenheit sein konnte, Erinnerungsstück statt Lebenszeichen.

Noch ein Bild daneben derselbe Mann mit Stefanies Großmutter, davor fünf Kinder im Alter vom Säugling bis zum Jugendlichen. Nach dem Familienfoto zu schließen handelte es sich bei dem Wehrmachtangehörigen um Stefanies Großvater. Von ihm hatte sie noch nie erzählt, weshalb Richard nun vorsichtig nachfragte.

„Ja, das ist eine lange Geschichte, eine traurige Geschichte“, begann Stefanie zu erzählen. Während sie einen Schluck aus ihrem Rotweinglas nahm, überlegte sie, wo sie beginnen sollte. Es war die Geschichte eines Kriegsschicksals, die Geschichte von persönlich erfahrenem Unrecht, die letztlich mit dem Tod des Großvaters endete.

Stefanies Großeltern waren bekennende Katholiken. Sie besuchten nicht nur den Sonntagsgottesdienst, sondern lebten ihren Glauben auch. Auch beruflich war Stefanies Großvater in kirchlichen Diensten tätig. Als ausgebildeter Lehrer leitete er in Ellwangen die Schule eines kirchlichen Kinderheims, das ein Frauenorden in der Stadt betrieb. Nicht genug, dass damit der Arbeitgeber des Großvaters die Kirche war, nicht gerade ein Qualitätsmerkmal für die Machthaber der Jahre 1939-1945, nein, in diesem Kinderheim wurde auch nicht sortiert oder selektiert. Alle Kinder waren willkommen, auch behinderte Kinder wurden aufgenommen und unterrichtet. Die meisten Kinder waren Waisen oder Halbwaisen und hatten kein anderes Zuhause mehr. In kleinen Wohngruppen hatten sie unter der Leitung jeweils einer Ordensschwester eine Art Ersatzfamilie gefunden. Die ganze Einrichtung war eigentlich über den Raum Ellwangen hinaus nur wenig bekannt. So verwunderte es nicht, dass auf den Betrieb der Schule von höherer Stelle anfänglich kaum Druck ausgeübt wurde. Dies hinderte jedoch den örtlichen NS-Statthalter, Kreisleiter Weisser, nicht daran, sich persönlich als besonders linientreu und nationalsozialistisch geprägt darzustellen. Immer wieder unternahm er einzelne Aktionen, um den Betrieb des Kinderheimes und der Schule zu torpedieren. Mehrfach wurde Stefanies Großvater einbestellt und nachhaltig unter Druck gesetzt, immer mit dem Ziel, seine Tätigkeit aufzugeben und damit den Weiterbetrieb der Schule mangels qualifiziertem Leitungspersonal einem Ende zuzuführen. Stefanies Großvater aber blieb seiner Überzeugung treu. Er gab keinen Schritt nach, lehnte eine Kündigung und eine berufliche Veränderung konsequent ab. Auch weitere Versuche, über das örtliche Stadtpfarramt eine Demission des Schulleiters zu erreichen, schlugen fehl und erreichten gerade das Gegenteil: Die Pfarrgemeinde und das Kinderheim rückten noch enger zusammen, um mit gemeinsamer Kraft den täglichen Gefahren zu begegnen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war für alle, die ohne ideologische Verblendung mit Realitätssinn die Frontverläufe betrachteten, längst absehbar. Die Wehrpflichtigen der Stefanies Großvater vorgehenden jüngeren Altersgenossen waren längst eingezogen worden, zu einem beträchtlichen Teil bereits gefallen. Der Großvater selbst jedoch war bis dahin verschont geblieben. Nach den Verwaltungsvorschriften, deren es im Dritten Reich zuhauf gab und die auch, selbst wenn sie größtes Unrecht bedeuteten, penibel beachtet wurden, war er als fünffacher Familienvater im Alter von über 40 Jahren nicht mehr zum Fronteinsatz verpflichtet.

Es war ein grauer Oktobertag, als Weisser sich von seinem Adjutanten wieder einmal die Akte `Kinderheim´ auf den Tisch legen ließ. In einer schlaflosen Stunde der vorangegangenen Nacht war ihm der Gedanke gekommen, wie er sich des Problems entledigen könnte. Er rief die Sekretärin des Kreisleiterbüros zu sich herein und diktierte ihr folgenden Befehl:

Anordnung der Kreisleitung: Die Kreisleitung macht von der Ausnahmeregelung der Wehrpflichtverordnung Gebrauch und befiehlt hiermit die Einberufung des Schulleiters Niemann zur Wehrmacht. Der Dienst ist am Tag nach Zustellung dieser Verfügung anzutreten.

Die Entscheidung wurde noch am selben Vormittag durch Boten zugestellt. Am nächsten Morgen hatte sich der Schulleiter in der Kaserne zu melden. In den wenigen Minuten, die ihm zum Nachdenken verblieben, spielte er alle Handlungsmöglichkeiten zwischen Gehorsam und Fahnenflucht durch. Diese letzte Variante schloss er aus, zu groß war seine Angst, gefasst und hingerichtet zu werden, wie es nach einem entsprechenden Befehl vom März 1945 selbst in den letzten Apriltagen, kurz vor Kriegsende anderen Männern widerfahren ist. Noch am Abend des Tages rückte er mit einem Lastwagenkonvoi westwärts nach Frankreich ab.

Aus der Nähe von Paris erreichten seine Familie dann noch einige Wochen lang Briefe, deren Stimmung mehr und mehr von Sehnsucht nach Heimat und Familie zur Hoffnungslosigkeit verschwamm, bevor dann nach gerade vier Monaten die Nachricht übermittelt wurde, dass er bei einem Luftangriff der Alliierten ums Leben gekommen ist.

Der Kreisleiter hatte sein Ziel erreicht, die Stelle war vakant, fünf Kinder waren zu Waisen geworden, eine Frau zur Witwe gemacht. Sein ideologisch geprägtes Ziel, die Beseitigung der ganzen Kindereinrichtung christlicher Prägung, hatte er aber nicht mehr erreicht. Die verbleibenden vier Monate bis zur Kapitulation nutzte er zwischen öffentlichen Durchhalteappellen schwerpunktmäßig zur Vorbereitung seiner privaten Flucht vor den nahenden Alliierten.

Stefanie schwieg, dann wechselte sie das Thema. „Schön, dass wir noch im alten Standesamt heiraten konnten“, sagte sie unvermittelt zu Richard. „Hast du bemerkt, dass nebenan bereits Interessenten der Räumlichkeiten mit der Besichtigung des Gebäudes begonnen hatten?“ „Nein“, sagte Richard. „Ich finde es schade, dass das Trauzimmer künftig im technischen Rathaus untergebracht werden soll.“

3

Malcesine, September 2013

Lebenswege

Vor fünf Tagen waren Richard Gärtner und Stefanie Niemann-Gärtner in Malcesine angekommen. Es sollte nach zwei schweren Jahren ihr erster richtiger Urlaub mit Helen und Nele werden. Helen und Nele, inzwischen fast drei, beziehungsweise fast eineinhalb Jahre alt, waren das Glück ihrer Eltern, von der Mutter lange ersehnt und vom Vater sorgsam behütet.

Richard und Stefanie waren beide bereits achtunddreißig Jahre alt. Richard unterrichtete an einer Grund- und Hauptschule in der Umgebung von Ellwangen. Als einer der letzten männlichen Vertreter seiner Zunft war er seit Beginn seiner Lehrtätigkeit fast nur an der Hauptschule tätig, schwerpunktmäßig in seinen Fächern Deutsch, Geschichte und Musik. Nur in diesem Fach hatte er meist auch einen Grundschuljahrgang zu unterrichten, nachdem die Schulkonferenz befürwortet hatte, dass in Klasse vier das im Fach „MeNuK“ aufgegangene – oder wie Richards Schulleiter meinte: untergegangene - Fach „Musik“ von einem Musik-Fachlehrer unterrichtet werden sollte. Die Schule wollte damit zumindest den Versuch unternehmen, etwas mehr soziale Gerechtigkeit in die Schule zurückzubringen, nachdem sich Musik an den weiterführenden Schulen bereits zum Fach für Kinder aus begüterteren Familien entwickelt hatte, die sich die private Musik-Beschulung durch außerschulische Lehrer finanziell leisten konnten.

Stefanie war bis zu ihrer Elternzeit-Beurlaubung nach Helens Geburt am Ellwanger Gymnasium Studienrätin für Latein, Deutsch und Italienisch gewesen. Während Richard gebürtiger Ellwanger war, musste Stefanie, überwiegend in Tübingen als Tochter eines Strafrichters am dortigen Landgericht und einer Krankenschwester aufgewachsen, mit dem Makel der Zugezogenheit leben, den es in schwäbischen Kleinstädten wie Ellwangen bis heute gibt. Daran konnte auch der Umstand nichts ändern, dass ihre Großeltern schon 1930 nach Ellwangen gezogen waren, wo die großelterliche Familie dann auch nach dem Kriegstod des Großvaters geblieben war, ihre Großmutter sogar bis zu ihrem Tod im Jahr 1999.

Über den Weg gelaufen und kennengelernt hatten sie sich, was sie auch beide gern erzählten, wie im Roman oder Film: Beide bewohnten jeweils eine überschaubare Zweizimmerwohnung in einer neuen, weitgehend anonymen Wohnanlage zwischen den beiden das Stadtbild prägenden Bergen Schönenberg – mit barocker Wallfahrtskirche – und Schlossberg – mit Schloss aus der Renaissancezeit mit noch älterem Torbau. Stefanie lebte bereits einige Monate in ihrer Eigentumswohnung, bevor Richard in eine im gleichen Gebäude gemietete Wohnung einzog. Als kurz darauf spät abends der Strom ausfiel und beide mit Kerze beziehungsweise Taschenlampe bewaffnet in Nachthemd und Schlafanzug im Flur den Kasten mit den vorgeschalteten Sicherungen suchten, war es die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Schnell hatte sich herausgestellt, dass sie von Haus aus in unterschiedlichen Welten aufgewachsen waren.

Stefanie hatte in der bildungsorientierten Universitätsstadt Tübingen die Grundschule und dort, bis auf die zehnte Klasse, während der ihr Vater für ein Jahr an eine Hilfsstrafkammer am Ellwanger Landgericht abgeordnet war und während dieser Zeit mit Familie auch in einer Mietwohnung des Landes im Vorort Rindelbach wohnte, das altsprachliche Gymnasium besucht und danach – abgesehen von zwei Auslandssemestern in Rom – in Tübingen, wo auch ihre Eltern wieder wohnten, das Lehramtsstudium in Latein, Deutsch und Italienisch absolviert.

Richard dagegen besuchte nach der Grundschule in Ellwangen, dem schwäbischen Sibirien des bayerisch-württembergischen Grenzgebiets, das neusprachliche Gymnasium. Zunächst war er über die von seinen Eltern getroffene Entscheidung für das Gymnasium wenig begeistert gewesen, hatten sich doch nahezu all seine Freunde für die Realschule entschieden, in der Hoffnung, dafür einen Nachmittag mehr ohne Unterricht zu bekommen. Nachdem dann aber wegen einer neuen Stelle seines Vaters zeitgleich ein Umzug nach Aalen anstand, fand er sich mit der Schulwahl seiner Eltern ab, zumal er in Aalen schnell neue Freunde gefunden hatte. Dennoch war er froh, dass die Familie nach einem weiteren Stellenwechsel des Vaters nach fünf Jahren wieder in das heimatliche Ellwangen zurückkehren konnte, wo er dann die Oberstufenjahre absolvierte und sein Abitur machte. Letztlich war er - auch wenn er sich dies nicht gleich anmerken ließ - mit der Wahl seiner Eltern hochzufrieden, zumal er schon bald den Wunsch verspürte, nach einem Germanistik- und Politikstudium in den Medien Arbeit zu finden. Als sich abzeichnete, dass es hier nahezu keine Angebote aber umso mehr Studenten gab, verließ er die Universität Freiburg, arbeitete ein Jahr als Betriebsleiter in der Filiale einer amerikanischen Fast-Food-Kette, um dann den Weg zurück an die Hochschule, nun die Pädagogische Hochschule Freiburg, zu finden, nachdem ihn sein umsichtiger Vater auf den Altersaufbau der Kollegien und die daraus resultierenden guten Berufschancen hingewiesen hatte.

Richard war dann über den Flur zu Stefanie gezogen, während seine Mietwohnung als Arbeits- und Hausarbeitszimmer für beide diente.

Als dann das Baugebiet „Wolfgangshöhe“ zum Stadtrand hin um zwei Zeilen Reihenhäuser erweitert wurde, erwarben sie eines der Häuser und zogen um.

*

Obwohl sie sich erst spät kennengelernt und geheiratet hatten, hatten sie doch in den häufigen unterrichtsfreien Zeiten ihrer Schulen vor der Geburt von Helen oft und gerne Reisen unternommen. Als Helen ein dreiviertel Jahr alt war, war es für die Eltern daher selbstverständlich, nun mit Kind das Reisen fortzusetzen. Sie hatten sich für Sardiniens Norden entschieden, nur zwei Autostunden vom Fährhafen Olbia entfernt. Über Nacht waren sie entspannt von Livorno mit einer riesigen gelb-weißen Fähre bei ruhiger See übergesetzt und am späten Vormittag bereits in ihrem Hotel angekommen. Der Urlaub begann wie geplant: Während Richard mit Helen im warmen Flachwasser und am goldgelben feinkörnigen Sandstrand spielte, konnte Stefanie sich auf einen schattigen Liegestuhl zurückziehen und die Bücher lesen, die sie schon seit einem halben Jahr auf dem Nachttisch liegen hatte.

 

Richard achtete sorgfältig auf die Einhaltung der Siesta, damit vor allem Helen keinen Sonnenbrand bekam. Gerne wäre er deswegen noch etwas später gereist, aber als Lehrer war er an die Schulferien gebunden und musste Mitte September wieder zu Hause sein. Es waren harmonische Urlaubstage; sie fuhren mit Helen der Küste entlang, zeigten dem Kind großartige Steinformationen in Form eines Elefanten, „Fant“ wie Helen ihn und ihr gleichartiges Stofftier mit einem ihrer ersten erkennbaren Worte nannte, und eines Bären. Wenn Helen ihren Mittagsschlaf machte, genossen Richard und Stefanie die freie Stunde auf den Liegestühlen ihrer Terrasse, und holten sich in Badehose und Bikini die Urlaubsbräune, die sie Helen als verantwortungsbewusste Eltern nicht geben durften.

Es kam so plötzlich wie der tägliche Abendwind. Die Familie saß im Gartenrestaurant, Helen nagte gerade in ihrem Hochstuhl an einem Keks, während ihre Eltern mit einem Glas feurigen Cannonau anstießen und voller kulinarischer Erwartung zusahen, wie der Kellner die Teller mit den sardischen Gnocchi und einer Salsiccia-Sauce vor ihnen auf den Tisch stellte. Der Wind blies gerade in Helens blonde Locken, die im Abendlicht noch mehr über ihrem rosa Hemdchen leuchteten als sonst. Etwas links von Helens Köpfchen begann sich der feurige Ball der Sonne allmählich orange zu färben und stetig dem Meer zuzustreben. Ein wunderbares Motiv. Richard holte seine flache Kompaktkamera aus der Hemdentasche und machte gleich mehrere Bilder: Geblitzt mit Helens Gesicht, mit kurzer Belichtungszeit das Reliefbild ihrer Locken vor der untergehenden Sonne.

Gerade als er seine Kamera wieder einstecken wollte hörte er auch vom Nebentisch, dem er bis dahin keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, das mechanisch-metallische Klicken einer großen Spiegelreflexkamera, die dem maschinengewehrschnellen Klackern zufolge auf Serienbildfunktion eingestellt worden war. Nun drehte Richard auch den Kopf zum Nebentisch hinüber und sah gerade noch, wie die bis dahin auf Helens Kopf ausgerichtete Kamera wieder abgesenkt und auf den Tisch gelegt worden war. Seine Augen huschten von Person zu Person am Nebentisch: Zwei junge Männer, schwarzhaarig, durchtrainiert und dem Teint nach Einheimische; vielleicht auch Sizilianer. Zwischen den beiden eine junge Frau, langes schwarz gelocktes Haar, ebenfalls gut gebräunt. Der Mann mit der Kamera trug ein weißes Hemd zu khakifarbenen Shorts, der andere Typ, etwas größer, ein gelbes Poloshirt zu einer schwarzen Hose. Die Frau in der Mitte, abwechselnd nach links und rechts strahlend, trug nur ein tief ausgeschnittenes, fast durchsichtiges weißes Chiffontop zu einem kurzen violetten Stretchrock. Richards Blick konnte sich erst wieder lösen, als er Stefanie sich laut räuspern und „Hallo Richard, hier spielt die Musik“ flüstern hörte. Er schaute in das vielsagend lachende Gesicht seiner Frau, blickte nochmals zum Nebentisch, wo sich die junge Frau beim Griff nach der Parmesanschale gerade fast waagrecht nach vorne über den Tisch gebeugt hatte. Jetzt erst wurde ihm klar, was seine Frau gemeint hatte. Aber heute hatte sie sich getäuscht. Er hatte es genau gesehen, nein, nicht das Dekolleté, sondern die vielsagenden Blicke der drei Personen untereinander und hin zu seiner Helen. Er hatte sie liegen sehen, die Boulevardzeitung, auf deren Titelseite zum Jahrestag der Entführung eines kleinen englischen Mädchens in Portugal wieder einmal ein bildtechnisch fortgeschriebenes Bild des Kindes veröffentlicht wurde. Bereits auf der Fähre war ihm die Titelseite am Zeitschriftenstand des Schiffskiosks ins Auge gestochen. Ihm, dem fürsorglichen Vater einer kleinen Helen. Aber diese drei Südländer? War nicht Italien und speziell Sardinien schon seit eh und je ein Land der Entführer? Weshalb hatten die drei, offensichtlich jung und kinderlos, diese nun schon eine Woche alte Zeitung bei sich?

„Sieht gut aus, die Studentin am Nebentisch“, hörte er Stefanie sagen, „aber zu jung für Männer Ende Dreißig!“ Studentin hatte sie gesagt? Hatte sie nicht erkannt, dass dort drei Entführer saßen? Hatte sie ihren Verstand und ihre sonst selbst im letzten Dienstzeugnis positiv erwähnte überdurchschnittliche Auffassungsgabe im Hafen von Livorno zurückgelassen?

„Bist du verrückt? Es geht doch um Helen! Lass uns gehen, wir müssen zurück ins Zimmer!“ Noch während der letzten Worte riss er Helen fast aus dem Hochstuhl, warf seine Serviette auf den noch halb vollen Vorspeisenteller und begann zum Zimmer zu hasten. Stefanie blieb nichts Anderes übrig, als voller Wut und sich fragend, ob ihr Mann gerade übergeschnappt wäre, hinter den beiden herzueilen und den verlorenen Stoffelefanten mitzunehmen, der Helen auf Höhe des Nebentisches aus dem kleinen Händchen gefallen war. Der junge Mann hatte sie mit einem Handzeichen darauf aufmerksam gemacht. Den ratlosen Blicken der Dreien am Nebentisch konnte sie aber nur noch ein entschuldigendes Lächeln und Achselzucken zukommen lassen.

Richard zog sie förmlich den letzten Meter durch die Tür des Hotelzimmers, schlug die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel gleich zweimal.

„Hier ist Dein Fant, Helen,“ flüsterte Stefanie. „Der nette Student vom Tisch nebenan …. Noch bevor sie den Satz vollenden konnte, fiel ihr Richard hastig ins Wort: „Netter Student sagst Du, hast Du den Verstand verloren? Die wollten unsere Helen entführen! Der …“

„Richie, ich weiß, Du hattest zuletzt viel Stress an Deiner Schule. Die beiden Vertretungsstunden an Deinem freien Tag …“

„Ach was, darum geht’s doch nicht. Hast Du nicht ihre Blicke beobachtet? Sie hatten die Zeitung vom Anreisetag mit der Reportage zum Jahrestag des in der Ferienanlage entführten Mädchens dabei. Und Du selbst hast doch gesagt, sie hätten auch schon Helens Fant an sich genommen. Das ist doch eindeutig und …“

„Richie, Richie, hör auf! Niemand hat den Fant weggenommen …“

„Jetzt lüg mich nicht an“, schrie Richard außer sich vor Erregung. „Gerade eben hast Du, ja Du selbst, es mir gesagt. Ich brauche kein Beruhigungsgeschwafel. Ich kämpfe. Für das Leben meiner Helen, und für ihre Freiheit. Los, wir packen und reisen ab, bevor es zu spät ist!“

„Aber Richie, es ist halb neun Uhr, wo willst du hin?“

„Wir fahren nach Hause. Sofort, Du packst. Gib mir das Handy, ich rufe der Fährgesellschaft an.“

Die Augen von Richard sprachen in diesem Augenblick eine deutlichere Sprache als seine Worte. Stefanie wusste, dass jeder Widerspruch sinnlos war und seine panische Hysterie nur steigern würde, ihn vielleicht gar unberechenbar werden ließ.

Während sie wahllos das Gepäck zusammenraffte, hörte sie ihren Mann am Telefon etwas von einem kranken Kind erzählen. Kurz darauf brachte er das Handy zurück, die Angst aus seinen Augen war gewichen. „Alles im Griff, wir fahren morgen früh 6 Uhr ab Golfo Aranci, Express-Strecke nach Piombino, dort Ankunft 10.30 Uhr. Morgen Abend sind wir zu Hause und die Gefahr wird gebannt sein.“

„Piombino? Wir sind doch ab Livorno gefahren. Wo bitte liegt Piombino?“

„Toskanisches Festland, gegenüber Elba. Etwa eineinhalb Autostunden südlich Livorno, wo die reguläre Fähre erst am Abend ankommen würde.“

Kurz darauf hatte er an der Rezeption ausgecheckt, den Hinweis auf die Nichtrückzahlung des restlichen Preises mit einer Handbewegung als nebensächlich akzeptiert und war dann zu einer Nachtfahrt durch Sardiniens Norden aufgebrochen. Wirkte das Valle di Luna, das sie zunächst zu durchqueren hatten, schon bei Tag wie ein vergessenes Stück Erde, umgeben von kahlen aber imposanten Felsbergen, übersät mit Gesteinsbrocken, wie die Kraterlandschaft des Mondes aus der ersten Liveübertragung einer Mondlandung, so war die Fahrt bei Nacht geradezu gruslig. Jede der vereinzelt stehenden krummen Korkeichen schien im Lichtkegel der Scheinwerfer zum Leben zu erwachen. Ihre Äste streckten sich dem Wagen entgegen, wie wenn sie ihn ergreifen wollten. Die ersten dreißig Minuten sahen sie kein anderes Fahrzeuglicht, danach bog von rechts ein Fahrzeug ein, das ihnen nun in gleichbleibendem Abstand folgte.

„Ein Pickup, Stefanie“, schrie Richard.

„Entweder zu viele Aufträge oder Schwarzarbeit, der Herr Handwerker, Schwarzarbeit in schwarzer Nacht“, entfuhr es Stefanie und sie bereute ihre Anmerkung sogleich wieder, als sie Richards wirren Blick erkannte, noch bevor es mit zitternder Stimme aus ihm hervorbrach: „Sie holen sie, Stefanie, tu doch was!“

Die Rückfrage, was sie denn tun solle, erübrigte sich: Richard tat selbst etwas: Er drückte das Gaspedal durch, die Tachonadel drehte sich bis in den Bereich um 140 km/h und Richard blieb einsilbig, bis sie eine Stunde nach Mitternacht mit quietschenden Reifen vor der Zugangskontrolle am Hafen stehen geblieben waren. Richards Raserei war völlig sinnlos gewesen und hatte nur seinem Handlungsbedürfnis gedient; der Hafen öffnete erst um 5 Uhr.

*

Die Schiffsreise versprach vier Stunden Ruhe. Vielleicht, so dachte oder eher erwartete es jedenfalls Stefanie. Ihre einzige Sorge galt dem Seegang. Es kam dann aber alles anders und schneller als Stefanie sich hätte vorstellen können. Sie standen mit Helen auf Deck sieben, hatten sich dabei an die Reling gelehnt und beobachteten interessiert, wie die drei letzten Fahrzeuge von der Wartefläche über die Stahlrampe ins Schiffsinnere fuhren.